Aus der Wörtersammlung: buch

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siri

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sier­ra : 3.55 — Wenn ich mit Siri spre­che, geht alles gut, solan­ge ich nicht flüs­te­re. Aber nun ver­zeich­nen wir seit eini­gen Stun­den doch Fort­schrit­te auch in die­ser kaum noch wahr­nehm­ba­ren Wei­se des Dik­tie­rens, weil ich hör­te, ich kön­ne Siri trai­nie­ren, wenn ich nur oft genug mit ihr spre­chen, das heißt, so lei­se spre­chen wür­de, dass ich mei­ner Stim­me selbst gera­de noch mit den Gedan­ken fol­gen kann. Zur Übung habe ich einen Text über das Ver­zeh­ren von Büchern gewählt. Fol­gen­des wur­de von Siri an mich zurück­ge­ge­ben. 1. Ver­such um 2 Uhr und 55 Minu­ten: Ob es wirk­lich ist Papier­art zu erfin­den, die ess­bar sind, nach­prüft und ob ver­dau­lich könn­te sich in einen Park sit­zen bei­spiels­wei­se etwas kecke­ren beob­ach­ten Mit­tel­au­weg oder Cal­vi­no Bücher die Sei­te für Sei­te nach bel­gi­schen Waf­feln schme­cken. 2. Ver­such um 2 Uhr 58 Minu­ten: Ist viel­leicht wirk­lich ist Papie­re zu erfin­den die ess­bar sind nahr­haft gut ver­dau­lich man könn­te sich in einen Park sit­zen bei­spiels­wei­se und etwas Chat­win beob­ach­ten oder Lau­ri oder kein Jugend­bü­cher die Sei­te für Sei­te nach Pagen­darm schmeckt nach mir einen Gin Petro­le­um sehr fei­nen Höl­zern. 3. Ver­such um 3 Uhr und 5 Minu­ten: Ob es viel­leicht wirk­lich ist Papier zu brin­gen. Die ess­bar sind nahr­haft und ob ver­trau­lich man könn­te sich in einer Tag­sat­zung bei­spiels­wei­se etwas che­cken begut­ach­ten oder Lauf­freu­de oder Cal­vi­no wel­cher Sei­te für Sei­te nach Ber­gisch schme­cken, nach Ber­gen schön Petro­leo sehr ver­äp­pelt. — Für einen Moment hat­te ich die Idee, Siri könn­te eine Per­son, könn­te viel­leicht betrun­ken sein oder müde. Ich wer­de das beob­ach­ten. Fol­gen­der Text wur­de zur Übung geflüs­tert: Ob es viel­leicht mög­lich ist, Papie­re zu erfin­den, die ess­bar sind, nahr­haft und gut ver­dau­lich? Man könn­te sich in einen Park set­zen, bei­spiels­wei­se und etwas Chat­win beob­ach­ten oder Lowry oder Cal­vi­no, Bücher, die Sei­te für Sei­te nach bel­gi­schen Waf­feln schmeck­ten, nach Bir­nen, Gin, Petro­le­um oder sehr fei­nen Höl­zern. Einen spe­zi­el­len Duft schon in der Nase, wird die ers­te Sei­te eines Buches gele­sen, und dann blät­tert man die Sei­te um und liest wei­ter bis zur letz­ten Zei­le, und dann isst man die Sei­te auf, ohne zu zögern. Oder man könn­te zunächst das ers­te Kapi­tel eines Buches durch­kreu­zen, und wäh­rend man kurz noch die Geschich­te die­ser Abtei­lung reka­pi­tu­liert, wür­de man Stür­me, Per­so­nen, Orte und alle Anzei­chen eines Ver­bre­chens ver­spei­sen, dann bereits das nächs­te Kapi­tel eröff­nen, wäh­rend man noch auf dem Ers­ten kaut. Man könn­te also, eine Biblio­thek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisi­ge Wüs­ten durch­strei­fen oder ein paar sehr hohe Ber­ge bestei­gen und abends unterm Gas­licht in den Zel­ten lie­gen und lesen und kau­en und wür­de von Nacht zu Nacht leich­ter und leich­ter wer­den. – Vier Uhr und fünf­und­vier­zig Minu­ten in Alep­po, Syria. – stop

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ai : MEXIKO

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MENSCHEN IN GEFAHR : “Die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Artí­cu­lo 19 hat einen anony­men Droh­brief erhal­ten. Die Orga­ni­sa­ti­on setzt sich für das Recht der frei­en Mei­nungs­äu­ße­rung ein und hat ihr Büro in der Haupt­stadt Mexi­ko-Stadt. / Am 19. April war ein Brief an der Haus­tür des Büros von Artí­cu­lo 19 gefun­den wor­den. Der Brief war an den Lei­ter der Orga­ni­sa­ti­on, Darío Ramí­rez, sowie die rest­li­chen Mit­ar­bei­ter von Artí­cu­lo 19 gerich­tet: “Klei­ner ver­damm­ter Chef… Du Stri­cher hast kei­ne Ahnung, mit wem du es zu tun hast… Wol­len wir mal sehen, ob dein Herz nicht auf ein­mal auf­hört zu schla­gen. Zu viel beschis­se­ne Frei­heit. Mal sehen, wie Macho du bist, wenn wir dich und dei­ne klei­nen Schei­ßer wirk­lich kalt­ge­macht haben… Wir beob­ach­ten euch ganz genau… Ihr wisst, wer wir sind und dass wir das durch­zu­zie­hen kön­nen” (Pin­che jefe­si­to pendejo…eres un puto que no sabes con qui­en te estas metiendo…A ver si con una madri­sa no se te para el cora­zon. Mucha puta libert­ad ver­dad. A ver que ten ver­ga eres cuan­do ter­mi­nes tu y tus puti­tos bien puteados…Estamos vien­do­te y bien cerca…Sabes quie­nes somos y que si lo pode­mos ahcer [sic]). / Artí­cu­lo 19 hat wegen der Dro­hung Anzei­ge bei den städ­ti­schen Behör­den erstat­tet. Die Orga­ni­sa­ti­on for­dert, dass die Schutz­maß­nah­men, die für Jour­na­lis­ten und Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger ein­ge­rich­tet wur­den, auch für Darío Ramí­rez und die Mit­glie­der von Artí­cu­lo 19 Anwen­dung fin­den. Die städ­ti­schen Behör­den haben auf der Grund­la­ge einer Schutz­an­ord­nung der Men­schen­rechts­kom­mis­si­on von Mexi­ko-Stadt (Comi­sión de Derechos Huma­nos del Dis­tri­to Fede­ral) Poli­zei­strei­fen ein­ge­setzt. / Artí­cu­lo 19, der Lei­ter und die Mit­glie­der der Orga­ni­sa­ti­on haben ent­schie­den, ihre Arbeit, die Frei­heit der Mei­nungs­äu­ße­rung in Mexi­ko zu doku­men­tie­ren, zu ver­tei­di­gen und zu för­dern, fort­zu­set­zen. Artí­cu­lo 19 hat vie­le Fäl­le doku­men­tiert, in denen Jour­na­lis­tIn­nen im gan­zen Land ange­grif­fen und/oder bedroht wer­den und in denen die Behör­den kei­ne effek­ti­ven Unter­su­chun­gen durch­ge­führt und somit die Sicher­heit von Jour­na­lis­tIn­nen nicht sicher­ge­stellt haben.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 5. Juni 2013 hin­aus, unter »> ai : urgent action

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miranda

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india : 5.45 — Bei leich­tem Regen ges­tern im Park einen älte­ren Herrn beob­ach­tet. Er arbei­te­te an einem Buch, das ich zunächst nicht bemerk­te, weil der Herr auf einer Bank saß im Schat­ten eines Regen­schir­mes. Als ich neben ihm Platz genom­men hat­te, konn­te ich erken­nen, wie der Mann tat­säch­lich Zei­chen in einem Buch notier­te, das nicht grö­ßer gewe­sen war als eine Streich­holz­schach­tel. Neben ihm lag ein wei­te­res Buch, Phil­ip Roths Roman Ever­y­man. Der Mann schien das eine Buch hand­schrift­lich in das ande­re Buch zu über­tra­gen. Er notier­te mit einem Blei­stift, den er nach jedem geschrie­be­nen Zei­chen spitz­te. Rot­kehl­chen hüpf­ten zu sei­nen Füßen her­um, pick­ten das leich­te, hauch­dün­ne Holz, das aus der Spitz­ma­schi­ne fiel, vom Boden und tru­gen es fort ins nahe Unter­holz. Ein Ver­grö­ße­rungs­glas, eine Lupe, klemm­te im lin­ken Auge des Herrn, des­halb ver­mut­lich mach­te er den Ein­druck, Schmer­zen zu haben. Manch­mal biss er sich auf die Zun­ge. Wenn ich mich nicht irre, dann hat­te der Mann bereits etwa 100 Sei­ten des Roma­nes trans­fe­riert. Ich sah ihm bald eine Stun­de zu, ohne ein Wort mit ihm zu wech­seln. Fried­lichs­te Stim­mung. Auf dem See drau­ßen hüpf­ten Karp­fen aus dem Was­ser, schwe­re Kör­per. Ein paar Amei­sen trie­ben auf einem Blatt an uns vor­bei. Ich hät­te mich ger­ne unter­hal­ten, weil mir in den ver­gan­ge­nen Tagen unheim­lich zumu­te gewe­sen ist, wäh­rend ich Fern­seh­bil­der aus der Stadt Bos­ton beob­ach­te­te. Der alte, schrei­ben­de Mann aber war so ver­tieft in sei­ne Arbeit, dass er mei­ne Gegen­wart schnell ver­ges­sen zu haben schien. Ich stell­te mir vor, dass er in die­ser Arbeit gefan­gen oder gebor­gen, viel­leicht über­haupt nicht wahr­ge­nom­men hat­te, was in Bos­ton gesche­hen war. Viel­leicht wuss­te er nicht ein­mal vom Krieg in Syri­en oder von der Ent­de­ckung des Higgs-Teil­chens. Als es dun­kel wur­de, setz­te sich der alte Mann eine Stirn­lam­pe auf den Kopf. Für einen Moment leuch­te­te er mir ins Gesicht, um sofort in sei­ner Arbeit fort­zu­fah­ren. — stop

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kili­man­dscha­ro : 2.28 — Zwölf­hun­derts­tes Hotel­zim­mer – sei mir gegrüßt! Sei mir gegrüßt, mit mäßig gutem Bett, Spie­gel­schrank, Kom­mo­de, wacke­li­gem Schreib­tisch; mit rosa Nacht­tisch­lam­pe, abge­schab­tem Tep­pich, Was­ser­ka­raf­fe, Brief­pa­pier, Kof­fer­stän­der. Sei gegrüßt, Hei­mat seit einer hal­ben Stun­de, Hei­mat für zwei, drei oder vier­zehn Tage -: Wirst Du mir freund­lich gesinnt sein? Wer­de ich bei Dir aus­ru­hen dür­fen? — Ich lese Klaus Mann. Seit bald sechs Stun­den lese ich in einem Buch, das sei­ne Tex­te ver­sam­melt, eine Aus­wahl. Ich habe das Buch bereits vom ers­ten bis zum letz­ten Satz gele­sen. Nun, indem ich wie­der von vorn begin­nen wer­de, zu einem Zeit­punkt, da ich nicht weiß, wie lan­ge es dau­ern wird, bis ich mich wie­der bewe­gen wer­den kann, habe ich beschlos­sen, das Buch abzu­schrei­ben, weil das Buch abzu­schrei­ben län­ge­re Zeit in Anspruch neh­men wird, als das Buch zu lesen. Ich muss mich näm­lich beschäf­ti­gen, um mei­ne inne­re Ruhe nicht zu ver­lie­ren, weil ich Grund habe, äußerst beun­ru­higt zu sein. Es war gegen 8 Uhr abends, gera­de Däm­me­rung, als ich vor dem Fens­ter im 22. Stock eine Bewe­gung bemerk­te. Ich hat­te gera­de fünf Sei­ten des Buches gele­sen, als ich den Blick auf das Fens­ter rich­te­te. Ich bemerk­te eine Droh­ne, ein klei­nes Flug­ob­jekt, das zu mir her­ein­späh­te. Sie ist immer noch da. Sie filmt mich, wie ich hier auf mei­nem Sofa sit­ze. Ich habe den Ver­dacht, dass sie mög­li­cher­wei­se eine oder zwei Waf­fen auf mich rich­tet, wes­we­gen ich so tue, als wür­de ich sie nicht sehen. Und doch traue ich mich nicht, mich zu erhe­ben, obwohl ich sehr durs­tig bin und hung­rig. Kaum will ich einen Fuß auf den Boden stel­len, kommt die Droh­ne so nah an das Fens­ter mei­nes Zim­mers her­an, dass ich mei­ne, sie wür­de die Schei­be berüh­ren. Ich weiß, dass man mich betrach­tet, ver­dammt, wer auch immer Ihr seid, ich weiß, dass Ihr mich betrach­tet. Ich sage Euch, ich erklä­re hier­mit, ich wer­de Euch kei­nen Gefal­len tun, ich wer­de Euch nicht rei­zen, ich wer­de Euch kei­nen Anlass geben, auf mich zu feu­ern. Ich bin ganz ruhig, ich bin gelas­sen, Klaus Mann ist bei mir, ich lese, ich schrei­be. Es ist kurz nach zwei Uhr. Fan­gen wir noch ein­mal von vorn an: Ich weiß nicht, wohin ich fah­re. Ich fah­re irgend­wo­hin. Ich tra­ge mei­nen Hand­kof­fer, ein paar Bücher, den Regen­man­tel. — stop

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nachtameise

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alpha

~ : sam
to : Mr. louis
sub­ject : WANDERAMEISE

Mein lie­ber Freund Lou­is, es gibt Neu­es zu berich­ten. Ich bin näm­lich umge­zo­gen, von einer Woh­nung in eine ande­re Woh­nung, bei­de befin­den sich in dem­sel­ben Haus. Jah­re­lang, wie Du weißt, leb­te ich im 3. Stock, jetzt schaue ich vom 25. Stock­werk auf die Stra­ße hin­un­ter. Die Men­schen sind noch klei­ner gewor­den, ihre Stim­men nicht län­ger zu hören. Ich woh­ne unter dem Dach. Manch­mal lie­ge ich rück­lings auf dem Boden und den­ke, dass es hier ganz wun­der­bar ist, weil ich nie wie­der von Schrit­ten geweckt wer­de, wenn ich schla­fe. Natür­lich ist der Auf­stieg beschwer­lich, kein Lift nach wie vor, aber die Luft scheint hell zu sein, auch nachts, weil sie so gut riecht, nach See­luft, ja, nach See­luft. Vor weni­gen Stun­den öff­ne­te ich das Fens­ter nach Süden hin und füt­ter­te Möwen mit Brot, seit­her umkrei­sen sie lau­ernd das Haus. Die Woh­nung neben­an scheint leer zu ste­hen, von unten ist lei­se Kla­vier­mu­sik zu hören, nichts wei­ter. Es ist über­haupt sehr still hier oben. Wäh­rend ich nachts, eine Wan­der­amei­se, mei­ne Bücher und Papie­re nach oben schlepp­te, war ich kei­ner Men­schen­see­le begeg­net. Aber ich hör­te Stim­men, nicht von den Türen, von irgend­wo her, als wären Men­schen in den Stu­fen, dem Holz des Trep­pen­ge­län­ders, den Wän­den des alten Hau­ses gefan­gen. In den höhe­ren Stock­wer­ken befin­den sich Brief­käs­ten mit schwe­ren, eiser­nen Deckeln, in wel­che man Bot­schaf­ten abwer­fen kann. Natür­lich bin ich nicht sicher, ob sie noch funk­tio­nie­ren. Ich habe zur Pro­be eine Nach­richt fol­gen­den Inhal­tes an mich selbst abge­schickt: Etwas Selt­sa­mes ist gesche­hen. Bin ges­tern Abend ein­ge­schla­fen, obwohl ich in einem äußerst span­nen­den Buch geblät­tert hat­te. Viel­leicht war’s die schwe­re, war­me Luft oder eine schlaf­lo­se Nacht der ver­gan­ge­nen Jah­re, die rasch noch nach­ge­holt wer­den muss­te. So oder so schlum­mer­te ich eine Stun­de tief und fest im Gras und wäre ver­mut­lich bis zum frü­hen Mor­gen hin in die­ser Wei­se anwe­send und abwe­send zur glei­chen Zeit auf dem Boden gele­gen, wenn ich nicht sanft von einer nacht­wan­deln­den Amei­se geweckt wor­den wäre. Kaum hat­te ich die Augen geöff­net, war ich schon mit einer Fra­ge beschäf­tigt, die ich erst weni­ge Stun­den zuvor ent­deckt hat­te, mit der Fra­ge näm­lich, wie Tief­see­ele­fan­ten hören, was sie mit­ein­an­der spre­chen, da doch die Sprech­ge­räu­sche ihrer Rüs­sel sehr weit von ihren Ohren ent­fernt jen­seits der Was­ser­ober­flä­che zur Welt kom­men und rasch in alle Him­mels­rich­tun­gen ver­schwin­den. Eine dif­fi­zi­le Fra­ge, eine Fra­ge, auf die ich bis­her viel­leicht des­halb kei­ne Ant­wort gefun­den habe, weil ich eine Ant­wort nur im Schlaf fin­den kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Dein Sam. Guten Mor­gen! — stop

gesen­det am
17.03.2013
8.15 pm
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polaroidmusiker

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zylinder

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nord­pol : 22.01 — Stel­le mir ein Buch vor, das rund ist, ein Buch, des­sen Sei­ten so gebun­den sind, dass sie einen Zylin­der erge­ben. Man könn­te Geschich­ten in die­sem Buch der­art anord­nen, dass sie, wie in einem Gewäs­ser Strö­mun­gen, kaum merk­lich inein­an­der flie­ßen, sagen wir fünf­tau­send kleins­te Geschich­ten auf 2500 Sei­ten, geschrie­ben ohne Absatz und ohne eine Sei­ten­an­ga­be. Man steigt irgend­wo zu und liest und wird man bald mei­nen, schon ein­mal da und dort gewe­sen zu sein. — stop

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flamingo

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alpha : 2.25 — Seit eini­gen Wochen der Ver­dacht, dass sich Wör­ter mei­ner Par­tic­les-Sphä­re genau so ver­hal­ten, als wären sie unge­bän­dig­te Lebe­we­sen, sie tun näm­lich in heim­li­cher Wei­se was sie wol­len, fügen sich zum Bei­spiel selbst Buch­sta­ben hin­zu oder las­sen Buch­sta­ben, die für ihre spe­zi­el­le Exis­tenz unver­zicht­bar sind, ver­schwin­den. Ande­re Wör­ter las­sen Buch­sta­ben krei­sen, einen Buch­sta­ben um einen ande­ren Buch­sta­ben. Kaum habe ich nach lan­ger Arbeit in der Nacht die Augen zuge­macht, geht das alles los. Und wenn ich dann wach gewor­den bin und betrach­te, was ich nachts notier­te, mein Gott, den­ke ich, aus Wet­ter ist Wat­te gewor­den, aus Mie­te Mut, aus Regen­schir­men Schir­me von Schnee. Gera­de eben habe ich das Wort Möwe in einem Text beob­ach­tet, den ich vor Mona­ten notier­te. Ich hat­te die­ses Wort schon lan­ge im Auge. Eine Stun­de betrach­te­te ich das Wort, ohne dass es sich ver­än­der­te. Kaum aber war ich für eine Minu­te aus dem Raum getre­ten, um in die Küche zu gehen, wur­de aus der Möwe eine Mive, das kann ich so genau sagen, weil ich, als ich an den Schreib­tisch zurück­kehr­te, gera­de noch sehen konn­te, wie aus dem Wort Mive wie­der das Wort Möwe wur­de. Eine selt­sa­me Sache. Auch gan­ze Wör­ter schei­nen durch den Text­raum wie durch Zeit zu rei­sen. Im Juli 2008 fabri­zier­te ich eine klei­ne Geschich­te, die davon erzählt, war­um ich nachts manch­mal im Dunk­len sit­ze. Genau die­sen Text scheint das Wort Fla­min­go beson­ders ange­nehm zu fin­den, wes­we­gen es immer wie­der erschei­nen will im Text anstel­le der Flie­gen, die Tee­flie­gen sind. Schau­en Sie selbst, Sie müs­sen nur lan­ge genug Beob­ach­ter oder Beob­ach­te­rin sein, dann wer­den Sie schon sehen: Heut Nacht sit­ze ich im Dun­keln, weil ich her­aus­zu­fin­den wün­sche, ob Libel­len auch in licht­lee­ren Räu­men flie­gen, schwe­ben, jagen. Als ich ges­tern, das soll­ten Sie wis­sen, gegen den Mit­tag zu erwach­te, balan­cier­te eine Libel­le, mari­ne­blau, auf dem Rand einer Karaf­fe Tee, die ich neben mei­nem Bett abge­stellt hat­te, schau­te mir beim Auf­wa­chen zu und nasch­te, solan­ge ich nur ein Auge beweg­te, indem sie rhyth­misch mit einer sehr lan­gen Zun­ge bis auf den Grund des zimt­far­be­nen Gewäs­sers tauch­te. Viel­leicht jag­te sie nach Fischen oder Lar­ven oder klei­nen Flie­gen, nach Tee­flie­gen, kochend heiß, die küh­ler gewor­den sein moch­ten, wäh­rend ich schlief. Oder aber sie hat­te end­lich Geschmack gefun­den auch an süßen Din­gen des Lebens, wes­halb ich kurz vor Mit­ter­nacht einen Löf­fel Honig erhitz­te und auf die Fens­ter­bank trop­fen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so war­te ich nun bereits seit drei Stun­den und höre selt­sa­me Geräu­sche, von Men­schen viel­leicht oder ande­ren wil­den Tie­ren. — stop – Zwei Uhr und fünf­und­zwan­zig Minu­ten. Wahr­schein­lich ist auch heu­te, wäh­rend ich schlief, wie­der alles in Bewe­gung gewe­sen. — stop

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pseudonym No 5

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india : 6.22 — Ich ken­ne einen Mann, der lei­den­schaft­lich ger­ne Wör­ter erfin­det. Es han­delt sich bei die­sen Wör­tern um Wör­ter, die vor ihrer Ent­de­ckung in der Wirk­lich­keit tat­säch­lich bis­her nicht exis­tier­ten. Und weil er sich nie­mals sicher sein kann, ob das Wort, das gera­de erst erfun­den wor­den ist, in der Wirk­lich­keit tat­säch­lich noch nicht exis­tiert, ver­bin­det er sei­nen Com­pu­ter mit der Such­ma­schi­ne Goog­le. Wenn das Wort, das erfun­den wur­de, in den Ver­zeich­nis­sen der Such­ma­schi­ne nicht zu ent­de­cken ist, kann er sich sei­ner Sache bei­na­he sicher sein. Das Wort oli­mam­bo­sa, zum Bei­spiel, wur­de in der ver­gan­ge­nen Woche ins Leben geru­fen, ein voll­stän­dig neu­es Wort in der digi­ta­len Sphä­re. Viel­leicht des­halb, weil der Mann im Moment sei­ner Erfin­dung sehr zufrie­den mit sich und ein wenig stolz gewe­sen war, sen­de­te er einen E‑Mailbrief an mich, um mir sei­ne Erfin­dung zu schen­ken. Er schrieb, er wür­de sich ver­wandt mit mir füh­len, da ich ähn­lich vor­ge­hen wür­de wie er selbst. Für die­se Behaup­tung habe er eine beweis­kräf­ti­ge Spur in mei­nen Par­tic­les-Archi­ven ent­deckt. Dort soll ich am 30. Mai des ver­gan­ge­nen Jah­res einen Text ver­öf­fent­licht haben unter dem Titel Pseud­onym No 5. Tat­säch­lich, ich hat­te den Text bei­na­he ver­ges­sen, wur­de Fol­gen­des geschrie­ben: Ges­tern war das Wet­ter schön, ich such­te spa­zie­rend im Park nach einem Namen für mein Pseud­onym No 5. Sobald ich glaub­te, einen geeig­ne­ten Namen gefun­den zu haben, sag­te ich ihn laut vor mich hin, ich sag­te zum Bei­spiel: Felix May­er Kek­ko­la. Als Nach­mit­tag gewor­den war, gefiel mir die­ser Name noch immer, ich hat­te Lil­li M. Mur­phy bereits ver­wor­fen, auch Kas­par Joe Wei­de­mann und wei­te­re Namen waren gründ­lich ver­ges­sen. Ich notier­te den gewähl­ten Namen Felix May­er Kek­ko­la in mein Notiz­buch und ging nach Hau­se. Es ist selt­sam, ich war mit mei­nem neu­en Namen an der Sei­te stark unru­hig bis in den Abend hin­ein. Ich konn­te mir die­se Unru­he zunächst nicht erklä­ren, dann hat­te ich die Idee, dass ich nach­se­hen soll­te, ob der Name Felix May­er Kek­ko­la viel­leicht im Inter­net schon län­ge­re Zeit exis­tiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der die­sen Namen ver­wen­det, um sich zu ver­ber­gen und zu ver­öf­fent­li­chen in ein und dem­sel­ben Moment. Mehr­fach prüf­te ich mit Such­ma­schi­nen die Exis­tenz einer Spur. Kein Ergeb­nis für „Felix May­er Kek­ko­la“ war zu fin­den. Ich könn­te nun also ers­tens anneh­men, dass ein Mensch, der die­sen Namen trägt, nicht exis­tiert, was sicher nur sehr vor­sich­tig for­mu­liert wer­den darf. Zwei­tens könn­te ich jenen fei­nen Namen nun für mich beset­zen, okku­pie­ren sozu­sa­gen nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen, was in die­ser Sekun­de genau so geschieht, indem ich mei­nen Text in die digi­ta­le Sphä­re sen­de. – stop

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tan­go : 3.22 — In Peter Bichsel’s Buch der Kin­der­ge­schich­ten, einen wun­der­ba­ren ers­ten Satz der Erzäh­lung Die Erde ist rund gele­sen. Der Satz geht so: Ein Mann, der wei­ter nichts zu tun hat­te, nicht mehr ver­hei­ra­tet war, kei­ne Kin­der mehr hat­te und kei­ne Arbeit mehr, ver­brach­te sei­ne Zeit damit, dass er sich alles, was er wuss­te, noch ein­mal über­leg­te. — stop — Weit nach Mit­ter­nacht. Leich­ter Schnee­fall, leich­ter Wind. Immer wie­der der Wunsch, Gegen­stän­de, auch erfun­de­ne Din­ge und Wesen, unver­züg­lich zu öff­nen, um nach­zu­se­hen, was in ihrem Inne­ren zu ver­mer­ken ist. stop. Vor­wärts erfin­den in die Tie­fe. stop. Vor­wärts bis hin zur letz­ten ein­sa­men Haut, die jedes ver­blei­ben­de Geheim­nis umwi­ckelt. – stop

mikroskop2

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wenedikt jerofejew : die reise nach petuschki

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sier­ra : 22.01 – Unter den Büchern, die bei mir woh­nen, fin­det sich eines, das von einem gro­ßen rus­si­schen Erzäh­ler geschrie­ben wur­de, von Wene­dikt Jero­fe­jew, der nicht mehr unter uns Leben­den weilt, Alko­hol hat ihn umge­bracht oder er sich selbst oder wie auch immer. Sein Buch berich­tet die Rei­se eines Trin­kers vom Kurs­ker Bahn­hof zu Mos­kau nach Petusch­ki, einem rus­si­schen Städt­chen drau­ßen in der Wei­te. Eine Höl­len­fahrt, ein Buch, das ich nie­mals auf­ge­ben wer­de, ein Gespräch mit Engeln: War­um hast Du alles aus­ge­trun­ken, Wen­ja! – Von Zeit zu Zeit trag ich das Bänd­chen in mei­nen Hän­den, schau hin­ein, lese Wör­ter und Sät­ze, aber ich habe die Geschich­te nie bis zu ihrem letz­ten Satz gele­sen, kann nicht genau sagen, war­um das so ist. Viel­leicht wün­sche ich ins­ge­heim, dass das Buch kein Ende fin­den möge. Es ist kein umfang­rei­ches Buch, nein, nein, 170 Sei­ten, und sein Rücken zer­schlis­sen, sodass ich manch­mal näher­tre­ten und nach ihm suchen muss. Gele­gent­lich, als Wene­dikt Jero­fe­jew noch unter uns war, hat­te ich mir vor­ge­stellt, wie ich ihn ein­mal besu­chen wür­de, wie ich vor sei­nem höl­zer­nen Haus auf einer Trep­pe sit­zend war­te, wie er auf mich zukommt, wie ich sei­ne Hand neh­me, wie ich das zit­tern­de Feu­er sei­ner Lebens­höl­le spü­re, wie ich zu ihm sage: Wen­ja, mein lie­ber Wen­ja, lies mir vor! Und wie wir dann auf einer Trep­pe in der Son­ne sit­zen, Flie­gen tan­zen über unse­ren Köp­fen, sei­ne Stim­me: Lou­is, hör zu! – Alle sagen, – der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein ein­zi­ges Mal gese­hen. Wie vie­le Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brum­men­dem Schä­del Mos­kau durch­quert, von Nor­den nach Süden, von Wes­ten nach Osten, aufs Gera­te­wohl, von einem Ende zum ande­ren, aber den Kreml habe ich kein ein­zi­ges Mal gese­hen. — stop

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