echo : 0.55 — Ein faszinierender Suchwörterschatten, der Particles in den vergangenen Monaten berührte: Tattermandl . Herzohren . Papierhaut . Schneckengeschichten . Wasserwohnungen . künstlicher Babybauch zum Selbermachen . Andreas Einfinger . Brustmilchgang . Kalkutta . Mann ohne Mund . Stöpselkopfameise. Aber auch Versuchum Versuch, das Wort Particles zu formulieren: particlees . particeles . particals . xparticles . partticles. – Habe ich je über Coco Chanels Wintermütze notiert? – stop
Aus der Wörtersammlung: brust
herzfach
romeo : 0.06 — Unlängst erzählte ich E. von gekühlten Herzfächern, die in einem Institut der Universität Oslo angelegt worden sein sollen. Ich sagte: Ist das nicht erstaunlich, seit einigen Monaten existiert dort in einem Fach ein Herz, das meinem Herzen ähnlich ist, weil es von mir, weil es nach meinen Zellinformationen gewachsen ist. Weißt Du, sollte mein eigenes Herz einmal schwach oder sehr krank werden, könnte man dieses vollkommen neue Herz in meinen Brustkorb setzen, wir, das Herz und ich, wären sofort befreundet. Nun ist das so gekommen, dass E. sich heimlich derart für diese Möglichkeit eines zweiten Herzens begeisterte, dass sie selbst gern über ein zweites Herz verfügen würde. Ich bin jetzt ein wenig in Verlegenheit. Ich denke seit Stunden über die Formulierung einer einfühlsamen Antwort nach. – stop
vor neufundland 03.15.06 : YOKO oder die liebe
ulysses : 3.55 — Gestern sendete Noe eine Frage. Er wollte wissen, in welchem Monat wir leben. Eine größere Gruppe weißer Wale habe ihn nordwärts passiert. Er habe den Verdacht, es werde Frühling, er wünschte, bald wieder einmal Besuch zu erhalten. Kurz darauf eine weitere Meldung Noes aus 805 Fuß Meerstiefe vor Neufundland > ANFANG 03.15.06 | | | > großartige aussicht wieder. s t o p langsam aufsteigender wal. s t o p muschelrücken. s t o p kraterhaut. s t o p als würde der mond an mir vorüberziehen. b i g y e l l o w f i s h s o u t h w e s t. s t o p träumte von yoko. s t o p träumte ihren mund ihre stimme ihre brüste. s t o p spürte ihren atem an hals an brust an nase. s t o p wird man vielleicht seltsam mit der zeit mit dem meer? s t o p lange zeiten der stille der erinnerung. s t o p schluss jetzt. s t o p fangen wir noch einmal von vorn an. b l u e b o x f r o m a b o v e . ich spreche mit mir selbst. s t o p denkbar dass ich eine tonspur hinterlasse. s t o p vielleicht bin ich im radio zu hören. s t o p ob yoko mich hören kann? s t o p kein komma zu finden nicht eine taste s t o p habe den verdacht jünger zu werden. s t o p die liebe. s t o p. erstaunlich. s t o p | | | ENDE 03.16.25 – stop
marthageschichte
echo : 5.12 — Martha ist 76 Jahre alt. Seit 18 Jahren trinkt sie Likör. Schon am frühen Morgen beginnt sie damit. Sonst nimmt sie wenig zu sich. Die Luft riecht süßlich um sie herum. Aber sie ist gut gepflegt. Und umgefallen ist sie auch noch nie. Nachmittags um 3 fährt sie an den Bahnhof. Das ist die Zeit, da für sie der Abend beginnt. Sie hat dort einen festen Platz. Gleis 15 sitzt sie auf einer Bank. Früher war ihr Stammplatz auf Gleis 8. Jetzt fahren auf Gleis 8 die schnellen Intercityzüge ein und aus, man hat Martha von höherer Stelle aus gebeten, sich auf Gleis 23 auf eine vergleichbare Bank zu setzen. Aber das ist ein Rangiergleis, dort ist nichts los, außer ein paar Junkies, und die sind Martha zu gefährlich. Also sitzt sie auf Gleis 15., man könnte ihre Wahl als einen Kompromiss bezeichnen. Im Sommer trägt Martha Kostümchen. Sie ist gern bunt gekleidet, wenn es doch nicht immer so drückend und heiß wäre. Die Beine werden ganz dick davon, und die Füße wollen sich den Schuhen nicht länger fügen. Manchmal geht sie ein paar Schritte auf und ab. Martha setzt vorsichtig Fuß für Fuß. Dann lässt sie sich wieder nieder und nimmt sich ein Gläschen voll zur Brust, macht einen kleinen See in das Täschchen ihrer Unterlippe, Karamellgeschmack, den liebt sie unendlich, auch Anis und Schokocreme, die blauen Bols mag sie gar nicht. Sobald sie sich wieder gut fühlt, beginnt sie Papiere zu falten, die sie aus ihrer Handtasche nimmt. Sie faltet Himmel und Hölle. Wenn ein Kind auf dem Bahnsteig vorüber kommt, verschenkt sie das Spiel. Mit diesem Spiel habe ich mir früher immer die Zeit vertrieben, sagt sie, da war ich so alt wie du. Oft zerren die Mütter ihr Kind von der alten Martha weg, weil Kinder das alles nicht so genau nehmen. Und Martha sagt: Ich habe in Landau gewohnt. Im Garten hatten wir einen Birnbaum. Im Sommer haben wir Himbeeren gepflückt. Der Keller war dunkel und die Treppe steil. Einmal bin ich die Treppe in Landau heruntergefallen. So erzählt Martha immerzu fort, wie sie im Keller Geister entdeckte, oder von den Schnapsfläschchen im Regal ihres Vaters. Zu diesem Zeitpunkt ist der Zug mit dem Kind längst abgefahren. Sie holt sich jetzt ein weiteres Gläschen vor den Mund, dann ein neues Blatt aus ihrer Handtasche, entweder ist es ein rotes, ein gelbes oder ein blaues. — stop
vor neufundland 2.12.16 uhr : die sterne sind rund
tango : 0.02 — Nehmen wir einmal an, man würde einen Vogel von der Größe eines Zeisigs konstruieren, ein Wesen, welches aus 1500 Einzelteilen bestehen wird, sagen wir aus Streben von leichtem Metall, einem hölzernen Rumpf, Flügel von kostbarem Tuch, Schrauben, Farbschichten, Dioden, feinsten Seilen, das wäre eine sehr feine Geschichte, einen Baukastenvogel entdecken für Mädchen und Jungen, die nun in ihren Zimmern sitzen, um den Vogelkörper zu montieren. Sie werden vielleicht zwei oder drei Monate Zeit in ihren Zimmern verbringen, kaum etwas wird noch von ihnen zu sehen sein, als das Licht, das bis spät in die Nacht verbotenerweise aus ihren Zimmern dringt. Wie sie zuletzt ins Zentrum ihrer Vögel, dort wo sie den Herzort ihrer Vögel vermuten, mit einer Pinzette und zitternden Händen eine Atombatterie verpflanzen, nicht größer als ein Reiskorn, und wie sich nun ihre Vögel mit surrenden Flügeln erheben und aus den Fenstern segeln und flattern zur großen Reise einmal um die Erdkugel herum. — Kurz nach Mitternacht. Ich habe einen Funkspruch meines Freundes Noe empfangen. Tiefe 828 Fuß. Position 81 Seemeilen südöstlich der Küste Neufundlands. Fröhliche Stimme, folgende Nachricht: ANFANG 2.12.16 | | | Habe lange zeiten keine sterne gesehen. s t o p die sterne sind rund. s t o p zarte finger von licht. s t o p fühler. s t o p als ob der weltraum das meer durchsuchte. y e l l o w t u m b l i n g f i s h f r o m a b o v e. träumte yoko. s t o p ihre schultern. s t o p ihren mund. s t o p ihre stimme. s t o p spüre ihren atem an meinem hals. s t o p ihre lippen auf meiner brust. s t o p coney island. s t o p wird man vielleicht seltsam in der stille? s t o p in der meeresstille. s t o p schluss jetzt. s t o p fangen wir noch einmal von vorne an. s t o p. t w o b l u e f i s h e s i n l o v e s t r a i g h t a h e a d. s t o p werde ich je wieder land betreten? s t o p | | | ENDE 2.14.02 — stop
von der wirbelkastenschnecke
tango : 3.52 — Gestern war ein heißer Tag gewesen, es war heiß in der Küche, heiß in den Zimmern zum Schlafen, zum Spazieren, heiß im Bad, im Treppenhaus, sogar im Keller, auf der Straße und in der Trambahn war es so heiß, dass ich mich gern sofort in einen Kühlschrank gesetzt haben würde. Als ich das Wort Kühlschrank dachte, erinnerte ich mich an einen hölzernen Kühlschrank, den ich mir einmal ausgemalt hatte, da war ich gerade auf dem Postamt, auch da war es heiß, und die Männer und Frauen hinter dem Tresen schwitzten. Ausgerechnet an einem Tag heißer Luft erreichte mich ein Päckchen, auf das ich seit beinahe zwei Wochen in außerordentlicher Kälte wartete. Ich hatte bei Hvalfjördur Corporation eine Scheibe aus dem Brustbein eines Pottwales bestellt, aber die isländische Post war acht Tage lang in einen Streik getreten, und so war das gekommen, dass das Päckchen einen erbärmlichen Gestank verströmte, was mich nicht im Mindesten wunderte, da man vergessen hatte, das Brustbein des Wales, der bereits im Mai gefangen und zerlegt worden war, ganz und gar von Blut zu befreien. Nun aber ist alles wieder in Ordnung. Ich habe den Knochen, der erstaunlich leicht in der Hand liegt, gründlich gereinigt, nur noch ein leiser Verdacht von Verwesung liegt in der Luft, ist vermutlich nicht tatsächlich, ist vielmehr ein Faden von Erinnerung. Sobald der Knochen getrocknet sein wird, werde ich einen ersten Versuch unternehmen, eine Schnecke aus ihm zu schnitzen, die der Wirbelkastenschnecke einer Geige ähnlich sein wird. – Samstag, kurz vor Dämmerung. Es ist noch immer heiß. Vor den Fenstern jagen Fledermäuse. – stop
winterherz
alpha : 6.52 — Nehmen wir einmal an, es existierten Menschen, die je über ein schlagendes, also ein aktives Herz verfügen und außerdem über ein wartendes Herz, das ganz still im Brustkorb liegt, klein, gefaltet, ein Altersherz oder ein Winterherz. Von dieser Vorstellung wollte ich in der vergangenen Nacht einem kleinen Mann iranischer Herkunft erzählen. Aber kaum hatte ich Luft geholt und meinen ersten Satz zu Ende gesprochen, begann der kleine Mann seinerseits eine Geschichte zu erzählen. Er sagte, er habe Merkwürdiges erlebt, das Festnetztelefon seiner Wohnung sei gestört gewesen, er habe deshalb die Telefongesellschaft über sein Mobiltelefon angerufen. Eine weibliche Stimme habe sich bald gemeldet, die sich sehr freundlich mit ihm unterhalten habe in der Art und Weise, dass sie Fragen stellte. Sie fragte zum Beispiel: Könnten Sie bitte Ihr Problem genau beschreiben. Oder sie erkundigte sich, ob seine Internetverbindung noch funktionieren würde, ob sein Telefon über ausreichende Stromversorgung verfüge, wie lange Zeit er in etwa nicht mit seinem Telefon telefoniert habe. Das Gespräch dauerte, so erzählte der kleine Mann, einige Minuten, bis er bemerkte, dass tatsächlich eine Maschinenstimme zu ihm sprach. Weitere drei Minuten verstrichen, dann habe er sich vorsichtig erkundigt, ob er mit einem menschlichen Wesen der Telefonzentrale verbunden werden könnte. In diesem Moment brach das Programm die Unterhaltung ab. Es wurde still am Telefon, keine Fragen, keine Antworten, kurz darauf war ein Pfeifen zu hören. Und das soll nun einer am frühen Morgen noch verstehen. Der Himmel leicht bewölkt. — stop
landschaft überall
romeo : 1.02 — Irgendwann, nachdem er wach geworden am Nachmittag, muss K. einen Brief notiert haben. Bei diesem Brief nun handelt es sich um einen besonderen Brief, denn er ist von einem mutigen Mann ausgedacht, von einem Mann, der lange Zeit überlegte, wie er seine Gedanken formulieren sollte, an den Vorstand, der über sein Leben zu bestimmen wünscht. K. solle anstatt vier in Zukunft sechs Nächte einer Woche zur Arbeit an den Maschinen erscheinen. Es sind feine, ja zarte Worte, die K. für seine Ansprache wählte, ich hätte sie ihm niemals zugetraut, höflich und traurig: Nun werde ich, schrieb K., sechs weitere Stunden in einem Zug verbringen, die nicht bezahlt sein werden, Stunden, da meine Frau mich vermissen und möglicherweise einmal deshalb verlassen wird, es ist eine Tragödie! Ich habe diesen Brief, in dem von einer Tragödie die Rede ist, vor wenigen Minuten fotografiert, er wurde von Hand geschrieben, ich erkannte die Schrift eines betrunkenen Kindes, diese Hände, sie zitterten, weil K. sich fürchtete, in dem Moment, da er schrieb, oder überhaupt. Ob er mir den Brief auf seinem Computer aufschreiben könne, fragte ich K.: Würdest Du mir Deinen Brief bitte per E‑Mail senden, damit ich ihn weitergeben kann? So etwas habe ich nicht, antwortete K., einen Computer, E‑Mail, Internet. Er habe auch kein Telefon, fuhr er fort, kein Telefon mit Schnur, und auch kein Telefon, das er sich in die Hosentasche stecken könnte. Du bist der erste Mensch, setzte K. hinzu, der einen Brief, den ich geschrieben habe, fotografiert, als sei er eine Landschaft. Manchmal begegne ich K. im Zug, der zum Flughafen fährt, ich grüße ihn und er freut sich. Er liest dort seit Jahren immer in demselben Buch. Manchmal hält er das Buch fest an seine Brust gedrückt, dann ist er eingeschlafen. — stop
am nachttisch
india : 3.02 — Ich träumte von Winterfliegen. Als ich aufwachte, erinnerte ich mich, vor Jahren einmal über Winterfliegen nachgedacht zu haben. Ich notierte Folgendes: Die Gattung der Winterfliegen sollte in eisiger Umgebung existieren, in Höhlen, die sie mit ihren Fliegenfüßen persönlich in den Schnee eingraben. Vielleicht, das ist möglich, sind Winterfliegen von Natur aus eher kühle Wesen, oder aber sie tragen einen wärmenden Pelz, ein Fell, wie das der Eisbären, weiche, weiße Mäntel von Haut und Haar, die ihre äußerst langsam schlagenden Herzen schützen. Diese Fliegen, dachte ich, werden einhundert Jahre oder älter, sie könnten sich von feinsten Stäuben ernähren, vom Plankton, das aus den vom Wind gebeugten Wäldern angeflogen kommt, von Moosen, Birkenpollen, vom Kotsand nordischer Füchse. Ich stellte mir vor, sie sind weiß, so weiß, dass man sie nicht sehen wird, wenn sie über den Schnee spazieren. Man wird meinen, der Schnee bewege sich selbst oder es wäre der Wind, der den Schnee bewegt, stattdessen sind es die Fliegen, die nicht größer sind als jene Fliegen, die nachtwärts im Sommer aus einem Apfel steigen. – Ein ruhiger Tag, Augen zu, warm, Sonne. — Abends sitze ich in der Küche am Tisch. Ich öffne eine Schreibmaschine, die ich vor drei Jahren aus dem aktiven Schreibmaschinenleben in mein Schreibmaschinenmuseum transferierte, um nachzusehen, ob ich sie vielleicht noch einmal in Gang setzen könnte. Kleine Schrauben türmen sich zu einem Berg, es riecht nach Metall, nach Zinn, wie in der Kindheit, wenn ich meine Nase an Radiogeräte drückte. An der Wand in nächster Nähe hockt Esmeralda, sie scheint mich zu beobachten oder das Innere der Schreibmaschine. Aus dem Nebenzimmer dringen noch immer Kampfgeräusche, Schüsse von Gewehren, helle Töne, als würden Kieselsteine aneinander schlagen. Auch große Kaliber sind zu vernehmen, deren genaue Bezeichnungen ich nicht kenne, Mörser vielleicht, Panzerkanonen, Maschinenwaffen. Ein Mann, ich möchte seinen Decknamen an dieser Stelle nicht verzeichnen, sammelt Filme in der digitalen Sphäre, die er zu endlosen Ketten knüpft, Szenen aus dem syrischen Bürgerkrieg, zuletzt von dem Kampf um Kobanê. Personen stehen auf einer Straße, sie feuern auf Häuser, plötzlich fallen sie um. Ein junger Mann hüpft vor dem Körper einer jungen Frau, die auf dem Rücken liegt, ein Teil ihres Gesichtes fehlt. Der junge Mann preist Gott, er stellt seinen Stiefel auf die Brust der jungen Frau, die vermutlich, nein sicher, gegen ihn kämpfte. Bärtige Männer eilen gebückt über Felder, einem der Männer fliegt ein Arm davon. — stop
rußland
tango : 7.01 — Warum vermag ich die Bewegung meines Herzens in der Brust nicht zu spüren? — Umgebende Wörter: Sinusknoten Lagerbewegung Thalamus. Herzflimmern. Rasender Stillstand. ~ Ein Gespensterwesen, Russland, meiner Kindheit ist längst zurückgekehrt. Gedanken, wie zur Beruhigung, an Lew Sinowjewitsch Kopelew, Jelena Georgijewna Bonner, Andrei Dmitrijewitsch Sacharow, Anna Stepanowa Politkowskaja. — stop