romeo : 0.06 — Unlängst erzählte ich E. von gekühlten Herzfächern, die in einem Institut der Universität Oslo angelegt worden sein sollen. Ich sagte: Ist das nicht erstaunlich, seit einigen Monaten existiert dort in einem Fach ein Herz, das meinem Herzen ähnlich ist, weil es von mir, weil es nach meinen Zellinformationen gewachsen ist. Weißt Du, sollte mein eigenes Herz einmal schwach oder sehr krank werden, könnte man dieses vollkommen neue Herz in meinen Brustkorb setzen, wir, das Herz und ich, wären sofort befreundet. Nun ist das so gekommen, dass E. sich heimlich derart für diese Möglichkeit eines zweiten Herzens begeisterte, dass sie selbst gern über ein zweites Herz verfügen würde. Ich bin jetzt ein wenig in Verlegenheit. Ich denke seit Stunden über die Formulierung einer einfühlsamen Antwort nach. – stop
Aus der Wörtersammlung: freunde
nahe montauk
charlie : 3.28 — Z. erzählte vor wenigen Tagen, sie habe einen Freund besucht, der in einem Strandhaus nahe Montauk auf Long Island lebe. Er habe ihr im wortwörtlichen Sinne sein Herz geschenkt. Dieses geschenkte Herz soll sich seit zwei Jahren freischwebend in Konservierungsflüssigkeit befinden, indessen das neue Herz ihres Freundes, ein tatsächlich sehr junges Herz, sich inzwischen mit einem sehr viel älteren Körper gut angefreundet habe. Z. sagte, sie habe das Herz, welches von Glas ummantelt sei, sorgfältig in ihrem Rucksack verstaut und sei damit in den Zug gestiegen. Im Zug habe sie das Herz hervorgeholt und vor sich auf den Tisch des Abteils gestellt. Sie habe während der langen Fahrt nach New York zurück das alte Herz ihres Freundes eingehend studiert, vor allem wie sich im Meereslicht, das durch das Zugfenster einströmte, die Konturen des Herzens und seine Farben lebhaft veränderten. — stop
propeller
tango : 6.52 – Dieses Wort, Propellerwort, das sich seit einigen Stunden, weiß der Himmel, woher es gekommen ist, in meinem Kopf bewegt, scheint in der wirklichen Welt noch nicht zu existieren. Ich suchte in Wörterbüchern, ich suchte in der digitalen Sphäre, vergeblich. Was also könnte unter einem Propellerwort exakt zu verstehen sein? Ein Wort vielleicht, das in der Lage wäre, weitere Wörter, die vor oder hinter ihm in einem Satzverbund notiert worden sind, im Geiste eines Lesenden zu beschleunigen, oder den Lesenden selbst in seiner Art des Lesens heftig anzuregen. In diesem Augenblick kommt mir kein Wort in den Sinn, das in dieser Weise wirksam werden könnte. Stattdessen dachte ich an das Wort Zwergseerose, welches ich gestern noch notierte, das Wort Zwergseerose könnte für mich zu einem Propellerwort werden, weil es mich leichter werden lässt, weil ich mich freue, sobald ich das Wort denke oder höre, weil ich sofort weitere Zwergwörter bemerke, die mir gefallen, das Wort Zwerglibelle beispielsweise, oder das Wort Zwergameisenpferd, von den Ameisenpferden habe ich bereits erzählt, auch das Wort Ohrfeige, wenn ich das Wort Ohrfeige hinsichtlich der Baumfrüchte betrachte, scheint sich gleichwohl zu einem Propellerwort zu entwickeln. Oh, Du schöner Frühlingsmorgen. – stop
metamorphose
tango : 2.28 — Nach stundenlanger Recherche der Verdacht, die Behauptung eines Freundes, es sei einem Wal aus anatomischen Gründen unmöglich, einen Menschen zu verzehren, das heißt, ihn versehentlich bei lebendigem Leibe in sich aufzunehmen und in den Magen zu bewegen, könnte korrekt sein. Es bleibt nichts übrig, als geeignete Walfischgattungen zu erfinden. — stop
vor neufundland 2.12.16 uhr : die sterne sind rund
tango : 0.02 — Nehmen wir einmal an, man würde einen Vogel von der Größe eines Zeisigs konstruieren, ein Wesen, welches aus 1500 Einzelteilen bestehen wird, sagen wir aus Streben von leichtem Metall, einem hölzernen Rumpf, Flügel von kostbarem Tuch, Schrauben, Farbschichten, Dioden, feinsten Seilen, das wäre eine sehr feine Geschichte, einen Baukastenvogel entdecken für Mädchen und Jungen, die nun in ihren Zimmern sitzen, um den Vogelkörper zu montieren. Sie werden vielleicht zwei oder drei Monate Zeit in ihren Zimmern verbringen, kaum etwas wird noch von ihnen zu sehen sein, als das Licht, das bis spät in die Nacht verbotenerweise aus ihren Zimmern dringt. Wie sie zuletzt ins Zentrum ihrer Vögel, dort wo sie den Herzort ihrer Vögel vermuten, mit einer Pinzette und zitternden Händen eine Atombatterie verpflanzen, nicht größer als ein Reiskorn, und wie sich nun ihre Vögel mit surrenden Flügeln erheben und aus den Fenstern segeln und flattern zur großen Reise einmal um die Erdkugel herum. — Kurz nach Mitternacht. Ich habe einen Funkspruch meines Freundes Noe empfangen. Tiefe 828 Fuß. Position 81 Seemeilen südöstlich der Küste Neufundlands. Fröhliche Stimme, folgende Nachricht: ANFANG 2.12.16 | | | Habe lange zeiten keine sterne gesehen. s t o p die sterne sind rund. s t o p zarte finger von licht. s t o p fühler. s t o p als ob der weltraum das meer durchsuchte. y e l l o w t u m b l i n g f i s h f r o m a b o v e. träumte yoko. s t o p ihre schultern. s t o p ihren mund. s t o p ihre stimme. s t o p spüre ihren atem an meinem hals. s t o p ihre lippen auf meiner brust. s t o p coney island. s t o p wird man vielleicht seltsam in der stille? s t o p in der meeresstille. s t o p schluss jetzt. s t o p fangen wir noch einmal von vorne an. s t o p. t w o b l u e f i s h e s i n l o v e s t r a i g h t a h e a d. s t o p werde ich je wieder land betreten? s t o p | | | ENDE 2.14.02 — stop
ein pinguin
india : 6.38 — Ludwig, ich traf ihn am Freitagabend während eines Spaziergangs zufällig unten am Fluss, erzählte von einem Experiment, das er vor wenigen Wochen im April gestartet haben will. Es gehe, sagte Ludwig, um den Versuch, Luftpostbriefe nach Aleppo zu verschicken. Weder habe er selbst Freunde noch Familienangehörige in Aleppo, trotzdem habe er ein gutes Dutzend Briefe in die zerstörte Stadt geschickt, zufällige Straßen, zufällige Häuser, zufällige Namen. Eine Freundin habe ihm bei seiner Arbeit geholfen, Lucille, die die arabische Sprache mühelos sprechen und schreiben könne. 5 seiner Briefe seien nach wenigen Tagen bereits zurückgekommen, sie waren je mit einem handschriftlichen Vermerk in deutscher Sprache versehen: Zurzeit nicht zustellbar. 12 weitere Briefe seien noch verschollen, 1 Brief war jedoch zu ihm zurückgekehrt. Der Brief schien tatsächlich bis in die Stadt Aleppo gekommen zu sein, ein Stempel in französischer Sprache begründete die Rücksendung des Briefes: Adresse insuffisante. Diese Nachricht hatte Ludwig erwartet, nicht aber, dass auf dem Briefumschlag selbst eine Nachricht in der Gestalt eines handgezeichneten Pinguins hinterlassen worden war. — stop
holly
remington : 18.05 — Ich träumte, von einer Staten Island Fähre auf das offene Meer hinaus getragen worden zu sein. An Bord des Schiffes waren zahlreiche Menschen gewesen, sie fotografierten einander, manche lasen in einer Zeitung, andere tranken Kaffee aus Pappbechern oder telefonierten. Niemand schien sich zu wundern, dass die Fähre, hinsichtlich einer üblichen Reisedauer von 25 Minuten, nicht landete. Stunden vergingen. Einmal fegte ein Sturm über das Schiff hinweg, hunderte Möwen flatterten kreischend über die Decks. Irgendwann schlief ich ein, und ich träumte, als ich erwachte, eine Frau habe mir gegenüber Platz genommen. Ich meine, mich an ihren Namen erinnern zu können, ich glaube, sie hieß Holly. In diesem Augenblick, als ich die Augen öffnete, transferierte sie einen Text mittels eines Pinsels auf ein quadratisches Blatt Papier, das von mindestens 50 cm Durchmesser gewesen war. Sie trug eine Sonnenbrille sowie einen Sommerhut auf dem Kopf, außerdem ein helles Kleid, auf welchem vereinzelt Kirschen aufgedruckt worden waren, und schwere Wanderschuhe, deren Schnürsenkel sie nicht verknotet hatte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde schlief auch Holly ein, ihr Kopf neigte sich zur Seite, kurz darauf glitt das Papier, das sie beschriftet hatte, von ihren Schenkeln und landete vor mir auf dem Boden, sodass ich lesen konnte, was Holly notierte: Lesemaschine No. 82 / Dachgarten, 75, Greenwich Avenue Manhattan [ Schlüssel : Mrs. M. Linneker — 8. Stock ] > Die Geschichte von den Papiertierchen. Handzeichnung, ca. 68 pt: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, sodass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf, sollte bald einmal wach werden. — stop
furcht vor pegida
echo : 0.12 — Ihr Sohn heißt Miran, ihre Tochter Shirin. Sie selbst wurde im Osten der Türkei geboren, ihre Kinder, 12 und 14 Jahre alt, in der Bundesrepublik Deutschland. Einen Mann gibt es nicht mehr. Sie arbeitet in einem Café, eine fröhliche, zierliche Frau, ihr Haar ist pechschwarz, eigentlich bereits grau oder weiß. Seit sie im Café arbeitet, ruhen unter Beeren-Muffins, Schwarzwälderkirsch Torte, Käsekuchen und Apfelstrudelscheiben, auch kurdische Plätzchen, Kulice, mit Walnüssen, Mandeln, Zimt und Zucker gefüllt. Ich weiß schon von der ein oder anderen wilden Geschichte, die sie erlebte, kurze Geschichten sind das, eilig während einer Tasse Kaffee erzählt, eigentlich kleine Romane, weil ich sie nicht vergessen kann, weil sie sich erzählen wie von selbst. Gestern ist eine weitere Geschichte hinzugekommen. Anisun berichtete, sie werde am kommenden Wochenende nach einem Weihnachtsbaum suchen wie jedes Jahr um diese Zeit, doch, doch, nach einem Weihnachtsbaum, in diesem Jahr sei sie spät dran, ja, ja, mit allem, was man sich denken kann, aber elektrische Kerzen, schon immer, seit die Kinder in die Schule gehen, komme ein Baum ins Haus, ja, wir sind Aleviten, auch die Kinder, aber immer haben wir Weihnachten gefeiert, man trifft sich, Freunde, Schwestern, Brüder, Onkel, Tanten, und kocht und freut sich, und die Kinder bekommen Geschenke, doch, doch, du brauchst dich nicht zu wundern, wir feiern gern, ja, ja, wir fürchten uns, eine Handvoll Furcht, es ist ein schlimmes Jahr gewesen, auch für uns Aleviten, das ist meine Heimat hier, und wieder fürchte ich mich, wir sprechen nicht viel darüber, wir hoffen, dass es nicht näher kommt. — stop
eidechsen
echo : 1.35 — Eine Bekannte, die in einem kurdischen Bergdorf groß geworden ist, erzählte, sie habe als Kind im Sommer mit Eidechsen gespielt, im Winter hüpfte sie vom Dach ihres Elternhauses in den Schnee. Es gab kein Telefon und die Schule lag drei Stunden zu Fuß entfernt. Man konnte die Kinder von Weitem über den Weg springen sehen, wie sie nach Hause kamen, da hatten sie noch 2 Stunden zu gehen. Eine karge Landschaft, kaum Bäume, aber blühende Büsche, deren Namen sich nicht so leicht in die deutsche Sprache übersetzen lassen. Ihren ersten Toten hatte das Mädchen wahrgenommen, als sie noch nicht schreiben konnte. Er lag auf dem Rücken auf einer Straße unweit der Schule. Ein dünner Fluss von Blut kam unter dem Körper hervor, auf dem Fliegen kletterten. Sie habe die Augen fest zugemacht, zu spät. Es ist jetzt eine schwere Zeit für sie und ihre Familie. Ich erzählte ihr von Filmen, die ich gesehen hatte, auf meinem Bildschirm unter dem Dach. Tausende Kinder, Frauen, Männer, die vor IS-Schergen in die Berge flüchteten, ohne Wasser und Nahrung. Natürlich kannte sie alle diese Bilder. Ich sagte, ich wäre beinahe sicher, dass die Art und Weise, wie ich flüchtende, leidende Menschen auf Bildschirmen betrachte, von der Art der Fernrohrbeobachtung sei. Sie antwortete unverzüglich, leise Stimme. — stop