nordpol : 0.58 — Ich notierte: Vielleicht ist das so, dass sich die Seele eines Ortes, beispielsweise die Seele eines Fährschiffes, auf Wörter überträgt, wenn diese Wörter an dem Ort, von dem sie erzählen, geschrieben werden während einer längeren Zeit der Beobachtung. Ich sehe, was ich nicht erfinden kann. Oder ich erfinde, was ich nur hier erfinden kann. Ja, so könnte das sein. South Ferry. Hurricane Deck. Zitterndes, schepperndes Brummen. Obwohl Mai, bläst eiskalter Wind durch eine halbgeöffnete Tür ins Innere des Schiffes. Ein Mädchen, das unentwegt leise spricht, hüpft über den hölzernen Boden des Decks. May i have your attention, please. The Ferry is docking shortly. Die Stimme des Mädchens, die kaum hörbar ist, aber sichtbar, spricht die Sätze der Maschinenstimmloops nach. Sie lacht und eilt, ihre Mutter hinter sich her ziehend, zum Heck des Schiffes, wo sich in diesem Moment das Land dem Schiff durch die Dunkelheit in Gestalt einer eisernen Brücke entgegen faltet, Trompetengeräusche, wimmerndes Metall, Klänge, die das lachende Mädchen imitierend zu übertönen sucht. Ein paar Möwen, die dicht über dem Schiff kreisen, verrenken ihre Köpfe, als ob sie dem Mädchen zuhören würden. — stop
Aus der Wörtersammlung: geräusche
sekundenseide
sierra : 3.15 — Geschichten, die in Sekundenschnelle als Möglichkeit erscheinen, ihr Ursprung, ihre Entdeckung, in dem Moment, da ich meine Augen schließe, so plötzlich, dass ich ihre Anreise nicht bemerke, die Geschichte von den Papieren und ihren Geräuschen in einem U‑Bahnwagon beispielsweise, eine Summe von Wahrnehmung, von Erfahrung, von neuronalen, unbewussten Aufnahmen, das murmelnde Gespräch der Menschen unter dem Schepperschirm einer Blechkiste, die von Coney Island aus nordwärts fährt, der Eindruck, dass Menschen mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Ein oder zwei Minuten von Ruhe, dann, plötzlich, blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Waggon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, sodass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung, eine Sekunde, die nicht vergisst. — stop
von marienkäfern und wodka
tango : 2.00 — Vor drei Wochen entdeckte ich in einem Münchener Antiquariat ein schweres Notizbuch DIN A3, in welches ein Mann, der für einige Monate in einem Bergwald lebte, mit winzigen Schriftzeichen Beobachtungen, Erlebnisse, Gedanken verzeichnete. Es muss zur Sommerzeit gewesen sein, das Jahr der Aufzeichnungen wurde nicht vermerkt, auch nicht der volle Name des Mannes, nur sein Vorname, der war Ludwig. Das Dokument umfasst beinahe siebenhundert Seiten, es scheint mehrfach feucht geworden zu sein, da und dort sind zwischen den Blättern getrocknete Wiesenblumen zu finden, die mittels des Buchgewichtes präpariert worden waren, auch habe ich mehrere Ameisen vollkommen leblos aufgefunden, sowie Marienkäfer, die den Anschein erweckten, als würden sie gerade noch versucht haben, auf und davonzufliegen, als sie von einer Buchseite, die umgeblättert wurde, gefangen genommen wurden. Was war es gewesen, das den Mann in den Wald lockte? Vielleicht die Stille und das wunderbare Licht der Höhe? An einem Julitag, es war der 5., folgender Eintrag: Höhe 1258 m. Kein Wind, keine Wolke am Himmel. Ich sitze und beobachte Schafe, wie sie unter mir über eine Wiese spazieren. Wunderbare Geräusche der kleinen Halsglocken. Zum Wodka ist mir heute Morgen eingefallen, dass Menschen existieren, die Wodka bevorzugt in Mineralwasserflaschen füllen. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang der Verkleidung oder des Verheimlichens. Der Wodka ist versteckt, obwohl er sichtbar ist. Das eigentliche Versteck ist die Methode der Behauptung, etwas anderes zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Mixturen, die üblicherweise an Arbeitsplätzen zur Anwendung kommen. Eine Thermoskanne ist Aufenthaltsort einer guten Begründung, diese Begründung besteht aus der Flüssigkeit des Kaffees. In diese Begründung ist das Eigentliche, der Cognac, eingewickelt. — stop
uhrwerke
alpha : 2.05 — Im Traum betrete ich ein Zimmer, das vollständig weiß ist und voll hellem Licht. Nichts zu hören. In der Mitte des Zimmers sitzt ein unbekleideter Mann auf dem Boden, seine Haut strahlt beinahe so hell wie die Wände, der Boden und die Decke des Zimmers. Der Mann scheint zu schlafen, seine Augen sind geschlossen. Obwohl ich auf Zehenspitzen gehe, mache ich Geräusche, aber ich kann nicht sagen, ob der Schlafende mich wahrnehmen kann. Im Näherkommen vernehme ich ein Rauschen, das von dem Mann unmittelbar auszugehen scheint. Einen Schritt später entdecke ich tausende Uhren in der Größe der 5 Centmünzen. Sie liegen unmittelbar unter der Haut des Mannes geborgen, Sekundenzeigerschatten kreisen dort, tausende Zeiger, eine eigentümliche Erscheinung, als würde die Haut des Mannes leicht angehoben sein, als würde sie über seinem Körper schweben, sich frei bewegen. Die Uhren im Übrigen zeigen unterschiedliche Zeiten an. So konzentriert ich auch suche, ich kann kein Prinzip entdecken, das die Zeiten der Uhrwerke regelt. Selbst unter den Augenlidern des Mannes bemerke ich Uhren. Ich schlafe dann ein im Traum. — stop
von teefliegen
india : 3.22 — Seit Stunden sitze ich wieder einmal im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern nämlich gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, sie schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
the look of silence
papa : 0.45 — Als ich gestern Abend den außergewöhnlichen Dokumentarfilm The Look of Silence betrachtete, ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Meine Schnecke Esmeralda stürzte nämlich aus 1 Meter Höhe von der Wand auf den Fußboden, woraufhin ich die Schnecke vorsichtig in die Hände nahm und nach möglichen Schäden suchte. Als ich die Schnecke kurz darauf wieder vor die Wand setzte, als Esmeralda nach weiteren 2 Minuten erneut von der Wand stürzte, stoppte ich den Film und überlegte, ob meine Schnecke möglicherweise krank geworden sein könnte. Indessen kletterte Esmeralda, wie unter einem Zwang, zum dritten Mal die Wand hinauf, dieses Mal jedoch fiel sie nicht auf den Boden zurück. Besorgt verfolgte ich ihre Bewegung mehrere Minuten lang, alles ging so lange gut, bis ich die Betrachtung des Filmes fortsetzte. Nach einigen weiteren Versuchen ist nun Folgendes zu berichten. Esmeralda reagiert scheinbar auf Geräusche, die der Film erzeugt. Ich nehme an, meine Schnecke wird von Rufen der Zikaden, welche im Film immer wieder über längere Zeit zu hören sind, müde, sie schläft ein, sie vergisst sich sozusagen, ihre Lage an der Wand, die gefährliche Tiefe unter ihr. Eine erstaunliche Beobachtung. Ich habe bisher nicht darüber nachgedacht, ob Schnecken über ein Hörvermögen verfügen, es ist denkbar, dass Schnecken über ein Körperhautohr gebieten. — stop
schnee
olimambo : 2.22 — Ich hörte das Geräusch einer scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand wollte mich wecken, obwohl ich doch bereits wach geworden war. Ich spazierte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte, ich hatte über das Geräusch schon einmal notiert. Ich erinnerte mich zunächst an meinen Text und dann an den Ursprung des Geräusches, das ich hörte, oder war es vielleicht genau andersherum gewesen? Das Geräusch meiner Erinnerung kam von einem Glöckchen her, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht worden war, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. Heute Schnee, sehr leise. — stop
5 stunden
nordpol : 10.22 – Ich beobachte das Fernsehgerät. Eine Reporterin des amerikanischen Fernsehens berichtet aus St. Denis, einer kleineren Stadt nordöstlich der größeren Stadt Paris. Sie erzählt in Echtzeit fünf lange Stunden lang. Die Sendung beginnt gegen 4 Uhr morgens, da ist es noch dunkel am Himmel, aber eine Straße der kleineren Stadt wird hell erleuchtet von Blaulicht und Scheinwerfern der Kameras, die nach Bildern und Geräuschen eines schweren Kampfes suchen. Schüsse sind zu hören, rhythmisch, drei oder vier dumpfe Detonationen. In Hauseingängen, vor Straßenecken, auf einer Kreuzung warten Polizisten und Soldaten, sie bewegen sich so, als wäre tiefster Winter, sie scheinen überhaupt nervös zu sein. Hinter der Flucht alter Häuserfassaden, die auf dem Bildschirm in einer scheinbar unverrückbaren Einstellung zu sehen ist, tobt dieser Kampf, das ist sicher, es heißt, eine Frau habe sich mittels eines Sprengstoffgürtels getötet, von Festnahmen wird berichtet, Namen junger, berühmter Terroristen werden postuliert. Weil doch nur selten hörbar geschossen wird, werden etwas später, es ist Tag geworden, hell, immer wieder Szenen einer Zeit auf den Bildschirm gespielt, als noch Dunkel war am Himmel, als noch geschossen wurde, sodass alle es hören konnten, die gerade erst wach geworden sind. Gestern erzählte mir Nasrin, die in einem Café am Flughafen arbeitet, ein Kollege deutscher Muttersprache habe sie gefragt, ob M., ein weiterer Kollege, vielleicht sich freuen würde, dass in Paris so viele Menschen getötet worden seien. Sie habe geantwortet, er solle M. doch selbst befragen, woraufhin der Kollege deutscher Muttersprache gesagt habe, ihm würde M. ja doch niemals die Wahrheit sagen. Da habe sie nicht weitergewusst, sie habe den Wunsch gehabt, sofort einzuschlafen oder aufzuwachen. – stop
sarajevo
alpha : 2.12 — In meiner Vorstellung wurde ein dreijähriger Junge von seiner Mutter in einem Kinderwagen über eine Straße geschoben. Die Mutter, die zunächst vorsichtig ging, um das Kind nicht zu wecken, beschleunigte plötzlich ihre Schritte, nach wenigen Sekunden spurtete sie eine Häuserwand entlang, sie hatte das Kind aus dem Kinderwagen gehoben und trug es jetzt in ihren Armen, während sie etwas seitwärts lief, sie war geschickt in dieser Art und Weise zu laufen, sie schützte das Kind mit ihrem Körper vor Projektilen, die von einem Scharfschützen, einem Sniper, auf den Weg gebracht worden waren, um sie und ihr Kind ums Leben zu bringen. Irgendwo, irgendwann muss ich einen Film gesehen haben, der eine Szene wie die vorgestellte Szene zeigte. Unlängst sprach ich mit einem jungen Mann, der sich in meine geschilderte Vorstellung harmonisch einfügen würde, ich kenne ihn seit längerer Zeit, er war tatsächlich Kind gewesen in Sarajevo während der Belagerung der Stadt. Einmal, als etwas Zeit war zu sprechen, fragte ich ihn, wie diese Jahre damals für ihn gewesen waren, ob er sich erinnern könne. Er schaute mich freundlich an und lachte. Als ich meine Frage wiederholte, sagte er, dass er über diese Zeit noch nie gesprochen habe. Ich fragte ihn, ob er vielleicht noch nie mit einer Person wie mir gesprochen habe, die die Belagerung, die Erschießung von Menschen damals, als er noch ein Kind gewesen war, auf einem Fernsehbildschirm beobachtet hatte. Er antwortete, nein, er habe überhaupt noch nie, mit niemandem, mit keinem Mensch also über diese Zeit, deren Geräusche er kenne, gesprochen. Seine Mutter habe den Krieg überlebt, seine Schwester, die ein Jahr älter als er selbst gewesen war, sei gestorben. Und wieder lachte er, und dann klopfte er mir auf die Schulter, und ich stellte keine weitere Frage. — stop
oqaatsut
himalaya : 2.03 — Gestern erreichte mich eine Nachricht Opalkas. Er meldete sich aus einem grönländischen Städtchen, welches an der Westküste der Insel liegt. Er notierte: Lieber Louis, bei dichtem Schneetreiben mit Propellerflugzeug in Oqaatsut eingetroffen. Fischer Roon, der mich vom Flugplatz abholte, erzählte, es sei glücklicherweise nicht wirklich Winter geworden, — 7 °C, heftige Winde vom Meer, viel Schnee, haushohe Wehen, fast dunkel. Gegen Abend zu, im Schein der Lampen einer Schneeraupe, besuchten wir einen Strand. Unter der dichten Haut von feinem Schnee waren noch Spuren eines gestrandeten Wals zu erkennen, Rudimente seines Schädelknochens, Teile der Wirbelsäule. Das Eis weit draußen, das sich heftig bewegte, donnerte zu uns herüber, es ist wunderbar, der Boden zitterte und mein Atem pulsierte unter dem Eindruck zarter Luftdruckwellen. Ich werde Dir in den kommenden Tagen eine Tonaufnahme der Eismeergeräusche anfertigen, auch Du wirst vermutlich begeistert sein. Lidvien, die im Magen des Wals jenen Rechner entdeckte, den ich für Dich untersuchen werde, wird bald eintreffen. Sie soll das Gerät bereits geöffnet und eine Indizierung der Dateien vorbereitet haben. Bald Nacht, lieber Louis, wünsch Dir eine gute Zeit, freu mich, dass J. bald wieder aufwachen wird. Dein Opalka. — stop