delta : 18.01 UTC — Einmal spazierte ich an einem frostigen Tag im Schnee unter dem Papierlichthimmel, als ich auf einer Lichtung im Wald stehend im Unterholz einen Bus von gelber Farbe entdeckte. Der Bus war da und dort von Moos bedeckt, auch von Blättern der Buchen, die in seiner Nähe wuchsen. Auf der Haube des Motors lag ein halber Meter Schnee, in der Mitte dieser Mütze von Schnee ein kreisrundes Loch, dessen Rand vereist zu sein schien. In dem Moment als ich mich gerade herumdrehen wollte, um weiterzugehen, beobachtete ich eine Blaumeise, die sich dem Bus näherte, sie verschwand im Schnee. Kurz darauf landeten ein Rotkehlchen sowie ein Dompfaff auf der Motorhaube des Busses und tauchten auf demselben Wege wie die Blaumeise unter. Ich ging zurück und spähte in das Innere des Busses, ein erstaunlicher Anblick. Es war an einem späten Nachmittag gewesen. — stop
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Aus der Wörtersammlung: rand
ai : ÄGYPTEN

MENSCHEN IN GEFAHR : “Seit dem 3. Juli befinden sich Ola al-Qaradawy und ihr Ehemann Hossam Khalaf aufgrund des haltloses Vorwurfs zur Muslimbruderschaft zu gehören in Haft. Bislang hat die Staatsanwaltschaft weder Beweise vorgelegt, die ihre Inhaftierung rechtfertigen würden noch wurde den beiden die Möglichkeit eingeräumt, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung anzufechten. Die Gefängnisbehörden verweigern ihnen Besuche von Rechtsbeiständen und Angehörigen. / Ola al-Qaradawy wird seit ihrer Festnahme im Frauengefängnis Al-Qanater im Gouvernement Qalyubia festgehalten. Sie ist in in einer sehr kleinen Einzelzelle untergebracht, die nur etwa 160 cm auf 180 cm misst und weder ein Bett noch eine Toilette hat. Außerdem sind Belüftung und Beleuchtung ungenügend. Ihr wird jeden Morgen ein einziger täglicher Toilettengang von nur fünf Minuten gestattet. Somit sieht sie sich gezwungen, ihre Nahrungsaufnahme einzuschränken, um nicht auf die Toilette gehen zu müssen. Rechtsbeistände, die Ola al-Qaradawy am 5. November im Büro der Oberstaatsanwaltschaft für Innere Sicherheit sahen, berichteten Amnesty International, dass sie während der ersten vier Tage im November mit einem Hungerstreik gegen ihre Inhaftierung und die schlechten Haftbedingungen protestiert hatte. / Hossam Khalaf ist inzwischen aus der Einzelhaft in eine Gemeinschaftszelle verlegt worden. Er wird im Hochsicherheitsgefängnis Tora am Rande der Hauptstadt Kairo festgehalten. Obwohl er bereits seit seiner Inhaftierung an Augenschmerzen leidet, lehnt die Gefängnisleitung seinen Antrag weiterhin ab, sich entweder im Gefängnisspital oder auf eigene Kosten in einem Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses untersuchen zu lassen. - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 11.1.2018 unter > ai : urgent action
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ein taucher
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nordpol : 10.12 — Ich hörte, auf Grönland soll in einer Siedlung nördlich des Polarkreises ein Mann existieren, der trainiert wurde, in Walfischkörpern zu tauchen. Sobald sorgfältigste Untersuchung eines gestrandeten Tieres notwendig werden sollte, würde jener Walfischtaucher unverzüglich zur Arbeit gerufen. Ich stelle mir vor, wie der Mann in einen Neoprenanzug gehüllt, mit einem flachen Sauerstoffgerät ausgerüstet, einer starken Lampe, zwei äußerst scharfen Messern, sowie einem angespitzten Helm ausgerüstet, am Strand ruhende Leichname besucht, die möglicherweise noch warm sind. Ein fast lautloser Vorgang. Der Taucher verschwindet vollständig, arbeitet sich Zentimeter um Zentimeter schneidend durch den Körper voran. Vielleicht wird seine Stimme zu hören sein, eine Funkstimme, die bisweilen meldet, dass er sich gut fühle, dass er das Herz des Wales bald erreichen werde, das ist denkbar. — stop
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sturm
romeo : 15.01 UTC — Im Zug saßen zwei alte Damen, es war Herbst, sie waren unterwegs an die Nordsee, erzählten von Spaziergängen am Strand, von wandernden Dünen, vom Wind, der sehr heftig werden sollte in den Tagen, die sie am Meer verbringen würden. Du bist leicht, sagte die eine Dame zur anderen Dame. — Ja, ich habe noch ein wenig abgenommen. — Vielleicht wirst du davonfliegen? — Ja, ich werde vielleicht vom Sturm erfasst, Du musst mich dann festhalten. — Dann fliegen wir beide davon. Wir sollten unsere Sturmschuhe tragen. — Ja, wir sollten unsere Sturmschuhe tragen. - Während sie sprachen, hielt eine der beiden Damen einen kleinen Hut fest, den sie auf dem Kopf trug, als ob schon ein Wind gehen würde im Abteil. Eine Weile sahen sie aus dem Fenster. Na so was, sagte die Dame mit dem Hut. Wieder sahen sie aus dem Fenster. Wiesen zogen vorüber, es war etwas nebelig draußen. — stop
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zweite nachricht von den vasentieren
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xylophon : 12.08 UTC — Vasentiere verfügen am Rande ihrer Behälterwanne über zwei Augen einerseits, ein System filigraner Röhren zum Atmen andererseits. Beine haben sie nicht, weil sie stationäre, im Idealfall schwebende Lebewesen sind. Wenn man mich nun fragte, warum Vasentiere in meinem Geist überhaupt existieren, würde ich vielleicht sagen: Nun, weil ich bereits vor längerer Zeit an Vasentiere dachte, auch weil sie sehr nützlich sind, weil sie über das Vermögen verfügen, kleinste Mengen Wassers noch aus trockenster Luft zu gewinnen, weswegen sie sehr gefragt sind, man möchte sie besitzen, um nach Ursachen ihrer erstaunlichen Begabung zu forschen, die vermutlich Bestimmung ist. Indessen wurden Vasentiere in ihrer natürlichen Umgebung auch in großen Höhen angetroffen. Sie sind dort winzig, in Regenwäldern hingegen von erheblicher Größe. Sprechen im Übrigen können Sie nicht, aber denken und hören, weil sie in je spezifischer Weise ihre Augen bewegen, sobald man sie mit Sprache konfrontiert. — stop

sisulu
delta : 6.15 UTC — In der vergangenen Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich war in der Dämmerung mit meinem Trompetenkäfer abends spazieren im Palmengarten. Die Luft duftete nach Flieder, obwohl schon Juni geworden war. Der Käfer, dem ich kurz nach seiner Entwicklung den Namen Sisulu 8 gegeben hatte, hockte auf meiner rechten Schulter, weswegen ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen Fuß setzte, weil ich natürlicherweise von der Flugunfähigkeit des kleinen Wesens wusste, er war nicht zum Fliegen ausgedacht, sondern zum Trompetenspielen. Ich ging also ganz langsam nordwärts vorbei an einer wunderbaren Sommerwiese, die von den Schlafgeräuschen der Heuschrecken leise knisterte, erreichte dann nach zwei Stunden langsamen Gehens eine hölzerne Bank am Rande einer weiten Steppenlandschaft, es war schon Nacht geworden. Ich nahm Platz auf der Bank, überschlug die Beine und setzte den kleinen Käfer auf mein rechtes Knie. Unverzüglich begann Sisulu 8 zu spielen in einer Weise, wie ich es vor langer Zeit schon einmal zu beschreiben versuchte. Bald war ich eingeschlafen, ich weiß nicht genau, wie lange Zeit ich geschlafen hatte, als ich erwachte, saß Maceo Parker neben mir auf der Bank. Er hatte sich mit seinem rechten Ohr meinem Knie genähert, ich wagte in diesem Augenblick kaum zu atmen, das muss man sich einmal vorstellen, Maceo Parker auf einer Nachtbank neben mir sitzend, wie er meinem Käferfreund Sisulu lauscht. Es ist jetzt schon bald Morgendämmerung, meine Güte, und ich bin noch immer nicht wirklich wach geworden. — stop
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ai : HAITI

MENSCHEN IN GEFAHR: „Die Menschenrechtsverteidiger David Boniface und Juders Ysemé fürchten nach dem plötzlichen Tod ihres Kollegen Nissage Martyr um ihr Leben. Nissage Martyr starb einen Tag, nachdem die drei in den USA gegen Jean Morose Viliena, den ehemaligen Bürgermeister ihrer Heimatstadt in Haiti, Klage wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen eingereicht hatten. Die Männer berichten seit 2007 von wiederholten Morddrohungen und Angriffen durch den ehemaligen Bürgermeister. Sie müssen daher angemessenen Schutz erhalten. / Am 22. März reichten David Boniface, Juders Ysemé und Nissage Martyr Klage gegen Jean Morose Viliena, den ehemaligen Bürgermeister ihrer Heimatstadt Les Irois im Südwesten von Haiti, bei einem Bundesgericht in Boston im Nordosten der USA ein. Die Klage wurde in den USA eingereicht, weil Jean Morose Viliena Anfang 2009 in die USA geflohen war, nachdem die haitianischen Behörden wegen des Mordes an David Bonifaces Bruder im Jahr 2007 und eines Angriffs auf den Gemeinderadiosender im Jahr 2008 ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet hatten. Bei diesem Angriff verlor Nissage Martyr ein Bein und Juders Ysemé ein Auge. Die drei Männer werfen Jean Morose Viliena vor, dass er für eine Reihe von Angriffen gegen seine Kritiker_innen verantwortlich ist, darunter “Brandstiftung”, “außergerichtliche Hinrichtungen”, “versuchte außergerichtliche Hinrichtung”, “Folter” und “Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Die Verbrechen wurden auf seine Anweisung hin von einer bewaffneten Gruppe verübt, die mit seiner politischen Partei in Verbindung steht. Am 24. März 2017, einen Tag nachdem die Klage gegen Jean Morose Viliena eingereicht worden war, erkrankte Nissage Martyr plötzlich schwer und starb auf dem Weg ins Krankenhaus von Les Irois. Seine Familie gibt an, dass er zuvor ganz gesund war. Mit Hilfe ihrer Rechtsbeistände fordert die Familie eine sofortige unabhängige Autopsie und umfassende Untersuchunge seines Todes. Die örtliche Staatsanwaltschaft hat zwar die Autopsie genehmigt, doch bis jetzt keine Untersuchung aufgenommen. / David Boniface und Juders Ysemé sind Menschenrechtsverteidiger und werden als Unterstützer der Partei Organisation du Peuple en Lutte, einer Oppositionspartei in Haiti, betrachtet. Seit 2007 berichten die beiden Männer und Nissage Martyr, dass Jean Morose Viliena und seine Verbündeten ihnen Morddrohungen schicken und sie tätlich angreifen und versucht haben, sie zu töten, weil sie ihre legitime Arbeit als Menschenrechtsverteidiger ausführen. Im Zuge dessen haben sie das erste Gemeinderadio initiiert sowie die strafrechtliche Verfolgung von Jean Morose Viliena und seinen Verbündeten angestrebt, um der Gewalt in der Gemeinde ein Ende zu bereiten. 2015 gewährte die Interamerikanische Menschenrechtskommission den drei Männern und ihren Familien Schutzmaßnahmen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. David Boniface und Juders Ysemé berichteten Amnesty International, dass die haitianischen Behörden aufgrund der grassierenden Straflosigkeit im Land jedoch nichts unternommen hätten, um diesen Maßnahmen Folge zu leisten. Die beiden Männer sind nach Nissage Martyrs Tod mit ihren Familien aus Les Irois geflohen, da sie um ihre Sicherheit fürchten. Sie gaben an, dass der einzige Weg zu Gerechtigkeit ihre Aussage gegen Jean Morose Viliena sei, doch dass sie ohne angemessenen Schutz fürchten, getötet zu werden, noch ehe sie ihre Aussage machen können.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 24. Mai 2017 hinaus, unter »> ai : urgent action
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transformation : zeit
india : 22.55 UTC — Es ist Abend und ich sitze seit ein oder zwei Stunden im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern erwachte gegen 7 Uhr in der Früh war es schon hell. Eine Libelle, marineblau, balancierte auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte. Sie schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge und nichts Weiteres bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die über die Nacht kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich vor einer halben Stunde einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht wieder zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit einer vollen Stunde und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop

minutenminiatur : schlaflos
nordpol : 8.16 UTC — Um kurz nach sechs Uhr in der Früh berichtet Katharina in einem Laden unter dem Flughafenterminal 1 vor einer Kasse stehend, sie fliege nun seit bald zwei Jahren Langstrecke nach New York und wieder zurück. Eine anstrengende Pendelbewegung, soeben vor einer halben Stunde erst sei sie gelandet, sie liebe die Beobachtung des Sonnenlichts, das in großer Höhe über dem Atlantik während eines Nachtfluges zurück nach Europa im orangefarbenen Zwielicht stets sichtbar am Horizont verweile. An diesem Morgen ist Katharina sehr aufgeregt, sie habe, sagt sie, in den vergangenen zwei Jahren die Stadt New York selbst nie betreten, gestern aber, vor wenigen Stunden, mit einer Kollegin, mit Muriel, vom Flughafen John F. Kennedy aus ein Taxi genommen, um über die Williamsburg Bridge zum ersten Mal in ihrem Leben nach Manhattan zu fahren, drei Stunden Zeit. Sie seien am Times Square gewesen, vor der New York Public Library, im Grand Central Terminal und im Central Park, noch immer spüre sie Spannung, vermutlich könne sie nicht schlafen. — stop
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deep
tango : 0.28 UTC — Ich habe gestern auf der Suche im Internet nach Walfischstimmen ein Mikrofon entdeckt, das sich im Atlantik nahe der grönländischen Küste unter der Meeresoberfläche befinden soll. Folgende Position war zu ermitteln: Statoil Greenland (Ölplattform) 79.056 N / ‑12.538 O. Es handelt sich möglicherweise tatsächlich um Live – Aufnahmen, die von dort gesendet werden, nicht um einen Loop, der vorgibt, Geräusche in Echtzeit zu übertragen. Das atlantische Meer, soviel kann ich nach längerer Beobachtungszeit sagen, knattert und rauscht und tickt und pfeift von Zeit zu Zeit. Ich meinte, buchstäblich Walfischstimmen gehört zu haben, ein berührender Moment. — Ich erinnere mich, einmal gelesen zu haben, dass Buckelwale zur Paarungszeit über eine Sprache verfügen, die einfachen menschlichen Sprachen ähnlich ist. Immer wieder seither die Frage, was ich unter einer einfachen menschlichen Sprache verstehen sollte. Ob eine dieser einfachen menschlichen Sprachen vielleicht geeignet wäre, sich mittels einer Prozedur der Übersetzung von Wal zu Mensch zu verständigen? Wir könnten uns vom Land und von der Tiefsee erzählen. Eine grandiose Vorstellung, wie ich in der Tiefe vor einem Wal schwebe und darauf warte, dass er bald, nach ein wenig Denkzeit, zu mir sprechen wird, etwas also sagen oder singen, das nur für mich bestimmt ist. Vielleicht eine Frage: Wie heißt Du, mein Freund? Oder: Ich hörte von Bäumen! — stop
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