tango : 20.10 UTC — Im Schnellzug heute Morgen beobachtete mich ein Mann von vielleicht achtzig Jahren, wie ich auf meiner flachen Bildschirmschreibmaschine einen Text notierte. Ich hatte die Schreibmaschine quer auf meine Knie abgelegt und schrieb mit fünf oder sechs Fingern recht flink auf einer virtuellen Tastatur. Das war ein fast lautloser Vorgang gewesen, vielleicht deshalb sagte der Mann plötzlich: Früher waren die Schreibmaschinen sehr laut gewesen! Ich hob meinen Blick und lächelte den Mann an. Er fragte sofort weiter: Das ist doch eine Schreibmaschine? Ich nickte. Ja, sagte ich, das ist eine Schreibmaschine und zugleich auch ein Gerät, mit dem ich Texte senden kann und Nachrichten empfangen, sogar morsen könnte ich. — Ich habe früher auch gemorst, sagte der Mann, ich bin auf einem Segelschiff zur See gefahren, da war ich sehr jung gewesen. Er schwieg für einen Moment, dann sagte er: Sie brauchen gar kein Papier, nicht wahr? Ich antwortete: Das ist richtig, im Grunde brauche ich kein Papier. — Was schreiben sie denn? Wollte der Mann wissen. Ich schreibe eine Geschichte, sagte ich. Ist das denn gut, dass sie eine Geschichte ohne Papier schreiben? fragte der Mann. Ich sagte: Darüber muss ich nachdenken. Der Mann lachte: Sie ist wirklich nicht groß, diese Schreibmaschine. Sagen sie, wie viele Geschichten passen denn in diese Schreibmaschine hinein? Ich antwortete: Ich glaube, sehr viele Geschichten, ja, vermutlich unvorstellbar viele Geschichten. — Das ist gut, sagte der Mann, so viele Geschichten, dass sie im Zug sitzen und schreiben können, so lange sie wollen, ohne je aussteigen und eine neue Schreibmaschine kaufen zu müssen. Vorübergehend schaute er zum Fenster hinaus. — stop
Aus der Wörtersammlung: sog
im aufzug
sierra : 22.01 UTC — Stellen Sie sich vor, ich war in einem Aufzug gewesen, der nicht weiterfuhr, weder nach oben noch nach unten, keinerlei Bewegung, eine eigentlich harmlose Geschichte, aber ich war nicht allein in dem Aufzug, wir waren zu fünft, zum Glück nur zu fünft, nicht etwa zu siebt oder zu acht, dann wäre wirklich Ernst geworden. Da waren also ich und vier weitere Personen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, Personen von der Art, von welchen man sagen könnte, dass sie nicht gerade freundliche Menschen sind. Ich würde sogar sagen, sie waren in ihrem Auftreten unhöfliche Wesen, ich kann das beurteilen, ich war der erste in dem Aufzug gewesen, alle weiteren vier Personen kamen etwas später hinzu, traten in die Aufzugkabine herein, ohne zu grüßen. Den ersten Herrn grüßte ich noch, aber bei dem zweiten Herrn war ich schon vorsichtig gewesen, ich grüßte ihn nicht, vielleicht wird der vierte Besucher des Aufzuges demzufolge gedacht haben, was sind das nur für unfreundliche Menschen an diesem Ort, weil wir drei, die vor ihm im Aufzug gewesen waren, uns bereits ärgerten, deshalb entsprechende Gesichter zeigten. Wir hatten kein Glück, so könnte man das vielleicht sagen, auch die Besucher vier und fünf waren keine Frohnaturen, sie traten herein, beobachteten, was da für Menschen sich im Aufzug befanden, und sagten sich vermutlich, wir werden schweigen, weil alle schweigen. Dann blieb der Aufzug also stehen, ohne dass sich eine Tür geöffnet haben würde, das Licht ging aus, auch die Anzeigen der Stockwerke, wir standen im Dunkeln. Unverzüglich holten wir unsere Diensttelefone aus den Taschen, es wurde Licht, fünf Gesichter, die beleuchtet waren, ängstliche Gesichter, weil wir ahnten, dass wir uns nicht mochten, dass wir unfreundliche Menschen waren, die vermuteten, dass sofort oder in Kürze etwas Schreckliches geschehen könnte. — stop
maryland
lima : 9.15 UTC — Vor wenigen Stunden noch auf dem Sofa sitzend, beobachtete ich Esmeralda wie sie sich mir langsam über den hölzernen Boden meines Arbeitszimmers von der Diele her kommend näherte. Immer wieder einmal hielt die kleine Schnecke kurz an, betrachtete Strukturen des Holzes, Wirbel insbesondere, die sie aus irgendeinem Grund für bemerkenswert erachtete. Eine halbe Stunde später war sie bei mir auf dem Sofa angekommen, fuhr sogleich ihre Fühler in den Kopf zurück, um ein wenig zu schlafen. Gegen 22 Uhr weckte ich Esmeralda. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass ich nicht wusste, wie ich Esmeralda präzise ansprechen sollte: Guten Morgen vielleicht, oder doch: Guten Abend! Welche Uhrzeit haben wir, dachte ich, gerade in Maryland? Ich überlegte einige Minuten lang, indessen Esmeralda mich aufmerksam zu betrachten schien. Dann schlief sie wieder ein. — Heute ist der 1. Mai. Regen. Nichts weiter. — stop
bildschirmlicht
himalaya : 7.30 UTC — Erster Twitterfilm: Ein Mädchen, das in Aleppo lebt, sagt: Vielleicht ist es das letzte Mal, dass Sie mich lebend sehen! Das Mädchen scheint in einem Keller zu sitzen. Sie ist zum Zeitpunkt dieser Aufnahme vielleicht acht Jahre alt, vermutlich ist Abend. Der Angriff der syrischen Armee auf die Stadt wird für die kommende Nacht erwartet. — Ein zweiter Twitterfilm: Auf einer Bahre in einem Krankenhaus liegt eine Frau, fahle Haut, sie sieht in die Kamera und sagt: Bitte helfen Sie uns! Im Hintergrund sind Detonationen zu hören. — Ein dritter Twitterfilm: Der junge Mann, der erzählt, dass die Kämpfe in der Stadt wieder zugenommen haben, sieht sich immer wieder um. Er müsse jetzt von der Straße, hier sei es zu gefährlich. Es wird sogleich dunkel auf dem Bildschirm, indem der junge Mann die Linse seiner Kamera mit einer Hand bedeckt. — Ich denke in diesem Moment, dass das Licht der handlichen Filmmaschinen immer näher an mein Leben herankommt, jederzeit mögliches Licht, das auf Servern der Welt auf mich wartet. Ich spreche darüber mit einem Freund, dessen Aufgabe ist, Filme aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet zu analysieren. Ja, soviel mögliches Licht ist in der Welt, sagt N., dass man sich die Seele an diesem Licht schwer verbrennen kann. Er habe vor einem Jahr einen Ruhetag pro Woche definiert, da er seine Computermaschine nicht anschalte. Was machst Du an diesen Tagen, fragte ich. Ich lese, ich gehe mit meiner Lebensgefährtin spazieren, ich liege im Sommer stundenlang neben ihr in einer Wiese und schaue den Wolken zu. Dann wird Nacht und ich sitze morgens wieder vor meinen Bildschirmen und rufe Filmlicht auf, das neu hinzugekommen ist. Da sind zwei Männer, sie halten den Splitter eines Geschosses vor die Kamera ihres Mobiltelefons. Ich stoppe den Film, notiere Schriftzeichen in gelber Farbe, Rudimente, betrachte die Umgebung der Männer, versuche herauszufinden, wo sie sich vielleicht befinden, ob sie sich wirklich dort befinden, wo sie zu sein behaupten, welche Tageszeit. Ich habe Algorithmen entwickelt, der Filmbefragung. Ich werde dadurch schneller. — stop
wörterbilder
echo : 2.12 — In der Stadt Kyiv sollen noch Monate nach der Havarie des Reaktors 4 in Tschernobyl Straße um Straße entlang der Häuserwände perforierte Rohre installiert worden sein, aus welchen Wasser strömte, um das strahlende Gift von den Straßen zu schwemmen. Eine Bekannte erzählte mir von der Existenz dieser Rohre, sie war damals in Kyjiw für einige Tage. Ich kenne dieses Bild, ich erinnere mich, das ein Wörterbild ist, kein Lichtbild, da ich keine Fotografie in der digitalen Sphäre entdecke. Wie lange Zeit sollte ich suchen? Stunden? Oder Tage? Das Wörterbild scheint plausibel zu sein, oder sogar wahrscheinlich. Wie viele Menschen existieren in der Stadt, in der ich lebe, also in meiner unmittelbaren Nähe, die mit dem Tod bedroht werden, weil sie sich Glauben und weiteren Ritualen widersetzen? — stop
wegen unsichtbarkeit
lima : 0.08 — Die kleine M. erzählte, sie habe mit ihrer Mutter fünf Jahre im fünfzehnten Stock eines Mietshauses auf Roosevelt Island gelebt. Dort hatten sie zwei Nachbarn, eine Familie links, puerto-ricanischer Herkunft, Mutter, Vater, drei Kinder, – sowie eine vermutlich alleinstehende Frau in der Wohnung rechts. Während M. und ihre Mutter sehr herzlichen Kontakt zu den Menschen auf der linken Seite ihrer Wohnung pflegten, man feierte sogar gemeinsame Feste, grüßte von Balkon zu Balkon, waren sie jener Frau, deren Stimme häufig schrill durch die Wand zu ihnen in die Wohnung drang, in all den Jahren räumlicher Nähe nie persönlich begegnet. Auch auf dem Balkon, berichtete M., hätten sie die Person, die zu der schrillen Stimme gehörte, nie gesehen, nur das Licht, das von der Wohnung her kam, Licht auch, das unter der Tür hindurch auf den Flur leuchtete, ein schmaler Streifen, fade. Das Schildchen, das neben der Tür zur Wohnung angebracht worden war, behauptete hinter der Tür lebe Lucilla Miller, ein Briefkasten, der zur Wohnung gehörte, existierte vor dem Haus, der Briefkasten wurde von irgendjemandem regelmäßig geleert. Manchmal nachts war aus der Wohnung Streit zu hören, Mrs. Millers keifende Stimme, dann wieder Flüstern, von Zeit zu Zeit auch Geräusche, die möglicherweise aus einem Fernsehgerät kamen, Schritte weiterhin, ferne Schritte. Mrs. Miller telefonierte häufig und jeweils lange Zeit, während dieser Gespräche schien Mrs. Miller herumzulaufen, zwei oder dreimal hatten ihre Nachbarn den Verdacht, sie sei vielleicht verreist, einmal wollte man das Jaulen einer Katze vernommen haben. Eigentlich war alles in Ordnung, eigentlich gab es keinen Grund zur Beunruhigung, wenn man doch Mrs. Lucilla Miller wenigstes einmal gesehen hätte, einen Schatten, oder eine Hand, die hinter den vergitterten Fenstern einer Aufzugstüre winkte. Darum, wohl hauptsächlich, wegen Unsichtbarkeit, wurde an einem eisigen Wintertag jene geheimnisvolle Wohnung von zwei Feuerwehrmännern geöffnet. Die Wohnung war, von zwei Lautsprechern abgesehen, auf welchen eine schäbige Lampe thronte, vollständig leer. Die kleine M. sagte, während sie an ihrem großen Zeh drehte wie an einem Radioknopf, dass sie sich sehr gewundert habe. Auch alle anderen haben sich gewundert, wie natürlich auch ich, der diese Geschichte aufgeschrieben hat. — stop
wildlaborbiene
alpha : 10.58 — Nehmen wir einmal an, eine Untersuchungsmaschine von der Größe einer Wildbiene existierte, ein wanderndes Labor, welches sich aus eigener Kraft innerhalb oder über Körper olympischer Athleten bewegen würde, wäre das nicht eine beruhigende, ja begeisternde Vorstellung, da eine feine Bohrung in Muskeltiefe, dort eine Messung elektrischer Salzwasserströme, stündlich eine Blutprobe, die im Sondenkörper sogleich ausgewertet sein würde, jede erdenkliche Substanz, die unnatürlicher Leistungssteigerung diente, würde unverzüglich entdeckt und per Funksignal gemeldet sein. — stop
lydia
echo : 0.01 — In der Straßenbahn treffe ich eine junge Dame. Ich erkenne sie zunächst nicht, aber als sie mich grüßt, erinnere ich eine Begegnung vor vielen Jahren an derselben Stelle, in einer Straßenbahn. Aus dem kleinen Mädchen, das mich mit einer Bemerkung für den Rest meines Lebens rührte, ist tatsächlich eine junge Frau geworden. Sie sagt, sie habe unser Gespräch, das wir führten, nie vergessen, es handelte von ihren Ohren, von einem Gedanken, der mir zu erklären suchte, weswegen ihre Ohren etwas größer seien als die Ohren ihrer besten Freundin. Das wäre nämlich so, dass ihre Ohren deshalb größer seien, weil sie viel weniger sprechen würde als ihre Freundin üblicherweise. Sie könnte, sagte sie damals, mit ihren Ohren sogar ihre eigene Stimme hören, obwohl sie gar nichts sage. Zum Glück haben meine Ohren inzwischen aufgehört zu wachsen, ich könnte sonst mit ihnen herumfliegen, dann hätten Sie mich vermutlich nie wiedergesehen. Sie lacht jetzt sehr fröhlich. Draußen fällt gerade viel Wasser vom Himmel. — stop
sekundenseide
sierra : 3.15 — Geschichten, die in Sekundenschnelle als Möglichkeit erscheinen, ihr Ursprung, ihre Entdeckung, in dem Moment, da ich meine Augen schließe, so plötzlich, dass ich ihre Anreise nicht bemerke, die Geschichte von den Papieren und ihren Geräuschen in einem U‑Bahnwagon beispielsweise, eine Summe von Wahrnehmung, von Erfahrung, von neuronalen, unbewussten Aufnahmen, das murmelnde Gespräch der Menschen unter dem Schepperschirm einer Blechkiste, die von Coney Island aus nordwärts fährt, der Eindruck, dass Menschen mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Ein oder zwei Minuten von Ruhe, dann, plötzlich, blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Waggon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, sodass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung, eine Sekunde, die nicht vergisst. — stop
pocket george
tango : 2.58 — George schrieb vor wenigen Tagen einen handschriftlichen Brief. Er wende sich mit einer dringenden Bitte an mich, er benötige etwas Geld, weil er im Moment zu wenig davon habe. Seine Telefonrechnung sei ihm über den Kopf gewachsen, außerdem habe er sich bei einem Auftrag für den Druck eines Buches vertippt, er habe anstatt 200 Exemplaren 20000 Exemplare seiner Geschichte vom Walfischorchester bestellt. Diese wunderbare Auflage sei prompt und ohne jede Nachfrage geliefert worden. Während er sich noch wunderte, wie ein Paket nach dem anderen Paket von drei oder vier Männern in seine Wohnung verfrachtet wurde, war bereits ein erheblicher Betrag von seinem Konto abgebucht, sodass er jetzt kaum noch die Möglichkeit habe, sich Brot, Käse oder Wasser zu besorgen, er sei verschuldet bis über beide Ohren hinaus bereits seit drei Monaten. Natürlich habe er gehofft, aber sein Hoffen habe nicht gewirkt, nun seien nicht nur er selbst, sondern auch seine Archive bedroht, die er in digitaler Sphäre auf Position POCKET gesammelt habe. Ihm sei damit gedroht, bei weiterem Zahlungsverzug, sein professionelles Konto unverzüglich in ein nicht professionelles Konto zu verwandeln, seine Daten würden verloren gehen, weswegen er nun sehr verzweifelt sei, nicht nur verzweifelt, sondern müde, er zögere, seinen Computer überhaupt noch mit dem Internet zu verbinden, weil das Internet dann seine Daten sogleich aus seinen Speichern zurückholen würde, er habe nicht geahnt, dass er einmal in eine derart verzweifelte Lage kommen, dass sich das Internet als ein derart gefräßiges Tier darstellen würde, welches seinen Computer, seine Sammlung aus dem Web verschwundener Seiten an sich reißen würde, man kann mit diesen Raubtieren nicht einmal telefonieren, schrieb George vor wenigen Tagen.- stop