echo : 20.02 UTC — Seit einigen Tagen wohnt eine Fliege in meinen Zimmern, mit mir unter dem Dach. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass jene Fliege, die ich zuletzt beobachtet habe, als ich kurz vor dem Schlaf noch einmal in die Küche trat, dieselbe Fliege war, die mich morgens schon im Flur mit einem Flugmanöver begrüßte. Da ich meine Fenster während der Nacht geöffnet hatte, könnte die Abendfliege meine Wohnung verlassen haben, indessen die Morgenfliege irgendwann in der Nacht hereingekommen war, um zu bleiben. Ich stelle fest: Ich vermag, nach Beobachtung ihrer Gestalt, eine Fliege von einer anderen Fliege nicht zu unterscheiden; sie sind groß oder klein und schillern und haben eine Flügelstimme, die mir je vertraut zu sein scheint. Nun ist jedoch Folgendes zu erzählen. Diese, eine Fliege, die vermutlich bereits seit Tagen bei mir wohnt, verhält sich, wie noch nie eine Fliege zuvor in meiner Wohnung sich verhalten hatte. Sie folgt mir nämlich Tagein, tagaus. Sobald ich mich von einem Stuhl erhebe, begleitet mich die Fliege in den Flur und weiter in mein Arbeitszimmer und wieder zurück. Sie fliegt, weil sie mir im Gehen auf dem Fußboden, an einer Wand oder einer Decke, nicht folgen könnte, an meiner Seite, und zwar in der Höhe meines Kopfes. Ich habe diese Beobachtung mehrfach überprüft, indem ich meine Aufmerksamkeit auf diese eine Fliege lenkte, bevor ich eine Wanderung durch die Wohnung begann. Die Fliege scheint auf mich zu warten, dass ich etwas unternehmen möge. Ich habe ihr einen Namen gegeben: Die Fliege heißt Louis. Louis wünscht, so mein Eindruck, für den Rest seines Lebens bei mir zu bleiben. — stop
Aus der Wörtersammlung: indessen
von handboten
sierra : 22.01 UTC — Terroristen planten einen Angriff auf zivile Menschen im Süden Israels jahrelang. Ihre Kommunikation, bis zuletzt unbemerkt, muss über Papiere und menschliche Boten organisiert worden sein. Später höre ich, sie telefonierten mittels von Hand gelegter Telefonleitungen in Tunneln unter der Stadt Gaza. Ich stelle fest, die Folgen ihrer Tat, werden noch immer in der digitalen Sphäre verhandelt. Ich beobachte diese freundlichen Vögel, die rücklings in Händen der Menschen liegen, indessen sie mit ihren Fingern durch blutige Kanäle segeln. Nie könnte ich präzise sagen, wie sich jene Menschen, die ich beobachte, in dieser Zeit ihres Segelns verändern, ihr Gehirn, ihre Ansichten, ihre zukünftige Handlungsweise. — stop
Mutters letzter
Sommerhut der ihr immerzu
in die Stirn rutschte
als noch Sommer mit
Mutter war
stehschläfer : sars cov 2
ulysses : 12.58 UTC ‑Sanfte Frauenstimme spricht: Achtung! Halten Sie 1 Meter 50 Abstand. Meiden Sie Menschenansammlungen! In der Halle, indessen kein Mensch zu sehen, kein Koffer, kein Hund, keine Katze, aber Mäuse, ein gutes Dutzend Mäuse, die über den spiegelnden Marmorboden flitzten, als wären da Schlittschuhe an ihren Füßen. Ich war die einzige menschliche Person an einem Ort, der vermutlich nie ohne Menschen gewesen ist. Ich erinnere mich, selbst inmitten der Nacht habe ich im Terminal des Flughafens immerzu flüsternde Menschen wahrgenommen, auch Schlafende auf Sitzbänken oder Stühlen der Cafés. Nun Stille, kein Traum erzählt. Selten einmal das Geräusch sich bewegender Zeichen auf einer Anzeigetafel. Aus Neuseeland kommend sollte Minuten später ein Flugzeug landen, ein Hinweis wie ein letzter Reflex. Jene über den spiegelnden Boden dahingleitenden Mäuse jedoch, unbeirrt, ob sie sich wunderten über diese eine wartende Person im Saal, die ich selbst gewesen war in einem Moment des Notierens auf meiner flachen Schreibmaschine? Wie ich sie vermisste, Stehschläfer, meine Stehschläfer, welche nicht Vögel sind, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer, die Menschen sind, gegenwärtige Personen, die sich, sollten sie einmal zurückkehren, genau so verhalten werden, wie das Wort, das sie bezeichnet: Sie schlafen im Stehen. — stop
Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
bienengeschichte
lima : 18.12 UTC — Die folgende Geschichte ist natürlich eine erfundene Geschichte. Ich habe sie vor Jahren bereits schon einmal erfunden. Und wieder werde ich so tun, als wäre sie nicht erfunden. Am besten beginne ich in dieser eingeübten Weise: Seit zwei Wochen halte ich mich stundenlang unter freiem Himmel auf. Das ist deshalb so gekommen, weil ich eine Aufgabe übernommen habe, die mir nach wie vor sehr interessant zu sein scheint. Ich beobachte Bienen wie sie sich über eine Wiese fortbewegen. Deshalb liege oder knie ich oder laufe gebückt dahin, den Kopf dicht über dem Boden, was nicht immer ganz leicht ist, weil Bienen doch sehr schnelle Flieger sind. Jene Bienentiere, die ich beobachte, wohnen in nächster Nähe am Saum eines Waldes, dessen präzise Position ich nicht verraten darf. Sie tragen Nummern von 1 – 100 auf ihren Rücken, was für meine Arbeit sehr bedeutend ist, da ich Bienen, die ohne eine Nummer sind, niemals beachte. So lautet meine Instruktion, Bienen ohne Nummer ist nicht zu folgen, vielmehr ist solange Zeit am Rande der Wiese zu warten, bis eine Biene mit Kennzeichnung auf der Wiese erscheint. Ich trage eine Schirmmütze gegen die Blendwirkung der Sonne und eine Monokellupe, die vor meinem rechten Auge sitzt und mir einen präzisen Blick in die kleine Welt der Bienen in der Nähe des Bodens ermöglicht. Genaugenommen ist es meine vornehme Aufgabe, eine Biene, die ich einmal in den Blick genommen habe, solange wie möglich zu begleiten auf ihrem Flug von Blüte zu Blüte. Ich bin indessen nicht einmal stumm. Ich sage zum Beispiel: Hier spricht Louis. Es ist 15 Uhr und 12 Minuten. Ich folge Biene No. 58. Wir nähern uns einer Butterblumenblüte. Ja, das genau sage ich laut und deutlich. Ich spreche in ein Funkgerät, von dem ich weiß, dass mir in der Ferne im Seebad Brighton an der englischen Küste irgendjemand an einem anderen Funkgerät zuhört. Ich sage: Hier spricht Louis. Biene No 58: Landung Butterblume. OVER! Dann betrachte ich die Biene wie sie in der Blüte arbeitet und warte. Bald fliegt die Biene weiter und ich sage kurz darauf: Biene No 58: Landung Feuernelke. OVER! Ja, so mache ich das. Ich werde immer besser darin. Ich glaube, die Bienen mögen mich. Ich bin ihnen vertraut geworden. In einigen Tagen werde ich vielleicht etwas genauer erzählen, warum ich Bienen beobachte. — Das Radio erzählt von Menschen, die die russische Höllenmaschine der Stadt Mariupol überlebten. Manche würden nun in der Fremde lebend, Schlüssel ihrer verlassenen oder zerstörten Wohnungen in Taschen von Hosen und Mänteln und Kleidern mit sich führen. — stop
von den vasentieren
india : 3.15 UTC — Tagelang hatte ich überlegt, ob es sinnvoll wäre, über die Existenz der Vasentiere weiter nachzudenken. In diesem Diskurs mit mir selbst, hatten meine Vorstellungen über das Wesen und die Gestalt der Vasentiere, indessen weiter an Präzision zugenommen, ohne dass ich das zunächst bemerkte. Einmal wartete ich an einer Ampel unter einer Kastanie. Es war früher Abend gewesen und ich nutzte diese Situation des Innehaltens, um mir vorzustellen, wie es sein könnte, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigentlich nicht notwendig gewesen war, Vasentiere dürfen atmen, Vasentiere müssen atmen, und versuchte mich so wenig wie möglich zu bewegen, eine innere feste Struktur auszubilden, sagen wir, eben eine Art Behälter zu sein. Das ist gut gelungen, auch nachdem ich von einer Kastanie auf den Kopf getroffen worden war, bewegte ich mich nicht. In diesem Moment wurde stattdessen deutlich, dass Vasentiere niemals flüchten, weil sie nicht flüchten wollen und weil sie nicht flüchten können, ihnen fehlen Füße und Beine. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer organischen Konstruktion her begabt, Formen nachzuahmen, die geeignet sind, tiefere Gewässer in sich auszubilden, das ist nicht verhandelbar. Auch nicht, dass sie das Wasser zur Versorgung der Pflanzen, welchen sie Herberge bieten, aus der Luft entnehmen, sei sie noch so trocken. Möglich ist, dass Vasentiere, die in der Lage sind, mittels ihrer Gedanken Bewegung zu formulieren, eher unglückliche Wesen sein werden, daran sollte man unbedingt denken, ehe man sich an die Verwirklichung der Vasentiere machen wird. — Das Radio erzählt, hungrige Menschen hätten im März wilden Tauben nachgestellt, auch im April sei man unter Lebensgefahr auf Taubenjagd gegangen. — stop
saharaschwefel
tango : 0.12 — Herr Ludwig, den ich im Januar besuchte, erzählte mir, dass er sich vor Jahren wünschte, ein Schiffsmodell aus Streichhölzern zu bauen. Unverzüglich kaufte er damals einige Tausend der hölzernen Stäbchen, weil er sie auf diesem Wege insgesamt billiger erstehen konnte. Außerdem suchte er nach einem geeigneten Schiff, dessen Körper gut dokumentiert sein sollte. Seine Wahl fiel auf die RMS Queen Mary 1. Er lud Pläne aus dem Internet, Grundrisse, Blaupausen, Hunderte Fotografien sowie Lettercards, die an Bord des luxuriösen Schiffes von Passagieren während ihrer Reise notiert worden waren. Herr Ludwig erwähnte, dass er sich bald in ein Abenteuer verwickelt fühlte, seine Tage, die zuvor schwere und leere Tage gewesen seien, wären plötzlich leicht geworden und die Zeit ging nur so in Eilschritten dahin, dass es eine wahre Freude war, kaum aufgestanden sei schon wieder Abend gewesen. Im Dezember vor zwei Jahren, kurz vor Weihnachten, war Herr Ludwig seinen Angaben zur Folge mit der Vorbereitung seiner Rekonstruktionsarbeiten fertig geworden, und so öffnete er eine Schachtel Streichhölzer und fügte, nachdem er mit einem Messerchen Schwefelköpfe beider Stäbchen sorgsam abgetrennt hatte, mit einem Klebstoff, der wundervoll nach Walnusslikör duftete, zwei der Zündhölzer seitwärts aneinander. Nach einer Weile, er hatte mehrfach seinen Arbeitstisch umrundet, prüfte er die Festigkeit der Verbindung und war zufrieden. Er baute, in dieser Weise der Klebung fortfahrend, zunächst einen Schornstein des riesigen Schiffes, dann einen zweiten Schornstein, drei Wochen vergingen, bis beide Schornsteine fertig geworden waren, und auf den Tisch gestellt, sodass sie nun miteinander verbunden werden konnten. Die Hände des alten Mannes rochen in jenen Wochen seiner filigranen Arbeit nach Schwefel, und die Luft duftete nach Walnüssen und Aceton, und irgendwann in dieser Zeit muss sich Herr Ludwig, versehentlich oder mit Vorsatz, von seinen Schiffsbauplänen entfernt haben. Als Januar wurde, waren auf dem Tisch deutliche Konturen eines Dromedars zu erkennen, dessen Körper auf vier Schornsteinen ruhte, eine wunderbare Wandlung seiner Vorhabens, das Schiff baue er später, sagte Herr Ludwig, in dem er mit einer bewährten Bewegung einen Schwefelkopf von einem Streichholz trennte. Der Kopf hüpfte über den Tisch, und als er von der Kante des Tisches stürzte, war nicht das Mindeste zu hören gewesen. — Das Radio erzählt, in Mariupol sollen Menschen im März für wenige Minuten auf eine Straßenkreuzung getreten sein, um dort ihr Mobiltelefone gegen den Himmel zu strecken. Indessen tobte um sie herum der Kampf um die Stadt. — stop
von nashornkäfern
india : 3.25 — Gestern, am späten Abend, habe ich wieder einmal den Versuch unternommen, das Wort Streichholz so lange wie möglich in meinem Kopf hin und her zu bewegen, ohne indessen ein weiteres Wort zu denken. Kurz darauf habe ich meinen Versuch wiederholt, in dem ich das Wort Streichholz durch das Wort Nashornkäfer ersetzte, ebensolches eine Zehntelstunde später durch das Wort Coleporter, welches selbst kurz vor Mitternacht im Wortloop der Hibiskusblüte endete. Vorgestern noch hatte ich eine ähnliche Nachtübung durchgeführt. Wörter waren folgende gewesen: Samshepard, Hummervogel, Tictacto, Leporello. Ich stelle fest: Die lang anhaltende Wiederholung des Wortes Leporello bewirkt noch immer einerseits ein deutliches Gefühl von Hitze, anderseits eine Ahnung der Farbe Gelborange, ohne dass diese Farbe selbst vor meinem inneren Auge sichtbar werden würde. — Ein ukrainischer Soldat soll einer Journalistin erzählt haben, dass in der Nähe einer Front im Niemandsland eine Herde verlassener Kühe weidete. „Sie wanderten. So wussten wir, dass das Gebiet nicht vermint war. Wir dachten vielleicht sogar daran, uns als Kühe zu verkleiden, um die Russen anzugreifen. Trojanische Kühe. Aber dann haben die Russen die Herde erschossen.“ — stop
lichtauge
india : 22.12 UTC — Unter dem Dach im Zimmer meines Vaters stand ein Tisch, dessen Platte leuchtete, sobald man einen Schalter umlegte, der sich am rechten Vorderen der Beine des Tisches befand. Es war helles Licht, welches dem Tisch innewohnte, es war heller als das Licht des Himmels, heller als der Schein meiner Taschenlampe bei Nacht, es war deshalb vielleicht in meiner Erinnerung ein außerordentlich strahlendes Licht, weil ich mich über dieses Licht wunderte, dass es überhaupt existierte, weil doch der Tisch keine Lampe, sondern eben ein Tisch gewesen war. Manchmal saß mein Vater dort vor diesem Tisch und arbeitete, indem er Dia-Fotografien in das Licht des Tisches legte. Er saß ganz still, tief über die gläserne Platte des Tisches gebeugt und betrachtete seine Fotografien mittels einer Lupe, die er dicht an den Tisch herangeführt hatte. Sein linkes Auge war geschlossen, sein rechtes Auge indessen klein geworden, indessen er durch das geschliffene Glas hindurch jene Welt betrachtete, die er aufgenommen hatte. Dieses beobachtende Auge meines Vaters, das er auf mich richtete, sobald er mich kommen hörte, war ein seltsames Wesen, hell, als ob es etwas von dem Licht des Tisches in sich aufgenommen haben würde, um nun selbst zu einer Lampe geworden zu sein. — stop
taubenstrasse 8 / 508
alpha : 14.15 UTC — Mein Nachbar wohnt im 508. Stock in der Taubenstrasse 6. Indessen ich selbst ein Apartment der Taubenstrasse 8 in der 508. Etage bewohne. Es ist Dezember, Weihnachten. Der Strom ist ausgefallen. Wenn ich nun ans Fenster trete, sehe ich Joshua, wie er seinerseits mich betrachtet, der wiederum ihn betrachtet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir entfernt. Die Fenster lassen sich in dieser Höhe nicht öffnen. Und ich sehe, eine Wolke zieht vorüber, dass auch Joshua allein ist, weswegen ich auf einen Zettel in großen Buchstaben schreibe: Joshua, komm zu mir herüber, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt seinen Daumen. Er verschwindet im hinteren Teil seines Zimmers, der im Schatten liegt, kommt dann bald wieder zurück, mit einer Flasche Hollunderbeerensaft in Händen. Er trägt bereits einen Mantel und einen Rucksack und eine Mütze und Handschuhe. Er schreibt auf einen Zettel: Ich komme! Warte auf mich! — Das Licht in Joshuas Wohnung geht aus. Und so sitze ich und warte. Ich kenne Joshua schon lange Zeit. Einmal haben wir uns auf der Straße getroffen. Und jetzt ist Weihnachten. Schnee fällt. Und es ist ganz wunderbar still. — stop
irkutsk
marimba : 8.12 UTC — Ich beobachtete Filmaufnahmen, die in Irkutsk aufgenommen worden waren. Irgendjemand spazierte eine Straße entlang. Dort Häuser von Holz, Häuser, deren Fenster bis zum Boden reichten. Die Häuser wirkten, als würden sie langsam in den Boden versinken. Das komme, hörte ich, weil die Häuser über keinen Keller und kein Fundament verfügten. Sie seien auch nicht gut isoliert nach unten hin, sodass die Wärme, die Menschen mit Öfen oder ihren Körpern entfachten, den Boden unter den Häusern tauten. In der vergangenen Nacht träumte ich, in einem dieser Häuser selbst zu wohnen. Ich saß auf einem weichen Sofa und erzählte, dass ich geträumt habe, wie ich eine Straße in Irkutsk entlanggehe und filme, indessen ich mich selbst erkenne, wie ich in der Tiefe auf einem Sofa sitze. — stop