echo : 20.05 UTC — Manchmal, während ich hinter dem Rollstuhl meiner Mutter spaziere, sehe ich etwas, und dann sehe ich wieder nichts für längere Zeit. Ich sehe Schwalben über den Himmel huschen, ich sehe das Strohhütchen meiner Mutter auf ihrem Kopf, ich sehe ihre alten Hände, die miteinander ringen. Wenn ich etwas wirklich sehe, also erkenne, kann ich es formulieren. Ich sehe demzufolge mit Wörtern. Wenn ich ohne Wörter gedankenlos sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und vergesse in ein und demselben Moment. Ich vergesse Schwalben, Rosenblüten, die Hände meiner Mutter, ihr Hütchen auf dem Kopf, den Himmel über mir, Bäume, das Licht in den Pfützen, und schon habe ich meine Füße und kurz darauf mich insgesamt vergessen. – stop
Aus der Wörtersammlung: alt
glücklicher brief an vladimir nabokov : propeller
~ : louis
to : Mr. vladimir nabokov
subject : PROPELLER
Lieber Mr. Nabokov, vor langer Zeit, Sie erinnern sich vielleicht, hatte ich Ihnen einen Brief notiert, welchen ich heute wiederentdeckte. Plötzlich war ich mir nicht sicher, ob Sie den Brief tatsächlich erhalten haben, deshalb sende ich ihn unverändert ein weiteres Mal: Gestern Abend, nach einem Spaziergang und dem Besuch einer Bar, in der ein paar halbwegs betrunkene Freunde saßen, habe ich mich an ihre Vorlesung über Franz Kafkas Verwandlung erinnert, an Ihre liebevolle und akribisch genaue Untersuchung des Textes, an ihre Käferzeichnungen von eigener Hand, mit welchen Sie versuchten eine Vorstellung zu gewinnen von Wesen und Gestalt jener Hülle, in die Gregor Samsa eingeschlossen worden war. Ja, die Genauigkeit, mit der man sich erfindend einem Gegenstand nähert oder die Genauigkeit, mit der man einen erfundenen Gegenstand sezieren kann, immer wieder begegne ich während meiner Arbeit Ihren Untersuchungen, Ihrer Methode. Vorgestern hatte ich bei einer ersten Annäherung an eine Geschichte, die von lebenden Papieren erzählen wird, das Wort Propellerflügel in den Mund genommen, ohne zu ahnen, dass Propeller in der Welt lebender Organismen nur sehr schwer zu verwirklichen sind, weil ein Propeller sich doch frei bewegen muss, drehend in einer Fassung, die ihn lose hält, sodass ein lebender Organismus aus einem weiteren Körper bestehen müsste, der ganz zu ihm gehören würde und doch nicht ganz zu ihm gehören kann. Nun habe ich beschlossen, die Vorstellung der Propellerflügel nicht so ohne Weiteres aufzugeben. Ich habe mir gedacht, dass ein Propeller, der aus organischen Materialien bestehen wird, vielleicht auf atomarer Ebene einem flugfähigen Körper verbunden sein könnte, verbunden durch Moleküle, die im Moment einer Flugbewegung, den Rotor von Haut und Knochen einerseits anzutreiben in der Lage sind und andererseits je für einen kurzen Moment in die Freiheit entlassen. Und jetzt bin ich glücklich und hoffe, dass sie an meinem Entwurf Gefallen finden werden. – Mit allerbesten Grüßen, Ihr Louis - stop
tasmanien
echo : 22.15 UTC — In den Magazinen eines Briefmarkenhändlers entdeckte ich kürzlich einen besonderen Brief. Der Brief war mit Postwertzeichen Italiens, Frankreichs und Großbritanniens versehen, eine nicht übliche Art der Frankierung. Weiterhin war der Brief an eine weibliche Person adressiert, wohnhaft in einer Stadt, die überhaupt nicht existiert: 85, Teatree-City / Tasmania. Unter dieser handschriftlichen Ortsangabe nun fand sich eine filigrane Buntstiftzeichnung, deren Schönheit sich zunächst im Licht eines starken Vergrößerungsglases erschloss. Sie zeigte ein Kreuzfahrtschiff, das eine Küste passiert, dort eine bergige Landschaft, dicht bewaldet. Affen, vermutlich Gibbons, waren zu erkennen, die an ihren Schwänzen oder langen Armen in den Bäumen hingen. Manche der Affen hielten die Augen geschlossen, vermutlich, weil sie schliefen, andere schienen den Künstler selbst, der sie gestaltete, zu beobachten. Da waren noch zwei Panther im Unterholz, einige Muscheln im Sand, und Krabben, und fliegende Fische. Über den Stamm eines Baumes wanderten Ameisen, welche Einzelteile eines Vogels transportierten, Federn, Teile eines Schnabels, Knochen. Über einen Absender verfügte der Brief übrigens nicht, auch nicht über fühlbaren Inhalt. — stop
ein nilpferd auf dem dach
sierra : 12.42 UTC — Auf das Telefon, das im Wohnzimmer des Hauses der alten Menschen zu beobachten ist, tropft Wasser. Die alte Dame, die seit einigen Jahren vor diesem Telefon sitzt und telefoniert, obwohl das Telefon niemals mit der Welt da Draußen in Verbindung gesetzt wurde, scheint sich nicht zu wundern. Sie wählt eine um die andere Nummer. Das Telefon verfügt über eine Wählscheibe wie von längerer Zeit üblich bei Telefonen. Die alte Hand, die die Wählscheibe bedient, ist ganz feucht vom Wasser, das von der Decke tropft, weil das Haus der alten Menschen zurzeit über kein Dach verfügt, weil man das Dach abgerissen hat, weil man neue Zimmer an der Stelle des Daches errichten möchte. Niemand scheint daran gedacht zu haben, dass Regen fallen könnte, deshalb liegen in den Fluren nun auch Stoffe herum, die das Wasser anziehen und in sich aufnehmen sollen, Stoffwarane, über die man stürzen könnte. Aber daran denkt die alte Dame nicht, sie telefoniert und erzählt, dass es seltsamerweise regnet in dem Zimmer, in dem sie sitzt von früh bis spät. Könnte gut sein, dass ihr niemand glauben wird, dass man so etwas tut, das Dach über einem Wohnzimmer entfernen, wo die alten Menschen wohnen, und auch das Dach über den Zimmern, wo die alten Menschen schlafen, sodass es auch nachts in den Betten regnet, weil niemand daran dachte, dass es bei Nacht regnen könnte. Und dieser Lärm der Bohrmaschinen und der Presslufthämmer, davon ganz zu schweigen, da möchte man für immer die Augen schließen, lang vor der eigentlichen Zeit. — stop
moskau
tango : 22.01 UTC — Am 4. August 2014 ereignete sich eine seltsame Geschichte, Sie werden sich vielleicht erinnern? Vor einem Schalter am Zentralbahnhof stand damals eine alte Dame. Sie trug ein blaues Hütchen auf dem Kopf, war grell geschminkt und lachte. Auf den ersten Blick schien sie fröhlich zu warten wie ihr kleiner Koffer, der gleich neben ihr stand. Auf den zweiten Blick war allerdings zu sehen, dass sie nicht nur wartete, sondern vielmehr bewacht wurde von einer weiteren, sehr viel jüngeren Frau und einem Mann, der die Uniform einer Bahngesellschaft trug. Wie Säulen standen sie links und rechts der alten Reisenden, die junge Frau hatte überdies die Handtasche der Bewachten an sich genommen, um sie zu durchsuchen. Eine ihrer Hände wühlte so heftig in der Tasche herum, dass ein Rascheln weithin zu vernehmen war. Sie forschte ein oder zwei Minuten in dieser wilden Art und Weise. Weil sich aber in der Börse der alten Dame kein Dokument zur Identifizierung aufspüren ließ, schüttelte sie den Kopf, beugte sich noch einmal herab, sprach leise zu der zierlichen Erscheinung hin, um sich kurz darauf an einen Schalterbeamten zu wenden, der hinter spiegelndem Glas auf einem Bürostuhl saß. Dieser Herr nun führte kurz darauf ein Mikrofon an seinen Mund, eine warme, melodische Stimme war zu hören, die durch die Bahnhofshalle schallte, sie sagte: Achtung! Wir bitten um ihre Aufmerksamkeit, vor dem Informationsschalter Gleis 24 wartet ein Personenfundstück. Melden Sie sich! — Diese Geschichte ereignete sich kurz bevor der Fernzug aus Moskau via Warschau den Bahnhof erreichte. Auf dem Bahnsteig warteten viele Menschen. Manche hielten Blumen in ihren Händen. Andere fotografierten. — stop
ponge
alpha : 20.05 UTC — Die Gegenstände eines Menschen berühren: Einen Stuhl, einen Schreibtisch, einen Füllfederhalter, einen Löffel. Ich erinnere mich, in Francis Ponge’s Kiefernwald lagen weder botanische noch geografische Bücher. Oder einen Schal, ein Fieberthermometer, einen Handschuh, ein Salzfässchen, ein Buch, eine Postkarte, einen Kamm, einen Herzschrittmacher, eine Teetasse, eine Schreibmaschine, einen Fotoapparat. Ein Haar — stop
haus no 178
romeo : 20.33 UTC — Wie viele Male bin ich bereits an dem Büro im Parterre des Hauses No 178 vorüber gekommen, es müssen hunderte Male gewesen sein. Ein Mann sitzt dort hinter einem Fenster, der im Licht einer Lampe und eines Bildschirmes arbeitet, ohne je seinen Kopf zu heben, wenn ich an ihm vorübergehe. Andere berichten das Gleiche. Und das ist doch seltsam, er scheint an dem Leben auf der Straße überhaupt nicht interessiert zu sein. Nie wendet er den Kopf, als sei er fest verschraubt, als sei auch seine Wirbelsäule verankert in dieser Haltung geradeaus auf einem Stuhl, der gleichwohl nicht beweglich ist, sodass der Mann weder freiwillig noch mit Vergnügen so vor dem Tisch sitzen wird, sondern weil er nicht anders kann. Und weil das so zu sein scheint, wird der Mann vermutlich über Radare gebieten, die ihm ermöglichen zu wissen, wer an seiner Tür vorüber kommt. Er weiß nämlich immerzu genau, wer kommt und wieder verschwindet, vermutlich kann er sehr gut riechen oder aber er kann sehr gut hören, kann mit den Ohren sehen. Er irrt sich, wie ich hörte, nie. — stop
ai : ÄGYPTEN
MENSCH IN GEFAHR: „Am 9. Mai stellte Amal Fathy ein Video auf ihrer Facebook-Seite ein, in dem sie die von ihr erlebte sexualisierte Belästigung thematisierte, die Dringlichkeit dieses Problems in Ägypten betonte und die Regierung kritisierte, weil sie die Frauen in Ägypten nicht davor schützt. Zudem kritisierte sie das scharfe Vorgehen der Regierung gegen die Menschenrechte, die sozioökonomischen Bedingungen und die Missstände im öffentlichen Dienstleistungssektor. Daraufhin durchsuchte die Polizei am 11. Mai gegen 2:30 Uhr die Wohnung von Amal Fathy und inhaftierte sie in der Polizeiwache Maadi in Kairo zusammen mit ihrem Ehemann Mohamed Lotfy, einem früheren Mitarbeiter von Amnesty International und aktuellen Direktor der Menschenrechtsorganisation Ägyptische Kommission für Rechte und Freiheiten (Egyptian Commission for Rights and Freedoms – ECRF) und ihrem dreijährigen Kind. Mann und Kind wurden nach drei Stunden wieder freigelassen. / Am 11. Mai prüfte die Staatsanwaltschaft Maadi Amal Fathys Fall und ordnete 15 Tage Haft für die Dauer der Ermittlungen zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen an – unter anderem „Veröffentlichung eines Videos, das Falschinformationen enthält, die den öffentlichen Frieden beeinträchtigen könnten”. Am folgenden Tag verhörte die Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit sie in einem weiteren Fall zu ihrer angeblichen Verbindung zur Jugendbewegung 6. April. Für die Dauer der Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Gruppe ordnete sie weitere 15 Tage Untersuchungshaft an. / Internet-Trolle kopierten das Video und Fotos von Amal Fathy von ihren Sozialen Medien-Seiten und posteten sie auf Facebook und Twitter zusammen mit geschlechtsspezifischen Beschimpfungen und der Forderung nach ihrer Festnahme. Mehrere regierungsfreundliche und staatliche Medien veröffentlichten Artikel über das Video und behaupteten fälschlich, dass sie eine Aktivistin der Jugendbewegung 6. April sei und bei der ECRF arbeite. Darüberhinaus schrieben sie, dass sie mit dem Direktor der ECRF verheiratet sei und verstießen damit gegen ihr Recht auf Privatsphäre.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 30.6.2018 unter > ai : urgent action
von stühlen
nordpol : 7.58 UTC — Im Haus der alten Menschen sitzen Damen an einem Tisch von früh bis spät. Ein Fernsehapparat, der an der Wand hängt, flach wie ein Schollenfisch, spult sich durch den Tag. Die alten Damen nehmen kaum Notiz von dem Licht, das auf sie fällt. Der Ton ist ausgeschaltet, der Fisch ist stumm. So sitzen sie zeitlos, wie mir scheint, sie erinnern sich vermutlich nicht, ob ich an diesem Tag schon an ihnen vorüber gekommen bin, aber sie kennen mich, den treuen Besucher, ich habe doch einen Eindruck hinterlassen. Wenn ich mich über einen langen Flur spazierend dem Raum der alten Damen nähere, weiß ich präzise vorherzusagen, welche der Damen auf welchem der Stühle sitzen wird, vor dem Tisch, der dreimal am Tag sich füllt, mit Speisen, auch mit Kaffee oder gekühltem Himbeersaft. Nur wenn das Wetter sich Hals über Kopf verändern wird, davon erzählen leere Stühle, die doch von den Abwesenden besetzt sind, sie warten oder schlafen nachts im Halbdunkel, schlafende Stühle. — stop
ramin
charlie : 7.55 UTC — Theodor erzählte, er sei mit einem jungen Mann befreundet, der in Isfahan im Iran geboren wurde. Er heiße Ramin und lebe seit zehn Jahren in Europa, einmal für vier Jahre in Rom, dann zwei Jahre lang in Genf, immer an der Seite seiner Eltern, Mutter wie Vater Sprachwissenschaftler. Zurzeit nun lebt Ramin in Hamburg. Volljährig geworden, wollte er im vergangenen Jahr, im Winter präzise, nach New York reisen, ein großer Traum, einmal über die Brooklyn — Bridge spazieren hin und zurück, leider habe er keine Einreiseerlaubnis erhalten. Das könne länger dauern, habe man ihm gesagt, dass er nicht einreisen könne, er solle sich keine Hoffnungen machen, es handele sich um eine politische Entscheidung, er sei gefährlich geworden von einem Jahr zum anderen Jahr. Seither erfindet Ramin die Stadt New York, indem er kleine Geschichten über sie notiert. Er hatte bemerkt, dass ihm Freude mache, Filme, die in New York aufgenommen worden seien, zu inspizieren. In China Town nahe dem Collect Pond Park habe er angefangen, von dort aus arbeite er sich weiter nordwärts voran von Straße zu Straße, sammle Fotografien, Ansichten der Google Earth Anwendung, so entstünde eine Art Spaziergang, hochauflösend, nordwärts in Richtung Central Park. Er mache sich gewissermaßen ein Bild aus Bildern oder sehr kurzen Filmen, und irgendwann werde er dieses Bild überprüfen, wie es riecht, sobald er persönlich nicht mehr gefährlich sein wird. — stop