marimba : 17.55 — Die folgende Geschichte, oder Teile dieser Geschichte, haben sich in meinem Leben nicht gerade so ereignet, wie ich sie erzählen werde. Ich habe sie mir ausgedacht, das heißt, die Geschichte, die von einer Pizzeria berichtet, ist mir eingefallen, als ich tatsächlich genau diese erzählte Pizzeria besuchte in der Greenwich Street nahe dem Zuccotti Park. Ich war einige Stunden in der Fähre zwischen Manhattan und Staten Island gependelt, hatte Geräusche aufgenommen, fotografiert und über Gerüche notiert. Saß nun auf einem Hocker am Fenster des kleinen italienischen Ladens in der Wärme, aß und trank und schaute auf den Zaun, hinter dem sich unmittelbar das Gelände des World Trade Centers befindet. Ich versuchte mir vorzustellen, wie dieser Ort den Einsturz der riesigen Gebäude überstehen konnte, was in diesen Räumen geschehen war in den Minuten der Katastrophe. Fenster könnten geborsten, Tisch und Stühle vom Luftdruck der Staubwolke durch den Raum geschleudert worden sein. Vielleicht hatten sich Menschen bis hierher geflüchtet, vielleicht waren sie verletzt, vielleicht waren sie an dieser Stelle gestorben, erstickt, erschlagen oder verbrannt. Der kleine Laden jedenfalls hatte sich gut erholt. Keinerlei Spur von der Hölle, die sich in nächster Nähe entfaltet hatte. Auch der Mann hinter dem Tresen wirkte kräftig und gesund, obwohl der Lärm der gewaltigen Baustelle hinter dem Zaun an seinen Nerven gezerrt haben musste. Ich überlegte, ob er Augenzeuge gewesen sein könnte, beobachtete ihn eine Weile, und als er sich einmal näherte, fragte ich ihn. Der Mann musterte mich mit einem schnellen Blick, ohne zu antworten. Bald stand er wieder hinter seinem Tresen, so als wäre nichts geschehen, keine Gegenfrage, kein Versuch, in der Zeit zurückzukommen. Ich konnte in diesem Moment nicht einmal sagen, ob ich tatsächlich gefragt oder mir die Frage nur vorgenommen hatte, auch ob der Mann so lange geschwiegen hatte, bis ich mich der Türe näherte, um auf die Straße zu treten, konnte ich nicht mit Sicherheit behaupten. Seine Stimme in diesem Moment: It was horrible! Dann wieder das Rattern der Motorschrauber. Im Park, im berühmten Zuccotti Park, eine Handvoll Menschen von Polizisten umringt. Keine Zelte, keine Möwen, aber Tauben, Tauben, Tauben. — stop
Aus der Wörtersammlung: wort
downtown south ferry : lorra
nordpol : 0.22 — Elendsmenschen unter Decken, unter Mänteln, unter Kartons verborgene Personenwesen, zerschlagene, gefrorene, eiternde Gesichter zu Tausenden auf der Straße, in Tunnels, Hauseingängen, Parks. Ich kann nicht erkennen, ob sie Frauen oder Männer sind, sie sprechen und bewegen sich nicht, oder nur sehr langsam, als würden sie sich in einer anderen Zeit befinden. Wer noch gehen kann, wer noch über Kraft zu sprechen verfügt, wandert in der Subway, eine äußerst schwierige Arbeit, das Erzählen immer wieder ein und derselben Geschichte: Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich bitte um ihre Aufmerksamkeit! Ich bin Lorra, ich bin 32 Jahre alt, ich bin wohnungslos, ich habe keine Arbeit, ich habe Kinder, wir müssen über den Winter kommen. Von Waggon zu Waggon. Von Zug zu Zug. Stunde um Stunde. Sie nimmt auch zu essen, zu trinken, Papier oder leere Flaschen an. Alles hilft, sagt Lorra, alles hilft. Sie wird nicht verhöhnt, vertrieben oder missachtet, sie bekommt, sooft ich ihr in der Linie 5 downtown South Ferry begegnete, zwei oder drei Dollar überreicht. Abends sitzt sie im Wartesaal der Fähre und schläft. Einmal nähert sich ein Polizist. Lorra war ein wenig zur Seite gefallen. Er spricht sie an, er berührt sie an der Schulter: Mam, ist alles in Ordnung? Aber Lorra antwortet nicht. Ein zweiter Polizist kommt hinzu. Er fragt: Ist sie noch am Leben? Sie richten die schlafende Frau gemeinsam auf. Sie tragen jetzt Handschuhe von Plastik. Sie sprechen so lange leise auf Lorra ein, bis sie die Augen öffnet. Dann macht sie die Augen wieder zu. — stop
south ferry : durchleuchtung
kilimandscharo : 0.15 — Leichter Schneefall, im Bus durch Brooklyn. Ich hatte die Fahrzeit genützt, um Beobachtungen, die ich auf der Staten Island Fähre handschriftlich notierte, in mein Notebook zu übertragen. Mehrfach schrieb ich das Wort Sprengstoff in eine Datei. Abends wartete ich auf das letzte Schiff, das ich an diesem Tag noch nehmen wollte. Ich saß gerade auf einer Bank, als sich einer der Sprengstoffspürhunde, die ich Stunden zuvor noch beobachtet hatte, näherte. Präzise formuliert, näherte sich der Hund nicht mir selbst, sondern meinem Rucksack, in dem meine Schreibmaschine ruhte. Er legte sich auf den Boden und schaute mich an, nicht unfreundlich, wie auch der Polizist, der dem Hund gefolgt war, mich wohlwollend musterte. Sir, sagte er, Sir! We hope for your cooperation! Seither stelle ich mir Fragen, die doch erstaunlich sind. – stop
downtown manhattan : concerto No 5
nordpol : 0.01 — Donnerstag, später Abend. Mrs. Lillue spielt Mozarts Violin Concerto No 5. Schwere Schneeflocken schaukeln vom dunklen Himmel. Eisige Kälte da draußen über der Upper Bay, in der Wartehalle Whitehall Ferry Terminal aber ist es warm und die Luft so trocken, dass Mrs. Lillue ihren Mantel ablegt. Sie trägt jetzt ein dunkelgrünes Kleid, das bis zum Boden reicht und feuerrote Turnschuhe. Ein schwarzer Junge sitzt in ihrer Nähe auf seinem Basketball und hört ihr zu, mit ernstem Gesicht. Kaum ein weiterer Laut zu hören, obwohl hunderte Menschen darauf warten, auf das nächste Schiff treten zu dürfen, das gleich anlegen wird. In diesem Moment nähert sich eine zierliche alte Frau der Künstlerin. Sie ist beinahe durchsichtig, so hell ihre Haut, so hell ihre Augen, und auch ihre Stimme so hell, dass man sie kaum noch vernehmen kann. Sie will wissen, wie alt die Geige sei, auf der Mrs. Lillue spielt? Wie sich die alte Frau so weit streckt, bis sie auf den Spitzen ihrer Zehen zu stehen kommt, um mit dem Rücken ihrer Hand über das Holz des Instruments zu streichen. — stop
greenwich village : verschwinden
echo : 0.12 — New York ist ein ausgezeichneter Ort, um unterzutauchen, zu verschwinden, sagen wir, ohne aufzuhören. Ich stellte mir vor, wie ich in dieser Stadt Jahre spazieren würde und schauen, mit der Subway fahren, auf Schiffen, im Central Park liegen, in Cafés sitzen, durch Brooklyn wandern, ins Theater gehn, ins Kino, Jazz hören, sein, anwesend sein, gegenwärtig, ohne aufzufallen. Ich könnte existieren, ohne je ein Wort zu sprechen, oder vielleicht nur den ein oder anderen höflichen Satz. Ich könnte Nacht,- oder Tagmensch sein, nie würde mich ein weiterer Mensch für eine längere Zeit als für eine Sekunde bemerken. Sehen und vergessen. Wenn ich also einmal verschwinden wollte, dann würde ich in New York verschwinden, vorsichtig über Treppen steigen, jeden Rumor meiden, den sensiblen New Yorker Blick erlernen, eine kleine Wohnung suchen in einer Gegend, die nicht allzu anstrengend ist. In Greenwich Village vielleicht in einer höheren Etage sollte sie liegen, damit es schön hell werden kann über Schreibtisch und Schreibmaschine. Ich könnte dann bisweilen ein Tonbandgerät in meine Hosentasche stecken und einen oder zwei meiner Tage verzeichnen, nur so zur Vorsicht, um nachzuhören, ob ich nicht vielleicht schon zu einer selbst sprechenden Maschine geworden bin. — stop
manhattan : atome
tango : 1.56 — Ich hatte in einem Café nahe Times Square ein elektronisches Tonbandgerät aus der Manteltasche gezogen und richtete es auf ein Fenster, um den Tumult menschlicher Stimmen, Sirenen, Luftpumpen und weiterer unbestimmbarer Geräusche aufzunehmen. Ein junger Mann, der neben mir vor seinem Notebook saß, beobachtete mich eine Weile aufmerksam. Plötzlich lacht er: Das ist New York. Verrückt, nicht wahr? Ob ich in dieser Stadt öffentlich zugängliche Orte von Stille finden könnte, wollte ich wissen. Gibt es nicht, antwortete der Mann. Es würden jedoch Orte existieren, die beinahe still sind. Dort aber hörst Du Geister! — Sonntag. Minus 5° Celsius. Lässt sich vielleicht errechnen, aus wie vielen Atomen die Stadt New York sich fügt? Wie viele Atome werden die Stadt täglich verlassen, wie viele Atome einreisen in unsere Rechnung? Subway 28. Straße wartete ein Mann kurz nach Mitternacht mit Angelrute in hüfthohen Fischerstiefeln auf dem Bahnsteig. — stop
new york — hurricane deck
tango : 22.28 — Von einer Sekunde zur anderen Sekunde. Als wär der Sonntag ohne Augenlicht gewesen. Als hätte ich nur geträumt, über den Atlantik geflogen zu sein, fünftausend Kilometer schlohweißer Wolkendecke bis kurz vor Neufundland. Jamaika-Station. Roosevelt Island. Lexington Avenue. Das helle Zimmer im 22. Stock. Ein kühler Wind bläst über den Balkon. Rauschen von tief unten von der Straße her. Wie ich bald vor das Haus trete, kommt mir eine ältere Frau entgegen, in einen feinen Mantelstoff gehüllt, Hände seitlich gegen den Hals gefaltet. Eigentlich müsste ich ihr unverzüglich folgen, sehen, warum sie das macht, einer Geschichte folgen, und diesem dampfenden, rot und grün und blau blinkenden Diodenhund, der sie begleitet, einem Riesentier, das ich berühren sollte, seine Temperatur zu fühlen. Ich verstehe an diesem Abend kein Wort in meinem Kopf. Ja, dieses Rauschen der Stadt. Südwärts wandern. Aus dem Boden sind die Stimmen der Subwaysprecher zu hören, next station : grand central, das Rumpeln, das Zischen der Züge. Ich könnte ein paar Stunden noch so weitergehen und schlafen. — stop
misrata
nordpol : 6.38 — Ein faszinierendes Wort geistert seit Monaten in meinem Kopf. Ich kenne das Wort schon lange Zeit, hatte ihm aber zunächst keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, bis ich das Wort in dem Zusammenhang einer unheimlichen Szene hörte aus dem Mund eines Reporters, der von der libyschen Stadt Misrata berichtete. Das war im Oktober des vergangenen Jahres gewesen. Im Kühlraum eines Supermarktes lagerte der Leichnam Muamar Gaddafis auf einer Matratze, das Haar des Diktators war zerzaust, seine Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet, dünne Fäden von Blut sickerten aus zwei Wunden. Menschen standen in nächster Nähe, ihre Fußspitzen berührten das Lager des Toten. Sie standen dort auf neugierigen Füßen, um den Leichnam zu betrachten, manche fotografierten mit Handyapparaten, andere, auch Kinder waren unter ihnen, warteten in einer Schlange vor dem Gebäude darauf, eintreten zu dürfen. Ich dachte noch an den scharfen Geruch des Todes, der dort unsichtbar auf die wartenden Menschen einwirken musste, als der kommentierende Reporter bemerkte, die Bevölkerung der geschundenen Stadt würden sich aus allen Himmelsrichtungen nähern, um den Leichnam Gaddafis und den seines Sohnes zu b e ä u g e n. In diesem Augenblick war das Wort, von dem ich hier berichtete, eingetroffen, ein zartes Wort wandernder Augen. Wie sich unverzüglich in der Gegenwart dieses Wortes der Schrecken der Situation, in etwas Menschliches, beinahe Kindliches verwandelte, in ein Verhalten, das ich verstehen konnte, eine Berührung, eine Vergewisserung, dass wahr ist, wovon man hörte. Ein sanftes Wort in der Umgebung eines Krieges, ein neuronaler Hebel. — stop
ein erstes wort
nordpol : 22.15 — Ob ich mich einmal an meine kindliche Stimme erinnern könnte? Irgendwo in meinem Kopf sollte sie sich noch befinden, eine Spur, eine Ahnung des ersten Wortes, das ich in meinem Leben ausgesprochen habe. Dort, in der Ahnung genau dieses Wortes, mit der Suche beginnen. — stop
geborstene wangen
marimba : 9.28 — Siebenhundert Menschen sollen vor wenigen Wochen während einer Demonstration auf dem Tahrir-Platz verletzt worden sein. Das Trauma der Versehrten, Verbrennung, verätzte Bronchien, steife Hände und Arme, Sprachstörung, blinde Augen, zertrümmerte Kiefer, geborstene Wangen, verlorene Erinnerung. Was bedeutet, der Blick ist in dunkle Seitenstraßen der Stadt gerichtet, in Zimmer versteckter, notdürftig ausgerüsteter Ambulanzen, das Wort der Verletzung in diesen Zusammenhängen? — stop