Aus der Wörtersammlung: mittag

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herzgeschichte

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oli­mam­bo : 0.02 — Das wei­ße Papier ist nie­mals leer. Die­sen Satz habe ich ges­tern Nach­mit­tag gegen 15 Uhr genau so notiert, wie er hier ver­zeich­net ist. Ich saß am klei­nen See im Pal­men­gar­ten und dach­te an Her­zen und sol­che Din­ge, und als ich den Satz eine Stun­de spä­ter noch ein­mal gele­sen habe, konn­te ich nicht sagen, war­um ich den Satz eigent­lich auf­ge­schrie­ben hat­te. Das war ein merk­wür­di­ger Moment gewe­sen, die­se Sekun­de, da ich bemer­ke, dass ich einen Satz, den ich selbst aus­ge­dacht, nicht erken­nen konn­te. Trotz­dem gefiel mir der Satz. Ich hat­te den Ein­druck, dass es sich um einen wah­ren Satz han­deln könn­te, und dass ich nur abwar­ten müs­se, bis sich sein fei­nes Wesen zei­gen wird. Und so lau­sche ich nun also. Irgend­et­was brummt in mei­ner nächs­ten Nähe. Däm­me­rung. Und ich stel­le mir vor, wie gut es doch wäre, wenn Men­schen für eine gewis­se Zeit ihre Her­zen tei­len könn­ten. Man mel­det sich zum Bei­spiel in einem Hos­pi­tal. Guten Abend, sagt man, guten Abend, wir haben heu­te Nacht etwas Zeit, mein Herz und ich. Und dann fährt man unver­züg­lich los, man fährt durch die Stadt und ihre Lich­ter und Düf­te und legt sich sehr bald zu einem Men­schen, des­sen Herz schwach gewor­den ist, ver­bun­den liegt man Stun­den still.

ping

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luftlaufen

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pupil­le : 0.02 — Ges­tern Nach­mit­tag im Regen durch den Pal­men­gar­ten spa­ziert. Saß bald unter dem Schirm gut ver­packt auf einer Bank am See und las in einer Samm­lung fei­ner Tex­te, die Anton Tschechow in sei­ner per­sön­li­chen Aus­ga­be der Selbst­be­trach­tun­gen Marc Aurels vor lan­ger Zeit ein­mal mar­kiert hat­te. Dort fol­gen­de Bemer­kung: Du musst Dich dar­an gewöh­nen zu den­ken und zu han­deln, als sei das Ende Dei­nes Lebens schon da. Und ich dach­te, es ist genau so, dass zwi­schen dem vor­ge­stell­ten Ende des eige­nen Lebens und dem tat­säch­li­chen Ende, des­sen Zeit­ort unbe­kannt, des­sen Nahen von Tag zu Tag wahr­schein­li­cher wird, schma­le oder noch brei­te Ste­ge von Hoff­nung, von Unkennt­nis sich befin­den, auf wel­chen ich mich bewe­gen kann, lang­sam, nach­denk­lich, oder in Tanz­schrit­ten, glück­lich, über­mü­tig und ver­we­gen. – Wie­der der Ver­such, die Tropf­ge­räu­sche des Regens zu zäh­len. Nichts könn­te beru­hi­gen­der sein. — stop
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schneekamille

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nord­pol : 0.02 — Dei­ne schnee­wei­ße Hand, die an einem Som­mer­nach­mit­tag auf mei­nem Unter­arm liegt. Wir wan­dern durch einen Wald. Klein bist Du gewor­den und leicht, und ich gehe, Du führst mich, mit geschlos­se­nen Augen neben Dir her. Und plötz­lich bist Du nicht mehr da. Ich sehe Dich, unsi­cher Dei­ne Schrit­te über das Moos. Und wie Du kniest vor den lich­ten Blu­men unse­rer Wie­se. Dei­ne wei­nen­de Stim­me. Dein Kla­gen ohne Wor­te. Dein Schrei­en gegen den Him­mel. Dein Beben in mei­nen Armen. Und wie Du flüs­terst: Ich will nicht ster­ben. - Dann ist Nacht wie an vie­len Tagen Nacht gewor­den. Ich ste­he im hal­ben Dun­kel Dei­nes Zim­mers, so still, so still, und lau­sche nach Dei­nem Atem, sit­ze und lese und schau Dich an. Dei­ne lächeln­den Augen im Schlaf, der süße Him­beer­duft des Mor­phi­ums, das Schnur­ren der Sau­er­stoff­ma­schi­ne, Dein Seuf­zen, und wie Du wach gewor­den bist, Dein Blick für mich, wie Du mit Dei­nen tie­fen Augen vom Wun­der des Lebens erzählst. Nie wie­der, erin­nerst Du Dich, haben wir vom Tod gesprochen.

für marik­ki im himmel

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vom verschwinden

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del­ta : 0.15 — Ein­mal, an einem Spät­som­mer­nach­mit­tag, erzähl­te mir eine älte­re Frau von einer selt­sa­men Erfah­rung, die sie gemacht hat­te, nach­dem ihre Schwes­ter uner­war­tet gestor­ben war. Zwei Jah­re lag die­ser schwe­re Ver­lust damals zurück. Die Schwes­ter hat­te sich kurz nach ihrem Tod, auf eige­nen Wunsch hin, in ein ana­to­mi­sches Prä­pa­rat ver­wan­delt. Ich erin­ne­re mich an den wil­den Blick der Frau, an ihre zier­li­che Gestalt, wie sie vor mir steht und vom Trau­ern und vom War­ten berich­tet, das heißt, genau­er, davon berich­tet, dass sie um ihre Schwes­ter bis­her nicht trau­ern konn­te, so wie sie sich das Trau­ern gewünscht hat­te, weil der Kör­per ihrer Schwes­ter gegen­wär­tig, noch in die­ser Welt gewe­sen sei. Manch­mal habe sie dar­an gedacht, ihre gelieb­te Schwes­ter zu besu­chen, sie noch ein­mal zu berüh­ren. Wir stan­den vor einer Kir­che. Um uns her­um fröh­li­che, von Last und Anfor­de­rung befrei­te Stu­den­ten. Sie hat­ten ihren ana­to­mi­schen Prä­pa­rier­kurs an die­sem Tag abge­schlos­sen, und den Men­schen, die ihre Kör­per spen­de­ten, betend gedankt. Auch die alte Frau schien nun leich­ter gewor­den zu sein, ent­schlos­sen. — Wie sie sagt, sie kön­ne ihre Schwes­ter jetzt end­lich beer­di­gen. — Und wie sie kurz dar­auf durch die Men­ge jun­ger Men­schen ver­schwin­det, ein Wölk­chen schloh­wei­ßen Haa­res. — stop

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auf dem viktualienmarkt

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oli­mam­bo : 2.10 — Ein Eich­hörn­chen am Nach­mit­tag, wie es durch den war­men Schnee springt. Immer wie­der hält das Tier­chen an, dreht sich nach mir um, betrach­tet mich, als ob es mei­ne Gedan­ken ahnen wür­de. Ein­mal sage ich lei­se zu ihm hin: Fürch­te Dich nicht! Ich jage nur mit dem Kopf. – Das war auf dem Mün­che­ner Vik­tua­li­en­markt gewe­sen vor weni­gen Stun­den. Die Tage nun län­ger, bald wird Früh­ling und Men­schen und das Bier und der Kaf­fee wer­den in Strö­men flie­ßen. Wie­der, wie so oft schon, wenn ich von Bude zu Bude lau­fe und mei­ne Nase in den Gewürz­wind ste­cke, schau ich nach dem Ach­tern­busch, Her­bert. Würd’ gern ein­mal ein paar Wor­te mit ihm wech­seln. Ges­tern war von ihm nichts zu sehen gewe­sen, wes­halb ich ganz ein­fach an ihn gedacht habe, an eine Film­se­quenz, deren Besich­ti­gung mich um ein Haar das Leben gekos­tet hät­te. Her­bert Ach­tern­busch in einem Tier­haus des zoo­lo­gi­schen Gar­tens Hel­la­brunn. Er steht unter einem Faul­tier, das unbe­weg­lich, und zwar sehr lan­ge Zeit, an einem Ast hängt. Der Dich­ter bewun­dert die Klau­en des Tie­res und auch die Natur, was sie so macht. Kurz zwin­kert das Faul­tier mit den Augen. Und Ach­tern­busch ruft: Ja, da schau her, du bist ja ein Schein­schlaf­tier! – Guten Mor­gen, gute Nacht! — stop

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coltrane coltrane

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nord­pol

~ : louis
to : Mr. jona­than noe kekkola
sub­ject : COLTRANE COLTRANE

Ich habe von Ihnen geträumt, mein lie­ber Kek­ko­la, ges­tern habe ich von Ihnen geträumt. Kein Wun­der, wenn man so vie­le Tage an einen Men­schen denkt und war­tet und war­tet, dann fül­len sich die Näch­te mit den Schat­ten der Wachtraum­ge­dan­ken. Sie sam­mel­ten blaue Bee­ren im Schnee. Und da war ein Fisch mit Flü­geln, er lag still zu Ihren Füßen und dampf­te. Nach­mit­tags, jen­seits mei­nes Trau­mes, habe ich mit einer Ver­sor­gungs­sta­ti­on im Bear Mt. Sta­te Park tele­fo­niert. Man sag­te mir, dass Schnee bis­her nicht gefal­len sei. Von Ihnen hat­te man auch nichts gehört. Man wird nun mei­ne Bit­te um einen Anruf an Sie wei­ter­ge­ben, sobald Sie dort ein­ge­trof­fen. Nur für den Fall, Jona­than, dass Sie nicht in der Lage sein soll­ten, zu lesen, was ich notie­re. Darf ich Ihnen sagen, dass ich ein sehr fei­nes Weih­nachts­ge­schenk für Sie erstei­gern konn­te. Eine sel­te­ne Live­auf­nah­me John Coltrane’s aus den 60er-Jah­ren. Hal­ten Sie die Ohren steif, mein Lie­ber. Ich freu mich, Sie in Zei­ten der Kirsch­baum­blü­te wie­der­zu­se­hen. – Ihr Louis.

gesen­det am
10.12.2009
22.58 MEZ
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lou­is to jonathan
noe kekkola »

 

ping

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perugia

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bamako : 0.02 — Ges­tern Nach­mit­tag, bei gro­ßer Hit­ze auf einer Wie­se lie­gend, fünf Zitro­nen­fal­ter beob­ach­tet, die sich höchst merk­wür­dig benah­men. Sie wir­bel­ten nicht, wie üblich, spie­lend und wer­bend umein­an­der her­um, ein Fal­ter viel­mehr flog unter dem ande­ren Fal­ter dahin, als ob sie ein­an­der Schat­ten spen­den woll­ten, eine Flug­schu­le, sagen wir, kunst­voll in die­ser Art und Wei­se. Einen Moment dach­te ich, dass die Son­ne mög­li­cher­wei­se mein Gehirn so weit erwärmt haben könn­te, dass es die Wirk­lich­keit vor mei­nen Augen gestal­te­te, wie es ihm gera­de pass­te. Aber ich hat­te doch einen Hut auf dem Kopf und ich erin­ner­te mich rasch an eine Mel­dung, Segel­fal­ter der Gat­tung Iphicli­des poda­li­ri­us 5 hät­ten sich in einem zen­tra­len Park der Stadt Peru­gia in ähn­li­cher Wei­se ver­hal­ten, und zwar im Herbst, noch nicht lang her. — Wer­de an die­sem Sonn­tag früh mit küh­lem Kopf von der Nacht in den Gar­ten mei­ner Beob­ach­tung zurück­keh­ren und nach­se­hen, ob wir bei Ver­stand geblie­ben sind.
lizzard

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murmansk

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romeo : 0.15 — Ich war im Zug ges­tern Abend in Mur­mansk gewe­sen. Am Hafen saß ich, und das Eis auf dem sich sanft bewe­gen­dem Meer schin­del­te zu mei­nen Füßen. Ein ros­ti­ges U‑Boot war da noch und jun­ge Matro­sen, sie spiel­ten mit Äpfeln und wink­ten. Indem ich so war­te­te und die Geräu­sche des Eises und die Stim­men der See­leu­te bewun­der­te, flat­ter­ten Koli­bris um mei­nen Kopf her­um. Sie tru­gen win­zi­ge Pelz­müt­zen und Pelz­ja­cken und ihre Flü­gel brumm­ten in der glas­kla­ren Luft nor­di­scher Mit­tags­stun­de. Dann wach­te ich auf, fuhr in einer Stra­ßen­bahn spa­zie­ren, öff­ne­te mei­nen Kof­fer und schon ist Mit­ter­nacht gewor­den. Ob ich viel­leicht noch immer schla­fe, noch immer träu­me? — stop

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elephantisland

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echo

~ : rob salter
to : louis
sub­ject : ELEPHANTISLAND
date : june 2 09 8.58 p.m.

Kurz nach acht Uhr. Kal­te, tro­cke­ne Luft, ich notie­re mit klam­men Hän­den. Um 7 Uhr heu­te Mor­gen haben wir bei stür­mi­scher See Ele­phan­tis­land erreicht. Suche nach Mil­ler unver­züg­lich auf­ge­nom­men. Süd­west­li­che Bewe­gung die Küs­te ent­lang. Gegen 9 Uhr ers­te grö­ße­re See­ele­fan­ten­grup­pen gesich­tet. Hef­ti­ger Schnee­fall. Mit­tags dann auf mensch­li­che Spu­ren gesto­ßen. Eine Mul­de von zwei Fuß Tie­fe im gro­ben Unter­grund, hüft­ho­her Stein­wall nord­wärts. Im Wind­schat­ten: drei gebleich­te Wal­kno­chen, ein hal­bes Duzend fin­ger­di­cker Haut­stü­cke, ein Kamm, zwei ros­ti­ge Kugel­schrei­ber, eine Blech­t­as­se, zwölf Pin­gu­in­schnä­bel, fünf Bat­te­rien, drei Klum­pen ran­zi­gen Fet­tes, Bruch­stü­cke eines Son­nen­kol­lek­tors und einer Schreib­ma­schi­ne. Das Werk­zeug war in einer Wei­se sorg­fäl­tig demo­liert, als sei eine Dampf­wal­ze dar­über hin und her gefah­ren. Dann wei­te­re zehn Minu­ten die Küs­te ent­lang, dann auf Mil­ler gesto­ßen. Der Dich­ter stand mit dem Rücken zu einem Fel­sen hin und rich­te­te ein Mes­ser gegen einen See­ele­fan­ten. Das Tier, das sehr gewal­tig vor unse­rem Mann in den Him­mel rag­te, war nur noch zwei Armes­län­gen ent­fernt und scheu­er­te mit dem Rücken über den Fel­sen. Eigen­ar­ti­ge Geräu­sche. Geräu­sche wohl der Lust. Geräu­sche, als habe das Tier eine ver­beul­te Trom­pe­te ver­schluckt. Geräu­sche auch von Mil­ler. Hel­le Geräu­sche, krei­schen­de, irre Töne. Wir haben zu die­sem Zeit­punkt das Fol­gen­de über Mil­ler zu sagen: Unser Mann ist ent­kräf­tet und stark ver­schmutzt. Zwei Fin­ger der lin­ken Hand sind erfro­ren. Kopf­wärts wan­dern­de Spu­ren von Dehy­dra­ti­on. Mil­ler spricht nur einen Satz: All for not­hing. Wir haben den Rück­weg ange­tre­ten, indes­sen, bei genaue­rer Betrach­tung unse­rer Umge­bung, auf Fels­for­ma­tio­nen ent­lang der Küs­te Frag­men­te von Zei­chen­ket­ten ent­deckt. Ein­deu­tig Mil­lers Hand­schrift. Brin­gen Dich­ter Mil­ler jetzt nach Hause.

ein­ge­fan­gen
22.57 UTC
1817 Zeichen

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hilde domin

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romeo : 22.02 — Atem­los eine Kame­raluft­rei­se der jun­gen Fil­me­ma­che­rin Anna Dit­ges beob­ach­tet. Zwei Jah­re lang film­te sie ihre Begeg­nun­gen mit Hil­de Domin. Als ich mei­ne Fern­seh­ma­schi­ne aus­schal­te­te, war ich voll Glück und Freu­de, und ich dach­te, dass ich mich ver­mut­lich ver­liebt habe, in den Film, in die jun­ge Fil­me­ma­che­rin, oder nein, ich glau­be, ich habe mich in Hil­de Domin ver­liebt. Und wie ich die­se Zei­len gera­de schrei­be, den­ke ich, dass Hil­de Domin, soll­te sie mir über die Schul­ter sehen, viel­leicht sagen wür­de: Aber das geht doch nicht, das ist unhöf­lich, so nah her­an­zu­kom­men. – Ich saß im Park am Nach­mit­tag, folg­te einer Spin­ne, die auf Buch­sei­ten turn­te und las in Hil­de Dom­ins Gedich­ten: Wer es könn­te / die Welt / hoch­wer­fen / dass der Wind / hin­durch­fährt. Ihre von der Zeit gezeich­ne­te Hand, die im Film genau die­se Zei­len mit einem Blei­stift auf ein Blatt notier­te. Wie sie sagt zur jun­gen Frau hin­ter der Kame­ra: Wir sehen uns ger­ne an, weil wir uns mögen. — stop

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