india : 22.07 UTC — Vor wenigen Tagen ist im hohen Alter ein Doktor gestorben, der mein Doktor gewesen war, als ich noch in kurzen Hosen im Sommer herumspazierte. Mein Knie, eine Wunde, war längst versorgt, da hatte ich noch den Duft des Jods in der Nase. Der Doktor kam manchmal zu mir nach Hause, wenn ich Fieber hatte. Er führte eine Ledertasche mit sich, in der seine Instrumente klimperten. Ich erinnere mich an die Kühle eines Schallbechers, wenn er nach Geräuschen in mir suchte. Sein Kopf war in diesen Momenten des Lauschens nah, kaum noch Haar, sehr fein und grau. Seine sanfte Stimme. Leise. Einmal war er als Privatmann zu Besuch gekommen. Anstatt eines Blumenstraußes für Mutter, führte er eine Glühsparlampe mit sich, die er in der Art und Weise überreichte, als wäre sie tatsächlich eine frische Blume, ein blühender Zierlauch, sagen wir, oder eine Kugeldistel. — stop
Aus der Wörtersammlung: eis
pripyat
echo : 21.08 UTC — Auf meinem Fernsehbildschirm sichtbar üben ukrainische Soldaten den Häuserkampf in der winterlichen Stadt Pripjat. Es ist Abend. Ich öffne mein Notebook, nähere mich in der digitalen Sphäre jener unheimlichen Stadt, Stadt eines Riesenrades, ich erinnere mich, ein Riesenrad in dieser seltsam einsamen Stadt. Da waren vor vielen Jahren noch Menschen gewesen, sie spazierten an einem sonnigen Tag durch einen Park, große Menschen und Kindermenschen kurz nach Havarie des nahen Reaktors. Da waren Blitze, Spuren starker radioaktiver Strahlung, die sich in das Filmmaterial, welches von den großen Menschen und den Kindermenschen erzählt, eingebrannt hatte. All das plötzlich wieder gegenwärtig an diesem Abend, da ich meine Bildschirmreise beginne. Ich komme von Süden, es ist Sommer. Winterbilder existieren von dieser nordukrainischen Landschaft nicht in den Magazinen der Google Earth Maschine, aber eben sommerliche Spuren, zwei Ströme, Juni 2015 und ein weiterer Strom, der im Sommer 2020 aufgezeichnet wurde. Je eine schnurgerade Straße kur vor dem Checkpoint Leliv. Im Juni 2015 kommen wir an, im Juli des Jahres 2020 fahren wir weiter durch die Wälder des Sperrgebietes kurz vor Tschernobyl. Die Straße ist gepflegt, jenseits der Straße zerfallende Häuser, auch Gebüsch von leuchtendem Grün. Plötzlich eine kleine Stadt, die ich in dieser Wildnis nicht erwartet hatte. Häuserblocks. Stromleitungen führen über Brücken. Menschen stehen in kleinen Gruppen am Straßenrand. Dann wieder Juni 2015, wir passieren das Denkmal derer, die die Welt gerettet haben. Da und dort Birken, auch rötlich gefärbte Gewächse. Und Schilder, gelbe Schilder, die vor Strahlung warnen. Da und dort Wolken himmelwärts. — stop
lichtenbergfalter
sierra : 15.12 UTC — In der vergangenen Woche lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Aquariumzimmer . Audiacity . Bodymind . Bienenschwarmmaschine . Boosterimpfung . Spieldosensammlung . Selberdenken . Taucherhandzeichen . Taschkent . Tagmensch . Rüsselrosen . Sandwellenwinde . Schlafduft . Parabelbahn . Nashornkäfer . Nachtstraßenmuseum . Nomadland . Notknopfseile . Makitage . Lichtfangmaschine . Lichtenbergfalter . Instanzname . Holzstegfeder . Kiemenmädchen . iMovie . Itinerar . Höhlenachtbild . Kuppelwerk . Flamingobeine . Feneon . Geisterflotte . Emotionsregulation . Erzählräume . Dronenkamera . Fakekinderwagen . Dauerschlafen . Drohnenleuchten. — stop
irgendwo nahe mariupol
delta : 14.32 UTC — Auf Luftbildfotografien dieses Winters wird Olga nicht zu sehen sein, zu klein dieses menschliche Wesen. Oder doch vielleicht sichtbar im Sommer unter einer Lupe, wie die alte Frau in ihrem Garten Himbeeren pflückt. Es ist ein wilder Garten geworden, weil Olga den Gewächsen ihres Gartens nicht länger Herr wird, sie muss oft im Haus sein bei ihrem Mann, dessen Namen ich nicht kenne. Er ruht im Wohnzimmer auf einem Bett, weil er alt ist und kaum noch gehen kann. Als er noch nicht ganz so alt war wie in diesem Winter, 8 Jahre jünger, war das mit dem Gehen bereits schwer geworden, weil er von einem Splitter harten Holzes in die Hüfte getroffen worden war, als eine Granate in einem Februar im Garten des Nachbarn explodierte. Der Nachbar lag drei Tage reglos auf dem Rücken im Schnee, weil er nicht mehr lebte. Dann hörte der Krieg auf. Nein, der Krieg entfernte sich, war jedoch nah genug geblieben, dass man ihn hören konnte und immer noch hören kann. Olgas Mann liegt auf dem Bett und lauscht zum Fenster hin, was man dort hört vom Krieg, ob er näher kommt. Auch hört er Olga, es ist Abend, die in den Keller gestiegen ist. Sehr steile Treppe. Es ist hell da unten, weil eine Kamera der alten Frau in den Keller folgte. Ein Mann trägt diese Kamera auf seiner Schulter, ein weiterer Mann trägt grelles Licht, eine Frau stellt Fragen, Olga antwortet: Wenn der Krieg wieder zu uns kommt, dann wird unser Sohn das Bett und seinen Vater in den Keller tragen. Dort wird es stehen, genau dort, wo die Zwiebeln liegen. Hier werden wir sicher sein. Der Atem der alten Olga dampft. Von der Decke hängen Fäden, auch schneeweiße Gebeine, Spinnen, die Olga noch immer fürchtet, so, stelle ich mir vor, könnte das sein. Sie schaut jetzt direkt in die Kamera. Ich betrachte ihr altes, müdes Gesicht, das sich nicht zurückziehen kann, weil ich den Film angehalten habe auf dem Bildschirm meines Fernsehgerätes. — stop

tokio
marimba : 22.28 UTC — Es ist spät geworden, beinahe Nacht. Auf einem Bahnsteig unter dem Flughafen warten Reisende, sitzen auf dem Boden, auf Koffern, auf Bänken, stehen, lehnen aneinander oder drehen sich auf engem Raum um die eigene Achse, schlafwandelnde Tänzer, die gerade noch in Madrid oder Tokio gewesen sind. Sie alle tragen ein Papiersegel vor dem Mund, manche von hellblauer Farbe, manche Weiß, andere in Tönungen, die für Mundsegelfarbe neu erfunden sind, grün, gelb, rot. Ein Mann spaziert dort auf und ab. Er nimmt den Weg entlang der Bahnsteigkante, balanciert vor dem Abgrund, als würde er riskantes Gehen lange Zeit geübt haben. Und wie er an mir vorbeikommt, höre ich ihn sprechen: Dieses Corona – Virus! Reine Erfindung, das ist verrückt, das Virus müsste man doch sehen! Ihr seid alle nicht bei Trost! — So formulierend spaziert er den langen Bahnsteig auf und ab. Seine Stimme spricht sanft, vielleicht ein wenig zornig, weil er bemerkt, dass man ihm nicht zuhört, dass ihm niemand antworten möchte, vielleicht sagen: Ja, mein Herr, das Corona — Virus ist tatsächlich eine reine Erfindung. Wir hören jetzt auf mit der Erfindung. Alles wird gut! — Und dann kommt der Zug. Auch der Mann steigt in den Zug. Ich sitze, ich warte, ich würde ihn gern fotografieren, eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte, einen Herrn, der flüchtet und doch bleibt. Einmal, kurz, meinte ich seine Stimme zu hören. — stop
krim : lichtbild no 3
romeo : 8.52 UTC — Associated Press veröffentlichte vor wenigen Jahren eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem kleinen Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend, vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen, ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, es sind vier Personen, vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, außerdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder. Sie tragen keine Hoheitszeichen, aber sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. Jeder Blick hinter eine Maske hervor ist ein seltsamer Blick. Einer anderer der Männer hält seinen Geldbeutel geöffnet. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, das Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, Luhansk, Mariupol. — stop / koffertest : updated — ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.
moskau
echo : 20.08 UTC — Wenn es sich sperrt im Kopf, da muss man gerade erst recht darauf losschreiben. Und wenn da nichts ist im Kopf, das man schreiben könnte. Oder immer dasselbe, was man notieren könnte, dann ist es gut eine Ameise sich auszudenken, einfach notieren, was sie tut, wohin sie läuft, und schon kommt Licht in den Kopf, wie sie über den hölzernen Boden spaziert über ein Blatt Papier, auf welchem sich bald Wörter befinden werden, die zum Beispiel von Grönland erzählen oder von Moskau, wie es Vater erlebte. — stop
ai : ÄGYPTEN
MENSCH IN GEFAHR: „Die Menschenrechtsanwältin Hoda Abdelmoniem wird seit mehr als drei Jahren aufgrund ihrer Menschenrechtsarbeit willkürlich festgehalten. Nachdem sie 35 Monate in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde sie von der Obersten Staatsanwaltschaft vor das Notstandsgericht (ESSC) zitiert. Ihr wird vorgeworfen, einer “terroristischen Vereinigung” beigetreten zu sein, sie finanziert und unterstützt zu haben. Außerdem legt man ihr zur Last, über eine Facebook-Seite mit dem Namen “Egyptian Coordination for Rights and Freedoms” Falschnachrichten über Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte verbreitet zu haben, um Gewalt gegen staatliche Einrichtungen zu schüren. Diese Vorwürfe beziehen sich auf ihre Arbeit für die Menschenrechtsorganisation Egyptian Coordination for Rights and Freedoms (ECRF). / Die ESSCs, die als Sondergerichte im Falle eines Ausnahmezustands tätig werden, sind für ihre unfairen Verfahren bekannt und ihre Urteile sind nicht anfechtbar. Hoda Abdelmoniems Recht auf eine angemessene Verteidigung wird verletzt, da sie sich mit ihrem Rechtsbeistand ausschließlich vor Gericht treffen darf. Die Fortführung des Prozesses, der am 11. September 2021 begann, wurde auf den 15. Dezember 2021 vertagt. / Bei einer Gerichtsanhörung am 11. Oktober 2021 sagte Hoda Abdelmoniem den Richter:innen, dass ihr im Gefängnis eine Herzkatheteruntersuchung verschrieben wurde und dass eine:r der Mediziner:innen ihre Freilassung aus medizinischen Gründen beantragt habe. Laut des : der Gefängnis-mediziner:in seien jedoch derzeit Verlegungen in Krankenhäuser außerhalb des Gefängnisses aufgrund der Corona-Pandemie ausgesetzt. Amnesty International hat jedoch Kenntnis von der Verlegung anderer Gefangener in externe Krankenhäuser seit dem Ausbruch des Coronavirus, einschließlich der kurzzeitigen Verlegung von Hoda Abdelmoniem am 30. November 2020 zur Behandlung eines vermuteten Nierenversagens. Zusätzlich zu ihrer Herzerkrankung leidet Hoda Abdelmoniem an einer Nierenerkrankung, einer arteriellen Thrombose und hohem Blutdruck. Seit ihrer Inhaftierung am 1. November 2018 verweigert ihr die Verwaltung des Frauengefängnisses Al-Qanater jeglichen Besuch und Kontakt mit ihrer Familie. Ihre Angehörigen haben außerdem nach wie vor keinen Zugang zu ihrer Krankenakte, was die Sorge der Familie um ihren Gesundheitszustand noch verstärkt. Die Richter:innen, die ihren Prozess leiten, haben Anträge auf Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung und Familienbesuche bislang abgelehnt.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 4. Februar 2022 hinaus, unter »> ai : urgent action
von der killerimpfung
nordpol : 20.18 UTC — Grad sind wir aus dem Zug gestiegen, stehen noch auf dem Bahnsteig. Sie will mir noch etwas sagen. Dass ich nur deshalb noch am Leben sei, weil jene erste und jene zweite Impfung, die ich erhalte, habe im vergangenen Sommer, Köderimpfungen gewesen seien. Man tue so, als wäre mit den Impfungen alles in Ordnung. Ein Irrtum, fatal! Juden wurden von diesen verdammten Nazis damals auch getäuscht. Und jetzt geht das wieder los. Sie spricht mit leiser Stimme, sehr seltsam: Alle diese dummen Menschen, die noch gezögert haben, werden jetzt, heute, in dieser Minute, mit der eigentlichen, der tödlichen Dosis gespritzt. Dass ich bereits die dritte Impfung empfangen habe: Schade! Das war für Dich die Killerimpfung, jetzt machen sie den Sack zu. — Sie schaut mich ernst und traurig an. Ihr Rollkoffer quietscht ein wenig, wie sie davongeht. — stop
letzter winter
echo : 8.02 UTC — Joseph prophezeit, dass ich bald mein Leben verlieren werde. Du tust mir leid, sagt Joseph, Du hättest Dich nicht impfen sollen. Alle werden sterben. Alle, die sich geimpft haben, werden in diesem Winter tot geworden sein. Vielleicht hast Du noch eine Chance, wenn Du die Impfung verweigerst. Solltest Du die 3. Impfung nicht verweigern, wirst Du tot sein, da kann Dir niemand helfen, Ihr werdet sterben wie die Fliegen, sagt Joseph. Er spricht am Telefon, aber jetzt will er nicht weiter sprechen, ich habe einige Fragen, aber er möchte partout nicht weitersprechen. Joseph legt auf. Ich glaube, er will mit einem Toten nicht sprechen. Es ist etwas anderes, wenn man nicht genau weiß, wann ein Bekannter sterben wird, vielleicht in zehn Jahren. Aber wenn man weiß, dass ein Bekannter tot sein wird, ehe noch der nächste Frühling gekommen sein wird, da ist das doch so, als würde man gerade schon mit einer Person sprechen, die im Grunde bereits tot ist. — stop