ulysses : 17.25 — Heute Nachmittag wollte ich ein Nachtbuch kaufen. Ich spazierte deshalb über die Zentralstation gegen 16 Uhr im Zitronenlicht mit meiner Filmkamera. Ich ging sehr langsam, schaute über schattige Bahnsteige, schaute genau dorthin, wo die Verkäufer der Nachtbücher manchmal sichtbar werden. Man kann die Verkäufer der Nachtbücher immer nur dann erkennen, wenn man an eine eigene Geschichte denkt, an eine Geschichte, die man einem anderen Menschen erzählen könnte, zum Beispiel, um diesen Menschen glücklich zu machen oder um ihm die Zeitnot zu vertreiben, wenn er nicht sofort glücklich werden kann. Also dachte ich an Billy, den Kentaur, wie er sich freute, weil er auf einem Raubzug im Gebirge ein Telefonverzeichnis der Stadt Chicago fand, nahe eines rauchenden Jagdfischerlagers. Ich musste dann nicht lange weitergehen. Auf Bahnsteig 15 war gerade ein Zug aus Amsterdam eingetroffen, dort saß auf einer Bank ein Nachtbuchhändler und lachte, als ich mich neben ihn setzte. Billy, sagte er, Du denkst wieder an Billy. Das ist gut, mein Lieber, das wird eine feine Geschichte werden. Haben wir einen Wunsch? Und schon war er wieder verschwunden und ich spazierte weiter und jetzt ist früher Abend und ich sitze auf meinem Sofa, ein Buch für die Nacht liegt neben mir, und warte, dass es dunkel wird, um die Geschichte eines fernen Menschen zu lesen, die mir die Zeitnot vertreiben wird. Ich weiß jetzt, dass die Händler der Nachtbücher weder für eine Fotografie noch für einen Film zur Aufzeichnung geeignet sind. Sie haben ihr ganz besonderes Licht.
Aus der Wörtersammlung: haut
ein gelungenes gespräch
echo : 15.12 – Das Mädchen steht im Zug neben meinem Koffer, der sie überragt. Gerade noch hat sie den Himmel betrachtet. Der Himmel bewegt sich heute schneller als sonst. Aber jetzt sieht sie mich an, lächelt, sagt, sie heiße Nadine. Das ist ein wunderschöner Name, antworte ich, wie alt bist Du denn, Nadine? Rasch schaut das Mädchen zu seiner Mutter hin, schaut nach, ob alles in Ordnung ist. Dann hebt sie die linke Hand und dort einen Finger und noch einen Finger und noch einen Finger, ihre zweite Hand kommt hinzu und ein weiterer Finger, sodass Nadine bald schon 7 Jahre alt geworden ist. Als sie den achten Finger hebt, hält das Mädchen inne. Sie sieht jetzt sehr unglücklich aus, vielleicht weil sie bemerkt, dass sie weiter zählen kann, als die Zeit in Jahren, die sie bereits lebt. Ja, sie sieht mich an und ich erkenne an ihren Augen, dass sie gleich weinen wird. Also hebe ich beide Hände und zeige mit meinen Fingern die Zahl 8. Kurz darauf kniet ein Finger nieder und ich zeige die Zahl 7, und Nadine macht meine Bewegung nach, und weil sie bereits ein sehr waches Kind geworden ist, sinken zwei weitere Finger und ich mache es ihr gleich und wir lassen beide unsere rechten Hände sinken. Nadine wird fünf, dann vier, dann drei. Als Nadine zwei Jahre alt geworden ist, bemerkt sie, dieses Mal mit Trotz im Gesicht, dass etwas nicht stimmt, weil noch immer drei, nicht zwei meiner Finger aufrecht zu sehen sind, und sie betrachtet den Himmel, der sich schneller bewegt als sonst, und sie betrachtet mein Gesicht und zunächst die Augen, dann den Mund ihrer Mutter und jetzt bewegt sie ihre Hand und sie sagt, nein, soviel, und zeigt mir das Ergebnis ihrer Arbeit und lächelt und leuchtet, nein, glüht vor Glück, als auch ich meinen vierten Finger in Bewegung setze.
sirius
kilimandscharo : 0.28 — Gegen Mitternacht stehe ich im Arbeitszimmer, hebe beide Arme, mache Flügel, weil ich darüber nachdenke, wie es wäre, gewichtslos zu sein. Ich habe mir vorgestellt, dass man vielleicht einmal auf die Idee kommen wird, Menschen zu erfinden, die ohne Knochen sind, weil sie Knochen nicht benötigen, weil sie ohne jede Schwere im Weltraum existieren auf großer Fahrt. Diese Menschen würden von einer kräftigen Haut begrenzt, legten sich vielleicht in wabenförmigen Strukturen zur Ruhe, wären faltbar und weich wie Medusen. Wenn sich zwei dieser Medusenmenschen in einem schwerelosen Raum begegneten, würden sie sich in einer Zartheit umschmeicheln, die uns Knochenmenschen grundsätzlich fremd ist, weil wir in der Begegnung, auch in der Liebe, gewohnt sind auf Widerstände stoßen zu wollen, auf Gegenwehr, auf eine Festigkeit, die wir benötigen, um sagen zu können, das bin ich und das bist Du. Ist das nicht ein bezaubernder Film, wie sich nahe des Siriussternes zwei uralte Medusenwesen durch einen Tango atmen, wie sie verliebt ihre pulsierenden, ihre lichtdurchlässigen Lungen betrachten? Wie könnten diese Wesen bekleideten sein, welche Bücher würden sie lesen, welche Musik würde sie in glückliche Schwingung versetzen, was werden sie essen, was werden sie trinken, was werden sie einmal von mir denken, wenn sie lesen, was ich heute Nacht bereits für sie aufgeschrieben habe? — stop
geraldine : island
~ : geraldine
to : louis
subject : ISLAND
Lieber Mr. Louis, wie geht es Ihnen? Ich hoffe, gut. Schreiben Sie mir einmal auf, wie es Ihnen geht, weil ich oft an sie denke. Gestern sind wir an Island vorbeigefahren. Ich war sehr schwach und konnte nicht an Deck. Ich habe durch das Bullauge meiner Kajüte geschaut. Eine dunkle Küste, die immer wieder einmal kurz aus dem Nebel tauchte. Aber jetzt sitze ich wieder an Deck. Erst kam der Doktor, dann kam Vater und hat mich hinaufgetragen. Heute ist die Luft klar und kalt. Man kann das Ende des Meeres nicht erkennen, ich meine, man kann nicht sehen, wo es aufhört kurz vor dem Himmel. Sehr seltsam. Ich suche den Horizont und manchmal, wenn ich glaube, dass ich ihn erkannt habe, ist alles unscharf geworden. Vielleicht liegt das auch an den Schmerzen, die ich habe und dass mir oft die Kraft fehlt, meine Augen noch offenzuhalten. Ich habe für Vater ein wenig die Möwen gefüttert und wir haben gelacht und ich habe wieder einmal gesehen, wie groß seine Füße doch sind. Als er mich allein gelassen hatte, habe ich das Brot für die Möwen auf den Boden vor mich hingeworfen, weil ich nicht die Kraft habe, das Brot in die Luft zu werfen. Kann kaum noch den Bleistift halten. Eis schwimmt im Wasser. — Ihre Geraldine
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 6.9.2008
20.16 MESZ
lucie
sierra : 6.02 — Das sind lustige Tage, Tage wie dieser hier nach durcharbeiteter Nacht. Noch immer, drinnen wie draußen, sehr warme und feuchte Hitze. In der Dämmerung schloss ich die Fenster. Auf das Bett waren leichte Tücher gelegt, das luftigste Material, das zu finden gewesen ist, die Fenster verdunkelt, alles bereit, den beginnenden Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde macht. Ich dachte, dass ich nichts denken sollte, schaute nach Lichtern, die unter den Lidern in Schlafaugen wandern. Fast war ich weggekommen, als eine Fliege auf meiner Schulter landete und sofort mit dem Mundstempel nach Salz und anderen Dingen zu forschen begann. Ich sagte, bitte, bitte nicht, Lucie, heute bitte nicht, ich muss schlafen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hörte, wie sie eine langsame, traurig summende Runde linksherum durch mein Zimmer flog. Dann schlief ich ein und träumte zwei blaue Schnecken. Sie waren von kühler Temperatur und hatten sich wie Polarfüchse in einer Schneehöhle, in meine Augenhöhlen gelegt. Als ich wach wurde, als ich zunächst wach geworden war, wie immer mit geschlossenen Augen, hörte ich Gewitterdonner, dann entdeckte ich Lucie in nächster Nähe. Sie hatte sich, während ich träumte, vorsichtig auf den Rücken meiner linken Hand gesetzt und ihre Beine angezogen, sodass sie nicht saß, vielmehr auf mir lag. Ja, ist es denn Fliegentieren möglich, die Augen zu schließen? — stop
flugglas
nordpol : 22.05 — Lag nachmittags unter Sonne vor Ameisenstadt. Beobachtete, wie Bewohner, nein, Konstrukteure der knisternden Metropole, Käfer, Spinnen, Fliegen, Raupen, Rosenblätter, auch menschliche Papiere ins Wohngehäuse transportierten. Was, fragte ich mich, wird mit einer getöteten oder einer gelähmten Fliege, mit schlafenden Käfern und schlafenden Spinnen geschehen hinter der Fichtennadelhaut? Vielleicht einmal mit einer sehr kleinen Kamera eintauchen und schauen. Ich würde wohl auf eine Halle treffen, auf einen Ort der Zerlegung, des Tranchierens am laufenden Band. Hier also werden Prachtfliegen zerteilt und dort noch lebende Spinnen fein sortiert. In tiefer gelegenen Arsenalen dann die Kammer der Fluggeräte, die Kammer der Fliegen‑, der Libellenflügel, bitter duftende Luft, leichtes Flugglas bis unter die Decke geschichtet. In einer weiteren Höhlung sind je nach Länge und Stärke Spinnenbeine sortiert und aufeinandergelegt, Baumstämme, haarig, noch immer in zitternder Bewegung. Stunden werde ich in Magazinen schillernder Augen verweilen, ein begeisterter Zeuge in Fabriken gefangener Spinnen. Man hat ihnen die Beine abgenommen, aber sie leben und singen feinste Seide. Werden sie müde, werden sie an Soldaten verfüttert. — Kurz nach elf Uhr. Abend. Gerade eben hörte ich vom Tod des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. — stop
luft
echo : 2.32 — Das Gewicht handwarmer Cumuluswolken.
ein kind
marimba : 6.16 — In der Schnellbahn vom Flughafen wieder ein merkwürdiges Kind beobachtet. Das Kind saß auf dem Schoß der Mutter, hatte einen Schnuller im Mund und betrachtete Fahrgäste, die dort in seiner nächsten Nähe saßen oder standen. Alle waren sie müde, ein Langstreckenflug von New York her über den Atlantik lag hinter ihnen, das Kind aber schien gut geschlafen zu haben. Es hatte blitzblanke Augen von dunkelbrauner Farbe, und mit diesen Augen nun arbeitete es sich von einem Erwachsenengesicht zum nächsten. Wenn die Augen des Kindes ein Gesicht erreichten, verweilten sie eine gewisse Zeit lang, als ob sie sich das Gesicht für immer einprägen, oder aber als ob sie in dem Gesicht etwas finden wollten, nach dem gesucht werden musste. Wenn das Kind mit der Beobachtung eines Gesichts fertig geworden war, hüpften seine Augen auf das nächste Gesicht, und so weiter und so fort. Nie, ich meine, nie, solange ich das Kind und seine Augen beobachtete, kehrte sein Blick zu einem Gesicht zurück, das es bereits einmal besucht hatte, sodass ich behaupten möchte, dass seine Augen, das heißt, das Gehirn des Kindes, den Raum des Zuges systematisch untersuchte. Für eine Sekunde hatte ich den Gedanken, dass das Kind vielleicht ein uralter Mensch gewesen war, der rückwärts lebte, für den sich die Zeit umgekehrt hatte, der bald den Anfang seiner Existenz wieder erreichen würde, der noch einmal alles ansah, mit Kinderaugen, aber vielleicht einem uralten Gehirn. Wer aber, wenn ich dieses Gefüge weiterdenke, war diese müde Frau gewesen, auf dessen Schoss das Kind ruhte und schaute? – Weit nach Mitternacht. Habe den Verdacht, diese Geschichte schon einmal erzählt zu haben. Ein Déjà-vu. Werde mir sofort zur Beruhigung eine kleine Ente braten. — stop
fliegende arme
delta : 0.05 — Wieder kurz nach Mitternacht. Immer schneller laufen die Tage. Gerade eben entdeckte ich auf Karteikarte 705 eine Notiz, die ich am 7. März 2006 in einem anatomischen Präpariersaal vermerkte. Sie geht so: Heute beginnt die Präparation der Gesichter. Wilhelm, 21, erzählt, er habe von hautlosen Armen geträumt, die an Propellerflügeln hinter ihm her durch den Saal schwebten. Meistens schlafe er aber gut. Wenn Wilhelm einmal nicht schlafen kann, liest John Steinbeck. Das beruhige. — stop
simbabwe
delta : 0.02 — Gestern, am frühen Nachmittag, legte ich mich auf mein Sofa, weil ich von der Nachtarbeit sehr müde war. Ich stellte mein Fernsehgerät an, dort lief ein kleiner Charlie Chaplin Film, sofort schlief ich ein. Als ich wieder wach wurde nach zwei Stunden, war der kleine Film zu Ende und ich sah in einem anderen Film eine Frau in einer grünen Landschaft auf dem Erdboden liegen. Die Frau, die ich sah, war eine afrikanische Frau, eine Bürgerin des Staates Simbabwe. Sie lag dort in Simbabwe auf dem Boden, weil sie so schwach zu sein schien, dass sie nicht sitzen konnte. Sie war ungefähr so alt wie ich oder sehr viel jünger, der tägliche Hunger hatte sie vielleicht älter gezeichnet, und sie schaute in die Kamera, eine europäische Kamera, und sagte, dass sie so gerne eine Apfelsine haben würde. — stop