MENSCH IN GEFAHR: „Am 9. Januar um etwa 14.30 Uhr führten drei Angehörige des ägyptischen Geheimdiensts, die in Zivil gekleidet waren, eine Razzia in einem Café des Kairoer Stadtteils El Agouza durch. Es ist bekannt, dass sich der Menschenrechtler Dr. Ahmed Abdullah häufig dort aufhält. Die Sicherheitskräfte legten keinen Durchsuchungs- oder Haftbefehl vor, durchsuchten aber dennoch das Café nach Dr. Ahmed Abdullah und erkundigten sich bei den Angestellten nach seinem Aufenthaltsort. / Dr. Ahmed Abdullah erstattete daraufhin Anzeige bei der Staatsanwaltschaft und gab zu Protokoll, dass alle Versuche, ihm Schaden zuzufügen, vom Innenministerium zu verantworten seien. Es sind keine strafrechtlichen Ermittlungen gegen Dr. Ahmed Abdullah bekannt, und er hat bisher keine Vorladung von der Staatsanwaltschaft erhalten. Die Kommunikationskanäle von Dr. Ahmed Abdullah, insbesondere sein Telefon, werden jedoch seit einiger Zeit von den Sicherheitskräften abgehört. Sie haben mehrfach telefonisch damit gedroht, ihn festzunehmen. / Seit Oktober 2015 läuft eine mediale Verleumdungskampagne gegen Dr. Ahmed Abdullah. Er ist Vorsitzender des Stiftungsrats der Menschenrechtsorganisation “Ägyptische Kommission für Rechte und Freiheiten” (ECRF) und wird ebenso wie der Leiter der Organisation, Mohamed Lotfy, von der Presse als Gefahr für die nationale Sicherheit porträtiert. Medienberichten zufolge sollen die beiden Männer geheime Treffen mit US-amerikanischen und europäischen Behördenvertreter_innen abgehalten haben, um die nationale Sicherheit Ägyptens zu gefährden und den Ruf des Landes im Ausland zu schädigen.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 25. Februar 2016 hinaus, unter > ai : urgent action
Aus der Wörtersammlung: halt
vor neufundland 02.12.08 : atem
alpha : 0.02 — Vom Fenster aus beobachte ich seit zwei Stunden ein Rudel Eichhörnchen, das auf der Straße weit unten tollt, als gäbe es etwas zu feiern. Wenn ich sie mit einer Taschenlampe beleuchte, bleiben sie für einen Moment still sitzen, ich kann sie zählen, es sind 12 Eichhörnchen, sie schauen zu mir herauf, ich habe keine Ahnung, ob sie mich erkennen. Ich dachte an Taucher Noe, der gestern eine Nachricht sendete und an Nathalie Sarraute, ihre Bemerkung, sie habe mit ihrem Roman Kindheit versucht, Bilder ihrer Erinnerung zusammenzustellen, die sie wie aus einem Stück Watte herausziehen konnte. Gerne würde ich Noe von Nathalie Sarraute erzählen. Er ist nicht erreichbar, er vermag zu senden, aber kann keine Nachrichten empfangen. Gestern zuletzt aus 785 Fuß Tiefe vor Neufundland > ANFANG 02.12.08 | | | > s t o p. niemals werde ich aufhören zu schreiben und wenn ich nur noch ein wort schreiben könnte weil mir kein weiteres wort einfallen wird. s t o p an welchem wort werde ich mich festhalten? s m a l l g r e e n f i s h m a k i n g b a c k f l i p s . s t o p ich wünschte ich könnte lesen was ich je geschrieben habe. s t o p zurückkehren in zeiten die ich denke. s t o p korrigieren. s t o p löschen was ich einmal geschrieben und gedacht haben werde. t w o b l u e f i s h e s i n l o v e r i g h t w a r d s . s t o p solange ich schreibe atme ich. s t o p es ist ein und das selbe. s t o p ich hebe meinen linken fuß und sinke nach rechts. s t o p ich hebe meinen rechten fuß und sinke nach links. s t o p. erstaunlich. s t o p | | | ENDE 02.15.32 — stop
mexico
nordpol : 1.15 — Gestern Abend ist etwas Lustiges passiert. Schnecke Esmeralda entdeckte eine Möglichkeit, mein Fernsehgerät zu besteigen. Sie saß wohl schon eine Weile dort obenauf, als ich sie, kurz nachdem ich das Fernsehgerät eingeschaltet hatte, bemerkte. Vom aufblendenden Licht unter ihrem Haftfuß überrascht, begann sie, kreuz und quer über den Bildschirm zu flüchten, ihre Augen indessen streckte sie so weit wie möglich von sich, schließlich ließ sie sich einfach fallen, wand sich auf dem Boden als wäre sie verrückt geworden, lag dann eine Weile still, sodass ich mich vorsichtig näherte, weil ich fürchtete, sie könnte ernsthaft Schaden genommen haben. Ich fuhr, um ihre Lebensgeister zu locken, mit einem feinen Pinsel über ihre feuchte, ledrige Haut, und bemerkte bald, wie ein Schimmern über ihren Körper wanderte. Kurz darauf streckte sich ihr Körper unter ihrem schweren Gehäuse in der Art der Schecken, wenn sie sich erheben, und wanderte über den Boden fort in die Diele und von dort aus in die Küche hoch auf den Tisch, wo sie nun seit Stunden auf einer Banane sitzt. Ich glaube, sie schläft, ihre Turmaugen haben sich in den Körper zurückgezogen, aber sie erwacht unverzüglich, wenn ich und solange ich telefoniere, zum Beispiel mit M., die von ihrem Freund erzählt, der bald nach Mexiko reisen wird. Sie wohnt seit Jahren mit ihm in einer Wohnung, ohne ein Wort mit ihm zu sprechen. Sie sagt, jede seiner Reisen seien für sie mit dem Wunsch verbunden, er möge bald zurückkehren, sie sei fröhlich, sobald er wieder in die Wohnung trete, sprechen werde sie jedoch nie wieder mit ihm an diesem Ort, und das sei gut so, weil sie sich in dieser Weise zu Hause nie streiten, sie lebten sehr harmonisch, er mache immer Frühstück für sie, er lege Fotografien, zum Beispiel von Mexiko, auf ihren gemeinsamen Tisch, sie suche dann die Guten heraus, Bilder, die gelungen sind, es gebe nie Diskussionen deswegen, weil sie eben nicht mehr miteinander sprechen, höchstens mit den Augen und mit den Händen oder mittels Gegenständen, die irgendwo liegen oder nicht liegen. — stop
tintenfinger
lima : 0.55 — Mit dem langsamen Verschwinden der Briefe flüchten unsere Postwertzeichen in Schachtelbehälter, in Alben, in Museen, kostbare, bunte Wesen von Papier, die wir noch mit unseren Zungen befeuchteten, um sie mit Briefumschlägen für immer zu verbinden. Auch Gesten, die den Briefen zugeordnet sind, werden sich nach und nach verlieren. Die Geste des Zerreißens beispielsweise, oder die Geste des Zerknüllens. Wann habe ich zuletzt beobachtet, wie der Empfänger eines Briefes sich dem geöffneten Dokument mit der Nase näherte, um von der Luft der geliebten schreibenden Person zu atmen, die mit dem Brief gereist sein könnte? Verloren die Abdrücke der Tintenfinger, die Ränder einer Briefseite zierten, verloren auch das feine Geräusch der Skalpelle, indem sie teilend durch das seidene Futter der Kuvertkoffer ziehen. Ein absurder Gedanke möglicherweise, wie ich den E‑Mailbrief einer Behörde, der mich zornig werden lässt, ausdrucke, wie ich ihn in einen Umschlag stecke, wie ich ihn für einige Sekunden in Händen halte, wie ich mich konzentriere, wie ich den Brief genussvoll in winzige Teile zerlege. — stop
brief an dornier
echo : 2.02 — Sehr geehrte Damen und Herren von der Stiftung Dornier für Luft- und Raumfahrt! Ich wende mich hiermit höflichst mit der Bitte um Unterstützung an Sie, obgleich ich nicht sicher sein kann, mit meinem Anliegen Ihr Gehör finden zu können, da mein Vorhaben weder Aufgaben bemannter Luftfahrt, noch Aufgaben bemannter Raumfahrt berühren wird. Ich hoffe dennoch für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, es geht nämlich darum, einen kugelförmigen Körper zu entwickeln, nicht schwerer als 1,5 Gramm, der in der Art und Weise der Pflanzenflugsamen mit dem Wind durch die Welt reisen könnte. Im Objekt enthalten sein sollten je eine Kamera mit einem 360°-Objektiv, eine höchst leistungsfähige Batterie sowie ein Sender, der in Minutenfrequenz aufgenommene Bilder des Zufalls an einen Empfänger veräußern würde, an eine menschliche Person oder einen Computer, die sich um die Dokumentation der übermittelten Aufnahmen bemühen, sie katalogisieren, bewerten und gegebenenfalls veröffentlichen würde. Eine außergewöhnliche Eigenschaft dieses mikroskopisch kleinen Wesens sollte sein, dass es in seiner Form sehr flexibel sein wird, einer Flüssigkeit ähnlich. In dieser Weise existierend würde es beinahe jedes Hindernis überwinden, sich kaum irgendwo dauerhaft verfangen, deshalb für sehr lange Zeit auf Reisen sein, auch mit Meeresströmungen wandern, mit Dünen der Wüsten, durch Stadtlandschaften vagabundieren, durch Waldgebiete und Steppen, indessen immerzu fotografierend, eine zufällige, von keiner menschlichen Person vorbestimmte Spur gefangenen Lichts verzeichnend. Melden Sie sich bitte, sofern ich Ihnen aus dem Inneren meiner Vorstellung im Detail berichten darf. Ihr Louis – stop
ai : VIETNAM
MENSCH IN GEFAHR: „Die vietnamesische Anwältin und Menschenrechtlerin Lê Thu Hà wurde am 16. Dezember festgenommen. Kurz zuvor am selben Tag war auch der bekannte Menschenrechtsanwalt Nguyễn Văn Đài festgenommen worden. Bisher durfte sie keinen Besuch von anderen Aktivist/innen erhalten. Sie läuft Gefahr, gefoltert und anderweitig misshandelt zu werden. / Die Rechtsanwältin Lê Thu Hà soll am 16. Dezember inhaftiert worden sein, als Sicherheitskräfte die Wohnung des Menschenrechtsanwalts Nguyễn Văn Đài in der Hauptstadt Hanoi durchsuchten. Der Anwalt war am Morgen desselben Tages festgenommen worden. Weitere Informationen zu seinem Fall finden Sie in UA-292/2015. Lê Thu Hà ist Mitglied der von Nguyễn Văn Đài gegründeten Organisation “Bruderschaft für Demokratie” (Brotherhood for Democracy). Sie befindet sich derzeit im B14-Gefängnis in Hanoi in Untersuchungshaft. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits angeklagt wurde./ Lê Thu Hà war bereits am 23. September festgenommen worden, gemeinsam mit vier weiteren Mitarbeiter/innen des unabhängigen YouTube-Kanals “Lương Tâm TV” (“Gewissens-TV”). Sie war als Englisch-Übersetzerin für den Sender tätig gewesen, der seit August 2015 auf YouTube kurze Clips über die Menschenrechtslage in Vietnam ausstrahlt. Alle fünf waren bis spätabends von der Hanoier Sicherheitspolizei festgehalten worden. Im April hatten die Behörden den Reisepass von Lê Thu Hà eingezogen, kurz bevor sie von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt fliegen und von dort aus einen Flug ins Ausland nehmen wollte. / Am 20. Dezember versuchten einige Aktivist/innen, Lê Thu Hà im B14-Gefängnis zu besuchen, durften sie jedoch nicht sehen. Sie läuft Gefahr, gefoltert und anderweitig misshandelt zu werden. Verteidiger/innen der Menschenrechte, gegen die in Vietnam strafrechtliche Vorwürfe erhoben worden sind, werden während der Untersuchungshaft bzw. in der Ermittlungsphase häufig unmenschlich behandelt.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 2. Februar 2016 hinaus, unter > ai : urgent action
2 minuten
alpha : 5.25 – Eine Freundin, B., erzählte, sie sei kürzlich in einer Straßenbahn gefahren, da habe ein Mann in ihrer Nähe Platz genommen. Sie habe gerade gelesen, als sich der Mann fast lautlos setzte, sie habe kurz ein wenig den Blick gehoben und auf dem Unterarm des Mannes die Zeichen ISLAM entdeckt, diese Zeichen seien dort eintätowiert gewesen, eine Hautbeschriftung wie für die Ewigkeit eines ganzen Lebens. Sie habe dann erst einmal ihre Lektüre fortgesetzt, aber sie habe sich nicht länger auf ihr Buch konzentrieren können, darum habe sie den Blick gehoben. Ihr Blick sei über die Inschrift ISLAM, sie war tatsächlich noch immer dort gewesen, hinweggehuscht zum Gesicht des Mannes hin, das ein junges Gesicht gewesen sei. Der Mann habe sie äußerst bedrohlich, also aggressiv oder so ähnlich, betrachtet, ein Blick unentwegt, ein Blick ohne einen Lidschlag, da habe sie sich gefürchtet, habe ihren eigenen Blick wieder gesenkt und das Buch angesehen, aber natürlich nicht gelesen, sondern nachgedacht. Ja, was sie gedacht habe, sei nicht gerade angenehm gewesen, sie habe sich überlegt, ob der Mann, der ihr gegenübersaß, vielleicht eine Waffe, gar einen Sprengstoffgürtel tragen könnte. Ihr sei auch in den Sinn gekommen, dass sehr viele Menschen in der Straßenbahn gefahren seien, was eigentlich ein gutes Zeichen gewesen sei, weil man ihr hätte helfen können, einer gegen viele, aber dann habe sie daran gedacht, dass gerade dort, wo viele Menschen sich befinden, Bomben explodieren, weil man in dieser Weise viele Menschen auf einmal umbringen könne, und sie habe den Eindruck gehabt, dass sie sofort aufstehen und aussteigen sollte. Aber dann habe sie sich gesagt, dass sie das jetzt aushalten müsse, und deshalb sei sie sitzen geblieben, und das alles in ein oder zwei Minuten. — stop
nahe turku
nordpol : 5.12 – Gestern, es ist natürlich Nacht gewesen, überlegte ich, ob es eventuell möglich sein könnte, eine Uhr von reinstem Eis zu konstruieren, eine Uhr, die Zeit anzuzeigen, eine funktionierende Uhr, nicht nur einfach eine schöne Uhr und kalt, eine Uhr mit einem Uhrwerk von Eis, mit Zahnrädchen, die zu Wasser würden, wenn man sie erwärmte, und einem größeren und einem kleineren Zeiger aus den Tiefen des Humboldt-Gletschers sowie einem Zifferblatt von Schnee. Plötzlich halte ich einen Apfel in der Hand und friere und beschäftige mich eine halbe Stunde mit der Frage, woher die Vorstellung einer Eisuhr vielleicht gekommen sein könnte. — stop
nahe central park
alpha : 6.55 – Früher Abend, Sommer. Ein Reporter befragt ein Mädchen nahe Central Park. Das Mädchen, 8 Jahre alt, trägt ein rotes Kleid. Was willst Du einmal werden, will der Reporter wissen. Das Mädchen schaut sich kurz um. Es scheint seine Antwort bereits zu kennen, aber vielleicht ist seine Antwort ein Geheimnis, von dem nicht jeder Kenntnis haben darf. Das Mädchen sagt: Ich will Meerjungfrau werden, und verdreht die Augen. Das ist aber eine schöne Idee, antwortet der Reporter. Das Mädchen überlegt für einen Moment. Nein, sagt es dann, das ist keine Idee, sondern Bestimmung. Freust Du Dich, Meerjungfrau zu werden, fragt der Reporter. Aber natürlich, sagt das Mädchen. Seit wann weißt Du denn, dass Du Meerjungfrau werden wirst? Ach, schon immer, antwortet das Mädchen, und verdreht wieder die Augen. Für einen Augenblick schweigt der Reporter, um dann fortzusetzen: Was ist die größte Herausforderung für Dich auf dem Weg, eine Meerjungfrau zu werden. Oh, sagt das Mädchen, die Luft anzuhalten. Jetzt hüpft es davon. — stop
louis an louis
romeo : 6.55 – Du wirst Dich vielleicht wundern, lieber Louis, weshalb ich für Dich notiere in dieser Weise auf eine Seite Papier von Heißluftballonen über der Stadt Turku, unter welchen in Körben schlafende Menschen wohnen. Ich erzählte Dir von einer schneeweißen Spinne mit acht hellblauen Augen, die im Gefrierfach Deines Kühlschranks wohnt. Erinnerst Du Dich? Wie wir durch Istanbul fahren im Winter im Wagen einer alten Straßenbahn auf der Suche nach Mr. Pamuk. Wir sind allein im Waggon, es ist schon spät, wir sitzen gleich hinter der Kabine des Fahrers und erzählen lauthals von der Erfindung der Trompetenkäfer. Der Fahrer, ein älterer Herr, nickt immerzu mit dem Kopf, und wir überlegen, ob er unsere Sprache vielleicht verstehen könnte, also erzählen wir weiter, wir erzählten von Vögeln ohne Füße, die niemals landen, von Tiefseeelefanten, die den Atlantik in Herden durchstreifen, und von der Sekunde da Melly Cusaro, wohnhaft in Brooklyn, an ihrem 10 Geburtstag beschloss, Astronautin zu werden. Wenn Du diesen Brief lesen wirst, lieber Louis, wird ein Jahr später sein. Ich habe diesen Brief vor genau 365 Tagen für Dich aufgeschrieben, verbunden mit der Anweisung, ihn am 1. Dezember 2015 an Dich zuzustellen. Im Text sind wesentliche Passwortkerne für Deine Schreibmaschine enthalten, gut versteckt, Du wirst sie, sofern notwendig, wiedererkennen. Würdest Du bitte noch in dieser Stunde, da Du meinen oder Deinen Brief gelesen haben wirst, Passwortkerne, mit neuen Phrasen und Geschichten versehen, einen weiteren Brief notieren, zu senden an Louis im Auftrag: Zuzustellen am 14. Dezember des Jahres 2016. Sei herzlich gegrüßt. Alles Gute! Dein Louis – stop