himalaya : 18.08 — Er schreibe, erzählte M., damit sich in seinem Leben nicht alles wiederhole, Tag, Nacht, Winter, Sommer, wenn ich erfinde und das Erfundene notiere, dann ist das so, als würde ich neues Land entdecken, das ich betreten, auf dem ich spazieren kann. Deshalb bleibe sein Leben spannend, es würde ihm wohl nie langweilig werden, auch wenn er sich wochenlang mit ein und derselben Frage beschäftigen würde, zum Beispiel, weshalb er noch nie eine Fliege bemerken konnte, die auf dem Rücken fliegen kann, obwohl sie doch längst erfunden worden sei. — Vor wenigen Minuten habe ich an M. seit langer Zeit wieder einmal gedacht, es war vielleicht deshalb gewesen, weil ich einen Film beobachtete, der von der Arbeit und dem Leben John Irvings erzählt. Der Schriftsteller erwähnt Folgendes: Jener Zeitraum, wenn ein Buch veröffentlicht wird, wenn alle Leute mit dir darüber reden, ist sehr kurz, es ist nach wenigen Monaten vorbei. Dagegen hat das Schreiben des Buches vielleicht vier, fünf, sechs oder sogar sieben Jahre gedauert. Und für das nächste Buch benötigt man dann wieder so lange. Durch das Ringen habe ich gelernt, dass man diesen langen Prozess lieben muss. Man muss es lieben, zu üben, dieselbe Bewegung hundertmal zu wiederholen, mit demselben langweiligen Sparringspartner. Es dauert lange, Zentimeter für Zentimeter, hier etwas durchstreichen, diesen Satz an diese Stelle, den Satz hier weg und dorthin schieben, die Leute würden einschlafen, wenn sie einem Schriftsteller bei der Arbeit zusehen, oder einem Ringer beim Training. Es war wichtig für mich, das zu lernen. — stop
Aus der Wörtersammlung: bewegung
port-vila
ein päckchen
tango : 17.01 — Einmal, in einem August, stehe ich in einer Schlange wartender Menschen. Der Ort: U.S. General Post Office, New York, 8. Straße. Die Zeit: Kurz vor sechs Uhr abends. Ich bin müde, bin weite Strecken durch die Stadt gewandert. Ich denke noch, wenn ich nicht achtsam bin, könnte ich vielleicht im Stehen einschlafen. Ich überlege, ob ich in diesem Falle umfallen oder einfach so schlafend stehen bleiben würde. Draußen ist es höllisch heiß, schwül und feucht, in der Halle des Postamtes eher kühl. Vor mir, so nah, dass ich sie versehentlich umarmen könnte, wartet eine zierliche, ältere Dame, sie ist vielleicht gerade vom Friseur gekommen, ihr Haar, ein bläulich schimmernder Ball, der heftig duftet. Auf ihren Schultern ruht ein Fuchs, der tot ist. Als sie an die Reihe kommt, tritt sie an den Schalter heran, stellt sich auf ihre Zehenspitzen und legt ein Päckchen auf dem Tresen ab. Mit einer lässigen Handbewegung schiebt sie die Ware zu einer Postangestellten hin. Die Frauen unterhalten sich. Ich kann nicht jedes Wort verstehen, sie sprechen schnell. Ich meine, zu hören, wie die Postangestellte bemerkt, dass das Päckchen leicht sei, so leicht, als ob in ihm nichts enthalten wäre. Die alte Dame erwidert, in dem Päckchen sei sehr wohl etwas enthalten, nämlich 7 x 1 Stunde Schlaf, die sie einem Freund übermitteln würde, der nahe Boston wohne, ein Geschenk. Daraufhin lacht die Postangestellte mit tiefer Stimme. Sie sagt: Das ist ein unglaubliches Geschenk, sie würde auch einmal sehr gerne etwas Schlafzeit geschenkt bekommen. Kurz darauf dreht sich die alte, zierliche Frau auf dem Absatz um, ein feuerrot geschminkter Mund, gepuderte, helle Haut, winzige blaue Augen. Sie durchquert den Saal nach Norden hin. Kleine Schritte, schnell. Kurz vor einer der Türen, da sie die Richtung korrigieren muss, wird sie beinahe aus der Kurve getragen. — stop
vor montauk
eine uhr mit pendel nahe garten
echo : 0.08 — Eine alte Dame am Morgen, wie sie vor einer Uhr steht. Es handelt sich um eine große, schwere Standuhr, Zifferblatt und Zeiger lungern in einer Höhe von 1 Meter 80 über dem Boden. Nahe der Stelle, da die Achsen der Zeiger sich in das Uhrwerk vertiefen, befindet sich eine Öffnung für einen Schlüssel, mit welchem die Uhr aufgezogen werden kann. Ein Pendel setzt sich dann nach leichtem Stoß in dauerhafte Bewegung, die Uhr scheint leise zu atmen, kaum ein tickendes Geräusch ist zu vernehmen, aber zur vollen Stunde, ja, zur vollen Stunde, im Garten fliegen die Vögel von den Bäumen auf, Frösche verschwinden kopfüber im Teich, Katzen jagen wie irr umher, am Tisch im Wohnzimmer ist dem ein oder anderen Gast vor Schreck bereits eine Tasse oder ein Löffel oder eine Gabel aus der Hand gefallen. Vor dieser Uhr nun steht die alte Frau, vor einer Zeitmaschine, die sie für die Nacht zum Schweigen brachte, ihre pendelnde Bewegung demzufolge stoppte, um sie morgens wieder ins Leben zurückzurufen. Folgendes geschieht: Die zierliche Frau stellt sich auf ihre Zehenspitzen und beginnt damit, den Minutenzeiger der Uhr vorwärtszubewegen. Es geht darum, die verlorene Zeit einzuholen, Stunde um Stunde, ein Anblick, der Philosophen begeistert. Draußen im Garten bewegt sich die Welt plötzlich schneller, und wieder fliegen die Vögel auf und die Katzen beißen sich in den Schwanz, und die Fische gehen schwungvoll über den Rasen spazieren, nur die Frösche, sie tun so, als wäre all das nichts Besonderes. Nach fünf Minuten ist Ruhe. – stop
vor neufundland 18.02.12 uhr : sterne
zoulou : 3.58 — Leichter Regen, kaum Wind. In der Ukraine, weitere Gefechte. Es wird berichtet, dass zivile Menschen sterben, doch niemand könne mit Sicherheit sagen, vom wem sie getötet wurden, aber sie sind tot. — Funkspruch Noes kurz vor Mitternacht. Vermutliche Tiefe: 858 Fuß. Position: 78 Seemeilen südöstlich der Küste Neufundlands seit nunmehr 1417 Tagen im Tiefseetauchanzug unter Wasser. Ich hörte seine scheppernde Stimme. Folgende Botschaft: ANFANG 18.02.12 | | | > leichte bewegung. s t o p schwingen. s t o p auf und ab und seitwärts. s t o p schlingern. s t o p ein hurricane vielleicht. s t o p hurricane charlie. s t o p oder fred. s t o p oder hillary. s t o p ist es möglich dass ich bald eine nachricht erhalte werde? s t o p ob mir jemand zuhört? e n o r m o u s g r e y f i s h s t r a i g h t a h e a d . s t o p habe lange zeiten keine sterne gesehen. s t o p die sterne sind rund. s t o p zarte finger von licht. s t o p fühler. s to p ob yoko noch lebt? — s t o p | | | ENDE 18.04.01
milanomaki
echo : 0.18 — Während eines Spaziergangs im botanischen Garten hörte ich, man habe zuletzt im Jahr 2000 eine bisher nicht bekannte Struktur der menschlichen Hand entdeckt, das ligamentum metacarpale pollicis, ein Band, welches die Stabilität der Daumenbewegung erhöhe. Bisher hatte ich angenommen, die Anatomie des menschlichen Körpers sei bereits seit Jahrzehnten restlos aufgeklärt. – stop. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht, Count Basie: At the Aquarium. Vor wenigen Minuten erreichte mich eine E‑Mail. Milanomaki notiert > : Ich sollte ein Ohrenmensch sein. Ich sitze mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und höre zu, einem Menschen vielleicht oder einer Fliege, die über mir im Luftraum turnt. Oder ich stehe in einem Zimmer ganz still, um so präzise wie möglich denken zu können. Kurz darauf setze ich mich an einen Schreibtisch und mache viele Wörter, dann mache ich eine Pause, dann lese ich alles das Notierte noch einmal durch, dann streiche ich so viele Wörter mit dem Kopf, wie möglich ist, um bald wieder nur einen Strich vor mir auf dem Papier vorzufinden. Ich habe viel erlebt. — stop
buenos aires
nordpol : Einmal, während einer Zugfahrt südwärts, lernte ich Valentin Ruiz kennen, einen damals schon hochbetagten Mann. Er bemerkte bald, nachdem ich in sein Abteil getreten war, dass ich ihn beobachtete, wie er in sein Notizbuch schrieb. Wir kamen ins Gespräch. Herr Ruiz erzählte, er habe lange Zeit in Argentinien gelebt, nahe der Stadt Buenos Aires. Er montierte dort Automobile in einer Fabrik. Als Robotermaschinen die Stadt besuchten, war das eine schwere Zeit gewesen. Darüber denke er gerade nach. Er berichtete von seinen Erfahrungen, von erstaunlichen Gedanken, sodass ich meinerseits mein Notizbuch öffnete. Kurz nachdem ich den Zug verlassen hatte, Herr Ruiz war in der wartenden Menschenmenge verschwunden, versuchte ich meine Gesprächsnotiz zu ergänzen. Ich musste mich beeilen, Herr Ruiz hatte sehr schnell, ja aufgeregt gesprochen, und ich hatte den Eindruck, meine Erinnerung könnte sich ebenso schnell verflüchtigen. Ich notierte: Mittels Wörtern sind zeitgenössische Maschinen an einem Ort bereits eingetroffen, lange bevor auch nur eine ihrer Schrauben angekommen ist. Sie sind Gegenstand der Begeisterung einerseits, aber auch von Furcht, sodass sie in jeder Richtung größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Wo eine Maschine zum Aufbau kommen wird, ist zunächst ein Raum angenommen, ein Raum, der bereits freigeräumt wurde oder zunächst befreit werden muss. Dann kommt die Maschine in der Wirklichkeit an, in der Mehrzahl der Fälle in Teilen. Begleitet wird sie von Menschen, die sich um ihre Reise bemühen. Manchmal bleiben Menschen, die die Maschine begleiten, an Ort und Stelle, demzufolge in der Nähe der Maschine, um aus Teilen ein Ganzes zu fügen. Man kann darüber staunen, dass an einem Ort, an dem zunächst nichts zu sehen war, sehr bald eine Versammlung technischer Partikel zu bemerken ist, die sinnvollerweise bereits sich in einem logischen Zusammenhang befinden. Eine Maschine ist stumm, solange sie nicht leuchtet. Schon eine blinkende Diode genügt, um Gesprächsbereitschaft anzudeuten. Maschinen, die mit elektrischen Strömen in Bewegung gesetzt werden, neigen zur Erhitzung, weshalb sie an der ein oder anderen Stelle atmen, also blasen. Teile der Maschinen sind so groß, dass sie von einem Menschen nicht gehoben, oder so klein, dass sie von einem menschlichen Auge nicht wahrgenommen werden können. Wo Maschinen erscheinen, verschwinden Menschen jeder Größe. — stop
ein junge
india : 7.08 — Im Café No 5 unter dem Flughafenterminal beobachtete ich einen Mann, der sich äußerst sparsam, lange Zeit überhaupt nicht bewegte. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeitung, neben der Zeitung Folgendes: eine Tasse Kaffee, ein Glas Wasser, Zuckerwürfel, Notizblock und Bleistift. Eine halbe Stunde verging in dieser Weise, die Hände des Mannes ruhten in seinem Schoß. Einmal rückte der Mann seinen Koffer, der hinter ihm an der Wand parkte, ein kleines Stück zur Seite, ein andermal hob er seine Kaffeetasse in die Luft, um sie in einem Zug auszutrinken. Dann wieder keinerlei Bewegung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagierte weder auf Lautsprecherdurchsagen noch kümmerte er sich um Menschen, die das Café auf Laufbändern passierten, es waren viele chinesische Reisende darunter, die gerade erst aus Shanghai und Peking in großen Flugzügen eingetroffen waren. Der Mann starrte auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die auf der Titelseite einer Zeitung abgedruckt worden war. Ein Junge lag dort unbekleidet auf einer Bastmatte mitten auf einer schmutzigen, feuchten Straße. In einiger Entfernung, im Hintergrund, warteten Menschen, die den Jungen beobachteten. Der Junge schwitze, seine schwarze Haut war von Fliegen bedeckt, er sah mit halb geschlossenen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutzanzug steckte. Anstatt eines Kopfes war auf den Schultern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zerknitterte Haube, genauer, die unter Luftdruck zu stehen schien. Das Wesen hatte seine rechte Kunststoffhand nach dem Jungen, der einsam auf dem Boden liegend verharrte, ausgestreckt, es wollte ihn vielleicht ermutigen, aufzustehen und zu ihm an den Rand der Straße zu kommen. Obwohl sich die Hand nicht bewegte, vermittelte sie den Eindruck, dass sie sich bewegt haben musste und weiterhin bewegen würde, weil die Stellung ihrer Finger nur in dieser vermuteten Bewegung einen Sinn ergab. Ja, diese Hand musste in der Zeit des Bildes eine winkende Hand gewesen sein, aber es war deutlich zu sehen, dass der Junge vermutlich nicht länger die Kraft hatte, aufzustehen oder zu kriechen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüstern, oder die Fliegen auf seinem Körper zu vertreiben. Es war still, vollkommen still, nichts zu hören. — stop
kurz nach mitternacht
echo : 1.28 — Um kurz nach Mitternacht öffnete ich ein Fenster. Sofort fühlte ich, dass ich beobachtet werde. Tatsächlich saß rechts an der noch warmen Wand des Hauses eine winzige, vielleicht junge Springspinne. Ich habe das Licht ihrer Augen wahrgenommen oder eine Bewegung. Sie duckte sich, als ich mich näherte, aber sie flüchtete nicht. Ich konnte mir dieses Verhalten zunächst nicht erklären, dann hatte ich die Idee, dass die Spinne mich vielleicht kennt. Möglicherweise wurde ich schon drei oder vier Wochen lang beobachtet, ohne die Beobachtung der Spinne bemerkt zu haben. Vermutlich war die Spinne, als sie meiner Gestalt zum ersten Mal ansichtig wurde, sofort geflüchtet. Ich stelle mir vor, sie könnte sich in die Tiefe gestürzt haben, wo sie im Garten von einem Löwenzahnblatt aufgefangen wurde. Am folgenden Tag machte sich die Spinne wieder auf den Weg nach oben. Sie wird vermutlich in Etappen gewandert sein, zwei oder drei Tage, dann wieder Nacht, das Warten auf zarte Falter, auf süßes, fliegendes Fleisch. Ein warmer Wind. Ein Fenster, das sich öffnet. Wiederum Flucht in die Tiefe, erneuter Aufstieg, mühsam und schmerzvoll, hinauf, wo der riesige Vogel wohnt, wo das Licht ist, der warme Wind, das Fenster, Flucht nun aber zu Fuß, nur ein oder zwei Meter abwärts und wieder zurück. Es ist erstaunlich. Von alledem habe ich nichts bemerkt. Zurück an die Arbeit. In dieser Nacht lasse ich das Fenster geöffnet. Benny Goodman spielt Live at Carnegie Hall. Ich sitze und warte. — stop