tango : 20.55 UTC — Einmal, vor Jahren, war ich in der digitalen Sphäre auf der Suche nach Propellerflugmaschinen gewesen, die von Hand zu bedienen sind. Ich entdeckte eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mithilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — Das Radio berichtet von einem schwerhörigen Opa, der in Kyjiw vor einem Fernsehgerät sitzt, mit dem Ton so laut, dass seine Enkelkinder im Nebenzimmer die Einschläge von Raketensprengköpfen nicht hören. — stop
Aus der Wörtersammlung: gin
auf der flucht
olimambo : 20.28 UTC — Wie nach der Meldung eines Terroranschlages Menschen damit beginnen, ihre Umgebung abzusuchen nach Verdächtigem. M., der in Mitteleuropa lebt, erinnerte sich an L., der morgens im Zug auf dem Weg nach Hause im Koran gelesen hatte. Das war ein kleines Buch gewesen, ein Buch wie aus einer Matchbox, eine Art Minikoran oder etwas Ähnliches. L., die vor langer Zeit ihre Geburtsstadt in Sibirien verließ, befindet sich seit Wochen in einem bebenden Zustand. Sie schläft kaum noch, erzählt, dass sie sich fürchte. Ihre Mutter arbeite in einer Bibliothek der Hafenstadt Odessa. L. sagt, sie vermeide in der Öffentlichkeit laut die russische Sprache zu sprechen, auch mit der deutschen Sprache gehe sie vorsichtiger um, man höre sofort, dass sie aus dem Osten komme. Ein iranischer Freund, Z., der aus seinem Land flüchtete, um nicht in den Krieg gegen den Irak ziehen zu müssen, berichtet, er sorge sich um oder wegen der schlafenden, staubigen Männer am Flughafen, die auf ihre Flüge warteten zurück nach Bukarest oder Sofia. — Eine große Flucht hat begonnen im Osten. Aus dem Radio und von den Bildschirmen her kommen Fäden heran, die vom Krieg berichten. Menschen an den Grenzbahnhöfen erzählen: Wir haben kleine Rucksäcke auf dem Rücken damit wir rennen können. Vor Computermaschinen hocken Menschen und betrachten Live-Bilder des nächtlichen Maidan zu Kyjiw. Warum! — stop
im zimmer. mitternacht
echo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Textsammlung Fälle balancierte ich zur Winterzeit vor einem Bücherregal auf einem Stuhl. Es war Samstag. Ich erhoffte mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? — Ein bemerkenswerter Satz. — Wie ich bald von dem Stuhl gestiegen war und wieder auf dem Boden stand, hielt ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch war im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen worden. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Ich entdeckte, dass G. und J. gestorben waren, während P. damals noch lebte. Nun ist auch sie gestorben und auch Daniil Charms ist noch immer tot und sein Übersetzer Peter Urban seit 8 Jahren. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen nach wie vor 7 °C. Wiederum Mitternacht. Langsam spaziere ich wie vor Jahren durch das nächtliche Zimmer. Und während ich so gehe, erinnerte ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener südlichen Friedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend gewesen. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich noch immer nicht erinnern, worüber wir gesprochen hatten. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied gewesen war. — stop
pripyat
echo : 21.08 UTC — Auf meinem Fernsehbildschirm sichtbar üben ukrainische Soldaten den Häuserkampf in der winterlichen Stadt Pripjat. Es ist Abend. Ich öffne mein Notebook, nähere mich in der digitalen Sphäre jener unheimlichen Stadt, Stadt eines Riesenrades, ich erinnere mich, ein Riesenrad in dieser seltsam einsamen Stadt. Da waren vor vielen Jahren noch Menschen gewesen, sie spazierten an einem sonnigen Tag durch einen Park, große Menschen und Kindermenschen kurz nach Havarie des nahen Reaktors. Da waren Blitze, Spuren starker radioaktiver Strahlung, die sich in das Filmmaterial, welches von den großen Menschen und den Kindermenschen erzählt, eingebrannt hatte. All das plötzlich wieder gegenwärtig an diesem Abend, da ich meine Bildschirmreise beginne. Ich komme von Süden, es ist Sommer. Winterbilder existieren von dieser nordukrainischen Landschaft nicht in den Magazinen der Google Earth Maschine, aber eben sommerliche Spuren, zwei Ströme, Juni 2015 und ein weiterer Strom, der im Sommer 2020 aufgezeichnet wurde. Je eine schnurgerade Straße kur vor dem Checkpoint Leliv. Im Juni 2015 kommen wir an, im Juli des Jahres 2020 fahren wir weiter durch die Wälder des Sperrgebietes kurz vor Tschernobyl. Die Straße ist gepflegt, jenseits der Straße zerfallende Häuser, auch Gebüsch von leuchtendem Grün. Plötzlich eine kleine Stadt, die ich in dieser Wildnis nicht erwartet hatte. Häuserblocks. Stromleitungen führen über Brücken. Menschen stehen in kleinen Gruppen am Straßenrand. Dann wieder Juni 2015, wir passieren das Denkmal derer, die die Welt gerettet haben. Da und dort Birken, auch rötlich gefärbte Gewächse. Und Schilder, gelbe Schilder, die vor Strahlung warnen. Da und dort Wolken himmelwärts. — stop
geräusche
ginkgo : 17.15 UTC — Es ist Nachmittag. Ich sitze vor dem Fenster nach Süden, ich sitze derart vor dem Fenster auf dem warmen Boden, dass ich den Himmel sehe, Wolken, nichts weiter, nicht, was darunter sich versammelt, Häuser, Türme, Kronen zahlreicher Bäume, Eichhörnchen, Automobile, Menschen. Ich höre eine Straßenbahn kommen, ich höre, wie sie anhält, ich höre Stimmen, ich höre, wie sich die Straßenbahn langsam in Bewegung setzt, wie sie beschleunigt, wie sie eine Weiche nimmt. Die Straßenbahn scheppert und ächzt. Ungezählte Male schepperte und ächzte eine Straßenbahn an diesem Ort. Kinderrufen. Eine Hupe, ein Martinshorn. Ich höre nicht sichtbaren Ereignissen zu. Vögel singen in diesem Augenblick, singen in meiner Vorstellung, das ist denkbar. Ich hatte vor, spazieren zu gehen. Es ist Nachmittag. Ein Telefon klingelt. — stop
eine raupe im mai
romeo : 10.28 UTC — Es war Mai, ich ging, Blick auf den Boden gerichtet, spazieren. Man möchte vielleicht meinen, dass ich nur den Boden, nichts anderes sehen wollte, in Gedanken versunken in Kreisen. So gehe ich eine halbe Stunde dahin. Bald begegnete ich einer Raupe, die den Weg, auf dem ich ging, überquerte. Es war eine sandige Stelle. Ich blieb stehen, ging in die Knie, beobachtete, wie sich die Raupe bemühte, sandige Körner von ihren Beinen zu schütteln. Einmal rollt sie sich seitwärts ab, eine Idee, die dazu führte, dass auch das kräftige Haar ihres Rückens von Sand bedeckt worden war. Diese erste Raupe, der ich an diesem Tag begegnete, war von einem leuchtenden Gelb. Seitlich, ihren Körper entlang, waren hellrote Punkte zu erkennen. Ihr Kopf war von einem leuchtenden Blau. — stop
brieftaubenwörter
ginkgo : 18.08 UTC — In den Monaten Februar und März lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Bangsein . Apfelbananenmus . Brieftaubenwörter . Druckluftbauch . Filmbetrachtungsgesicht . Fangschreckenkrebs . Flugfilmzeit . Gefiederkarte . Krokodilmodell . Libellengespräch . Looter . Lötlampeneffekt . Miniaturensand . Nachtschiffgedanken . Mundschutzalgorithmus . Niddapark . Pfuhlschnepfe . Rebusprizip . Spurwerk . Stehschirmchen . Sonderquerdruck . Tangfahne . Summlaut . Twittertourette . Ungeimpft . Vortraumzeit . Watermen . Wortkernbilder . Zeppelinallee . Tastmaschine . Arktiswind . Zeigerblüte . Makimensch . Miniaturensand . — stop
vom nachtstrassenmuseum
alpha : 22.25 UTC — Es ist nicht etwa so, dass Menschen auf der Straße tief unter meinem Fenster nach Süden hin kurz vor Beginn der Ausgangssperren sich beeilen würden nach Hause zu kommen. Sie gehen voran, so wie immer um diese Zeit, aber allein. Es sind außerdem wenige Menschen, die sich dort unten bewegen. Für einen Moment dachte ich, vielleicht haben sie Eintritt bezahlt für das Museum der Nachtrassen zur Zeit der Ausgangssperre: 150 €. Ich muss das beobachten, das Museum, die Menschen und die Nachtbienen, ihre Geräusche, ihre Wege, ihre Besuche hier oben, wo ich am Fenster stehe. — stop
kolibri m5
india : 0.14 UTC — Es ist tatsächlich 0 Uhr und 14 Minuten, kurz nach Mitternacht. Ich habe lange Zeit gewartet, nämlich von 22 Uhr des vergangenen Tages an bis zu dieser Minute, um folgenden Text zu wiederholen, das heißt, ich werde Zeichen für Zeichen notieren, was ich vor Jahren bereits zur selben Stunde aufgeschrieben habe. Hört Ihr das Geräusch der Tastatur? Es ist kurz nach Mitternacht. Eine Drohne in der Gestalt eines Kolibris stationiert seit wenigen Minuten in einem Abstand von 1,5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beobachten, wie ich gerade über sie notiere. Kurz zuvor war das kleine Wesen in meinem Zimmer herumgeflogen, hatte meinen Kakteentisch untersucht, meine Bücher, das Laternensignallicht, welches ich vom Großvater erbte, auch meine Papiere, Fotografien, Schreibwerkzeuge. Ruckartig verlagerte das Lufttier seine Position von Gegenstand zu Gegenstand. Ich glaube, in den Momenten des Stillstandes wurden Aufnahmen gefertigt, genau in der Art und Weise wie in diesem Moment eine Aufnahme von mir selbst, indem ich auf dem Arbeitssofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Von der Drohne, die ich versucht bin, tatsächlich für einen Kolibrivogel zu halten, war zunächst nichts zu hören gewesen, keinerlei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minuten, meine ich einen leise pfeifenden Luftzug zu vernehmen, der von den nicht sichtbaren Flügeln des Luftwesens auszugehen scheint. Diese Flügel bewegen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschärfe der Luft wahrzunehmen sind. Ein weiteres, ein helles feines Geräusch ist zu hören, ein Wispern. Dieses Wispern scheint von dem Schnabel des Kolibris herzukommen. Ich habe diesen Schnabel zunächst für eine Attrappe gehalten, jetzt aber halte ich für möglich, dass der Drohnenvogel doch mit diesem Schnabel spricht, also vielleicht mit mir, der ich auf dem Sofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Ich kann natürlich nicht sagen, was er mitteilen möchte. Es ist denkbar, dass vielleicht eine entfernte Stimme aus dem Schnabel zu mir spricht, ja, das ist denkbar. Nun warten wir einmal ab, ob der kleine sprechende Vogel sich mir nähern und vielleicht in eines meiner Ohren sprechen wird. — stop
ai : BELARUS
MENSCH IN GEFAHR: „Viachaslau Rahashchuks Gesundheitszustand ist so schlecht, dass er umgehend in ein Krankenhaus eingewiesen werden müsste. Doch stattdessen befindet er sich in der Untersuchungshaftanstalt Nr. 6. Seine Verletzungen sind auf Folter und andere Misshandlungen zurückzuführen, denen er in der Haft ausgesetzt war. / Der Taxifahrer wurde am Abend des 10. August in Pinsk von mindestens fünf Polizeibeamt_innen gewaltsam und willkürlich festgenommen, als er mit seiner Schwester und ihrem zwölfjährigen Sohn spazieren ging. Am Vortag waren die Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahl offiziell bekanntgegeben worden und nach massiven Betrugsvorwürfen hielten die Proteste in der Stadt noch an. Viachaslau Rahashchuk hat keine Straftat begangen und seine Festnahme und nachfolgende Inhaftierung sind willkürlich. In der Zwischenzeit wurde er nach Paragraf 293 Teil 1 des belarussischen Strafgesetzbuches angeklagt, der im Zusammenhang mit dem Vorwurf von “Massenunruhen” steht. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft. / Am 11. August nahm einer der damaligen Mithäftlinge von Viachaslau Rahashchuk Kontakt zu dessen Mutter auf und teilte ihr mit, dass ihr Sohn von Gefängniswärtern schwer misshandelt worden sei. Er habe ein Hämatom hinter dem Ohr, drei Schnittwunden am Kopf und Prellungen an der gesamten Wirbelsäule. Außerdem seien die Gefängniskorridore voller Blutlachen von all denjenigen, die geschlagen wurden. / Seitdem hat Viachaslau Rahashchuk ein permanentes Klingeln in seinem Kopf. Seine Angehörigen baten einen Gefängnismediziner darum, ihm eine Überweisung zur Computer-Tomografie auszustellen. Dieser meinte jedoch nur, dass es Viachaslau Rahashchuk gut gehe und dass die Familie weiterhin Medikamente zur Linderung der Symptome schicken solle. Glaubwürdigen und aktuellen Berichten zufolge hat Viachaslau Rahashchuk wiederholt für bis zu 20 Minuten das Bewusstsein verloren. Außerdem hat er auf der linken Seite des Brustkorbs einen Tumor entwickelt. Die wiederholten Bitten seiner Familie, ihn einer unabhängigen ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, wurden allesamt abgelehnt. Viachaslau Rahashchuk wird die dringend benötigte medizinische Behandlung verweigert.”- Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 8.2.2021 unter > ai : urgent action