nordpol : 2.28 — In der vergangenen Nacht das Wesen der Schmeckknospen studiert, außerdem eine anatomische Geschichte, die sich mit dem Wort Schmeckknospen verbindet. Der Himmel blitzte ohne Donner, kaum Regen. Ich atmete mit Vorsicht, die Luft duftete nach Schwefel. Während ich las, bemerkte ich, dass ich auch im Lesen sehr langsam geworden bin. Manchmal lese ich so langsam, dass ich nicht Satz für Satz, sondern Wort für Wort vorwärts lese, jedes Wort, sagen wir, wahrnehme, wie es ist. Während ich insgesamt langsamer werde, scheinen viele Menschen um mich her schneller zu werden, sie lesen immer schneller, und sie lieben immer schneller, und sie schreiben immer schneller, und ihre Schuhe fallen ihnen vom rasenden Gehen immer schneller von den Füßen. Und Ihre Wohnungen wechseln Stadtmenschen so rasant wie früher andere Personen ihre Zimmer in Hotels. Ich kann nicht sagen, ob ich nicht vielleicht schon viel zu langsam geworden bin für das moderne Leben. Sicher ist, ich spreche noch immer viel zu schnell, auch für sehr schnelle Menschen spreche ich viel zu schnell. Wenn ich Herzohren sehr schnell erzähle, fällt niemandem auf, dass ich von Herzohren erzählte, man glaubt, ich erzählte von Herzen und andererseits von Ohren. Einmal wanderte ich sehr langsam von einem Zimmer in ein anderes. Ich beobachtete mit großer Freude, dass ich in meiner Haut alles das, was notwendig für das Leben sein würde, von dem einen Zimmer, in dem ich aus dem Fenster geschaut hatte, in das andere Zimmer, in dem ich ein weiteres Buch lesen wollte, mit mir genommen hatte, nichts blieb zurück. — stop
Aus der Wörtersammlung: falle
codegeräusch
bamako : 2.26 — Bemerkenswert vielleicht die Vorstellung, das Wort h i b i s c i l l i könnte nach seiner Enttarnung genaue dieselbe Bedeutung haben wie die Zeichenfolge x l / * q k o y. Es existieren demzufolge Codes, die wohlklingend sind für menschliche Ohren, während andere eventuell fleißigen Rechenmaschinen gefallen. — stop
zwergherzrose
~ : malcolm
to : louis
subject : ZWERGHERZROSE
date : jun 3 14 4.28 p.m.
Es ist vier Uhr nachmittags, ein heißer Tag in New York. Wir sitzen auf dem Promenadendeck, fahren in Richtung Staten Island. Die Flut kommt, der Schiffskörper unter uns zittert. Eichhörnchen Frankie kauert auf einer Bank, als wäre er ein Mensch. Kinder füttern ihn mit Nüssen. Er hält sein Gesicht in den Wind, achtet auf Möwen, die ihn mehrfach attackierten. In seiner Nähe seit zwei Wochen immer wieder anzutreffen, eine junge Frau, auch in diesem Moment ist sie anwesend. Sie kommt am frühen Morgen auf das Schiff, setzt sich an eines der Fenster und beginnt zu lesen. An den Terminals geht sie je von Bord, nimmt ieine andere Fähre, um nach zwei oder drei Fahrten wieder auf der John F. Kennedy zurück zu sein. Frankie mag an ihr Gefallen gefunden zu haben. Er sitzt jedenfalls immer in ihrer Nähe, ohne einen Grund, den wir erkennen könnten, sie hat ihn bisher noch nie gefüttert. Auch beachtet sie ihn kaum, weil sie liest. Einmal durchstöberte Frankie ihre Handtasche, jagte mit einem Bleistift davon. Die junge Frau hatte ihn beobachtet, sie lächelte und folgte ihm mit ihrem Blick. Eine reizende Person. Elegant gekleidet, heute mit einem roten Strohhut auf dem Kopf. Allison hatte sie am dritten Tag ihres Erscheinens einige Stunden lang beschattet. Am Abend folgte sie ihr nach Brooklyn, sie scheint nicht verdächtig zu sein, eine Person, die über Zeit verfügt, die vielleicht Schiffsfahrten mag. Wir notieren sorgfältig ihre Lektüre, gestern noch Carson McCullers Roman Clock Without Hands. Auch kennen wir bereits ihren Namen, wissen, dass ihre Eltern noch leben, welche Schule sie besuchte, sie scheint noch nie in ihrem Leben angestellt gewesen zu sein. Ja, es ist vier Uhr nachmittags an einem heißen Tag in New York. Es ist kaum später geworden. Ein blauer Ball rollt hin und her, als suchte er einen Ausweg. Gestern war ein Mann von Bord gesprungen und wurde gerettet. — Ihr Malcolm / codewort : zwergherzrose
empfangen am
4.06.2014
1948 zeichen
MELDUNGEN : MALCOLM TO LOUIS / ENDE
samuel beckett
india : 2.18 — Nehmen wir einmal an, alles Papier dieser Welt würde in ebendieser Minute zu Staub zerfallen. Wäre es denkbar, Samuel Becketts Kosmos in der Elektrosphäre zu rekonstruieren? Wie viele Varianten Becketts könnten wir dort finden? Würden wir Beckett wiedererkennen? — stop
vögel
lima : 0.57 — Düstere Straße, düsteres Haus, düstere Treppe. Ich klingelte an einer Tür, ein Mann, der nicht mehr ganz jung gewesen war, öffnete. Kräftiger, bitterer Geruch strömte aus der Wohnung. Die Luft war warm, war feucht und dicht, meine Bewegungen, wie ich durch den Flur der Wohnung ging, mühevoll, als würde ich unter Wasser laufen. Ich trat in ein Zimmer, ein Tisch, ein Sofa, zwei Stühle, keine Vorhänge vor den Fenstern, hinter den Scheiben Kastanienbäume, die blühten. An den Wänden des Zimmers klebte eine Tapete mit Kirschmotiven. Sie war an der ein oder anderen Stelle von der Wand gefallen. Auf hölzernen Stangen, dicht unter der Decke, hockten hunderte Vögel ohne Federn. Ihre Haut war von hellem Braun, ihre Schnäbel zitronengelb. Der Mann, der mich in das Zimmer geführt hatte, nahm einen der Vögel in seine Hände. Der Vogel lag auf dem Rücken, ganz still. Er hatte seine Augen geschlossen, feine hellblaue Häutchen wie Schirme. Ich sollte an dem Vogel riechen, und so nahm ich ihn in die Hand. Der Leib des Vogels war warm. Er zitterte, als ich mich mit meiner Nase näherte, als würde er frieren. Der Mann, der mich an das Zimmer der Vögel geführt hatte, sagte, dass sie noch nicht ganz reif seien. Der Vogel duftete nach gebrannten Mandeln. In einer Ecke des Zimmers auf dem Boden ein Schallplattenspieler, ein uraltes Gerät, das Tommy Dorsey spielte: I’m Getting Sentimental Over You. — stop
o l i m a m b o
delta : 22.01 — Nehmen wir einmal an, eine noch nie zuvor gehörte Sprache wäre über Nacht, während ich schlief, wie Regen vom Himmel gefallen und hätte sich in meinem Gehirn versammelt, in dem sie alle dort gestern noch vorhandenen Wörter und Wendungen ersetzte. Und wie ich nun erwache, sehe ich einen Lampion, eine Lampe, aber ich denke ein Wort, das ich nicht kenne. Und so wundere ich mich, und auch das Wundern selbst wird mit seltsamen Geräuschen bezeichnet. Da ist ein Kühlschrank, und da sind eine Computermaschine und ein Telefon, je Erscheinungen ohne vertrautes Wort. Ich kann sie sehen, ich kann sie berühren, aber nicht eindeutig bezeichnen, wie meine Augen nicht und meine Nase und meinen Mund. In dieser ersten Stunde des Tages mit neuer Sprache vermag ich nur zu deuten, nicht zu erzählen. Ja, nehmen wir das einmal an, merkwürdige Sache. mikadikamadu. — stop
bambus
marimba : 3.58 — In einem Moment der Stille beobachtete ich vor wenigen Stunden ein Bücherregal, das in meinem Arbeitszimmer steht. Ich meinte, ein Geräusch wahrgenommen zu haben, in etwa hörte sich das so an, als würde man ein Ohr an ein Bambusrohr legen, durch welches Kieselsteine fallen. Zunächst meldete sich das Geräusch links oben unter der Decke, wo sich Bücher befinden, die ich nicht gelesen habe, wartende Bücher, sagen wir, Mahnende. Kurz darauf wanderte das Geräusch in die Mitte des Regals, Christoph Ransmayr klimperte, John Berger, Janet Frame, Antonio Tabucchi. Ich hatte für einige Minuten den Eindruck, das Geräusch oder seine Ursache könnte sich vervielfältigt haben. Wenn nun folgendes geschehen wäre, dass sich die Bücher meines Regals in Funkbücher verwandelten, in Bücher, die nur vorgeben, Bücher von Papier zu sein, in Bücher also, die über Seiten verfügen, die eigentlich Bildschirme sind, die man umblättern kann. Dann wäre denkbar, dass ich jenes typische Geräusch vernommen habe, das in genau dem Moment entsteht, da der Autor eines Buches mittels Funkwellen eine erneuerte Fassung seines Werkes in die Zimmer der Welt entsendet. Ich muss darüber nachdenken, was die Möglichkeit oder die Existenz der Funkbücher bedeuten würde für das Schreiben, für das Aufhören können, für Anfang und Ende einer Geschichte. Und wenn nun Jean Pauls Komet in meinem Zimmer rascheln würde, oder Dantons Tod, Georg Büchner? – Noch zu tun: Regenwörter erfinden. — stop
nüsse. 20 gramm
olimambo : 0.15 — Als ich unlängst von einer Reise zurückkehrte, entdeckte ich Esmeralda auf dem Rahmen der Tür zum Arbeitszimmer. Die kleine Schnecke hockte genau dort, wo ich sie vor meiner Abreise zuletzt gesehen hatte. Vielleicht konnte sie das Gewicht meiner Schritte auf der Treppe spüren, ihre Fühleraugen jedenfalls waren bereits ausgefahren, als ich die Tür zur Wohnung öffnete. Esmeralda schien den heimkehrenden Mann in aller Ruhe zu betrachten. Ich überlegte, kaum hatte ich die Wohnung betreten, ob es möglich sein könnte, dass sich das Schneckenwesen in der Zeit meiner Abwesenheit nicht von der Stelle bewegt haben könnte. Geschälte Pekannüsse, die ich im Dezember noch in Küche und Diele auf den Boden legte, waren unberührt. Nun aber, da ich meinen Koffer auspackte, rührte sich Esmeralda. Sie schien an Gewicht verloren zu haben, war in ihrer Wanderung jedoch so schnell wie üblich, weshalb ich behaupten möchte, dass Esmeralda keinen Schaden genommen haben dürfte. Nach einer Weile erreichte sie das Arbeitszimmer und kletterte unverzüglich zur Decke empor, um direkt über meinem geöffneten Koffer Platz zu nehmen. Dort verweilte sie für mehrere Stunden, auch als ich meinen Koffer längst entleert und das Licht im Zimmer ausgeschaltet hatte, rührte sie sich nicht. Direkt unter ihr, auf dem Sofa, lagen ein Paar Handschuhe und ein Notizbuch. Gegen Mitternacht meldete sich L. Er berichtete, er habe einen Auftrag angenommen, nämlich in die Gegend von Narvik zu reisen, um zweihundert tiefgefrorene Seen, die noch ohne Namen sein sollen, zu bezeichnen. Als ich kurz darauf in mein Arbeitszimmer zurückkehrte, genau in dem Moment, da ich das Licht anschaltete, ließ Esmeralda sich von der Decke fallen. Sie landete weich auf meinen Handschuhen. Ein unglaublicher Anblick, es schien, als würde die Schnecke in drastischer Weise mit mir kommunizieren. Indem ich sie in die Luft hob, versuchte sie vergeblich, sich in ihr Haus zurückzuziehen. Jetzt wieder Ruhe. Nebelnacht. — stop
im zimmer. mitternacht
olimambo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Textsammlung Fälle balanciere ich vor dem Bücherregal auf einem Stuhl. Noch ist Samstag. Ich erhoffe mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? Ein bemerkenswerter Satz. Wie ich von meinem Stuhl steige und wieder auf dem Boden stehe, halte ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch wurde im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Nun fällt mir auf, dass G. und J. gestorben sind, während P. und ich, der ich das Buch ausgeliehen habe, noch leben. Auch Daniil Charms ist tot und sein Übersetzer Peter Urban seit wenigen Wochen. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen 7 °C. Ich werde mich gleich auf die Suche nach meinen fünf Marienkäfern machen, die im Kühlschrank in einer Schachtel überwintern sollen. Zwei habe ich bereits entdeckt, das war vor drei Stunden gewesen, vermutlich ist das so, dass ich in dieser Minute alle Käfer aus den Augen verloren habe. Aber ich kann immerhin sagen, dass ich die Käfer gesehen, sie mir also gestern nicht eingebildet hatte. Käfer No 1 saß in der Diele nahe der Tür, als würde er warten. Käfer No 2 bewegte sich im Arbeitszimmer über das Fenster, hinter dem es stockdunkel gewesen war. Bevor ich mich auf die Suche mache, sollte ich vielleicht doch noch einmal einen Versuch unternehmen, meinen Daniil Charms zu finden. Gleich vorsichtig, nur nicht stürzen, den Stuhl besteigen. Bisweilen träumte ich, von einem Berg zu fallen. Langsam, ich gehe durchs Zimmer. Und während ich so gehe, erinnere ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener Südfriedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich nicht erinnern, worüber wir gesprochen haben. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied war. — stop
bristolhotel
alpha : 2.26 — Folgende Person, ein Mann, könnte reine Erfindung sein. Der Mann war mir während eines Spazierganges aufgefallen, das heißt, ich hatte einen Einfall oder eine Idee, oder ich machte vielleicht eine Entdeckung. Ich könnte von dieser Person, die sich nicht wehren kann, behaupten, dass sie nicht ganz bei Verstand sein wird, weil sie seit langer Zeit in einem Hotelzimmer lebt, welches sie niemals verlässt. Das Hotel, in dem sich dieses Zimmer befindet, erreicht man vom Flughafen der norwegischen Stadt Bergen aus in 25 Minuten, sofern man sich ein Taxi leisten kann. Es ist das Bristol, unweit des Nationaltheaters gelegen, dort, im dritten Stock, ein kleines Zimmer, der Boden hell, sodass man meinen möchte, man spazierte auf Walknochen herum. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigentlich erzählen will. Es handelt sich um einen wohlhabenden Mann im Alter von fünfzig Jahren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haare auf dem Kopf, wiegt 73 Kilogramm, und trägt eine Brille. Sieben weiße Hemden gehören zu ihm, Strümpfe, Unterwäsche, dunkelbraune Schuhe mit weichen Sohlen, ein hellgrauer Anzug und ein Koffer, der unter dem Bett verwahrt wird. Auf einem Tisch nahe einem Fenster, zwei Handcomputer. In den Anschluss des einen Computers wurde ein USB-Speichermedium eingeführt. Auf dem Bildschirm sind Verzeichnisse und Dateinamen zu erkennen, die sich auf jenem Speichermedium befinden. Auf dem Bildschirm des zweiten Computers ein ähnliches Bild, Verzeichnisse, Dateinamen, Zeitangaben, Größenordnungen. Was wir sehen, sind Computer des Mannes, der Mann arbeitet in Bergen im Bristol im Zimmer auf dem Knochenboden. Er sitzt vor den Bildschirmen und öffnet Dateien, um sie zu vergleichen, Texte im Blocksatz. Zeile um Zeile wandert der Mann mithilfe einer Bleistiftspitze durch das Gebiet der Worte, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Sprache notiert wurden, die mir unbekannt. Es scheint eine verschlüsselte Sprache zu sein, weshalb der Mann dazu gezwungen ist, jedes Zeichen für sich zu überprüfen. Fünf Stunden Arbeit am Vormittag, fünf Stunden Arbeit am Nachmittag, und weitere fünf Stunden am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafelwasser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, Seeteufel, Steinbutt. 277275 Dateien sind zu überprüfen, 12.532.365 Seiten. Er scheint noch nicht sehr weit gekommen zu sein. Die Vorhänge der Fenster sind zugezogen, es ist ohnehin gerade eine Zeit ohne Licht. Ein Mädchen, das ihm manchmal seinen Fisch serviert, macht ihm schöne Augen. Morgens sind die Hörner der Schiffe zu vernehmen, die den Hafen der Stadt verlassen. Es ist der 1. Dezember 2013. — stop