tango : 2.30 — Heiterer Stimmung war ich gestern Abend der Geschwindigkeit, mit welcher Waren, die ich kaufte, an der Kasse eines Supermarktes behandelt wurden, nicht gewachsen, vielleicht deshalb, weil ich überhaupt langsamer geworden bin, oder weil ich in dem Augenblick, da meine Ware über einen Scanner bewegt wurde, darüber nachdachte, ob es sich bei E‑Mails, die ich manchmal schreibe, noch um Wesen handelt, die man als Schriftstücke bezeichnen könnte. Ohnehin drohte ein Fiasko, da sich die Waren, die gerade in meinen Besitz übergegangen waren, hinter dem Fließband ineinander schoben wie Packeisschollen auf dem Atlantik vor Grönland. Eine junge kolumbianische Assistentin kam glücklicherweise bald zu Hilfe, ich führte mehrere gefaltete Papiertüten mit mir, die sehr sorgfältig bepackt werden mussten. Sie sprach nur wenige Wörter meiner Sprache, und sie schwitzte indessen und versuchte mir zu erklären, dass es in ihrem Land noch viel wärmer sei als bei uns in Europa, aber dass sie dort, auch im Regenwald nicht, niemals so heftig schwitzen würde wie hier, die Klimaanlage sei ausgefallen, dass ich etwas langsamer sei als üblich, wäre geradezu vernünftig. Ja, vermutlich bin ich langsamer geworden, und ich dachte, man könnte einmal Schnellkassen in dem Sinne bedenken, dass dort rasende Menschen mit rasenden Händen rasende Geldbörsen bedienen, alles ginge dort so schnell, dass man als ein langsamer Mensch, auf der anderen Seite der Zeit befindlich, nur noch Unschärfen in der Luft wahrnehmen würde, nicht aber einkaufende Personen, während einer wie ich als eine Fotografie erscheinen würde, als Etwas, das sich niemals bewegt. — Kurz nach zwei Uhr. Wunderbar kühle Luft. Who is Fred Wesley? — stop
Aus der Wörtersammlung: jung
ein zeitraum wird sichtbar
echo : 0.28 — Wann war es das erste Mal gewesen, dass ich von der Filmemacherin Laura Poitras hörte. Vielleicht im Sommer des Jahres 2013. Ich erinnere mich, jemand erzählte, sie sei eine in sich ruhende, sehr starke Frau, die niemals, auch in gefährlichen Situationen nicht, ihre Fähigkeit der Konzentration verlieren würde. In ihrem Dokumentarfilm Citizenfour, der vornehmlich in einem Hotel der Stadt Hongkong gedreht wurde, ist sie selbst kaum zu sehen. Ich meine ihre Gestalt sowie ihre Kamera in einem Spiegel für einige Sekunden wahrgenommen zu haben. Ein merkwürdiger, intensiv wirkender Film, dessen Bilder vage Vorstellungen der Ereignisse jenes Sommers mit wirklichen Bildern füllte. Edward Snowden sitzt barfuß auf einem Bett, meine Augen beobachteten ihn im Licht der vorgestellten, vermutlich sehr realen Gefahr, in der sich der junge, mutige und überaus klar sprechende Mann befand. Immer wieder hielt ich den Film an, um nachzudenken oder zu lernen. Einmal beobachtete ich indessen, wie sich Schnecke Esmeralda über den Boden meines Arbeitszimmers in Richtung eines geöffneten Fensters fortbewegte. Sie wanderte gemächlich die Wand hinauf zum Fensterbrett, wartete dort einige Minuten, während sie den Nachthimmel mit ihren Augen betastete, um sich schließlich hinaus an die raue Hauswand zu wagen. Einige Stunden später, in der Dämmerung des Morgens, kehrte sie zurück. Ihre Kriechspur schimmerte im ersten Licht des Tages an der Wand des Hauses, sie war, aus der Perspektive einer Schnecke betrachtet, weit herumgekommen. Den folgenden Tag über schlief Esmeralda tief und fest, wie mir schien, in der Küche auf dem Tisch. Ihr schweres Gehäuse lehnte an einer Aprikose. — stop
kyllini
alexandros panagoulis
alpha : 2.58 — Ich beobachtete einen jungen Mann, der lange Zeit neben einer Ampel vor einer Kreuzung stand, eine vornehme und zugleich merkwürdige Erscheinung. Der Mann trug einen eleganten, grauen Anzug, hellbraune, feine Schuhe, ein weißes Hemd und eine Krawatte, feuerrot. Er machte etwas Seltsames, er setzte nämlich seinen rechten Fuß auf die Straße, um ihn sogleich wieder zurückzuziehen, als ob der Belag der Straße zu heiß wäre, um sie tatsächlich betreten zu können. Das ging eine Viertelstunde so entlang, ein früher Nachmittag, es regnete leicht. Der Mann schien nicht zu bemerken, dass ich ihn beobachtete. Um uns herum waren sehr viele Menschen unterwegs gewesen, die die Kreuzung Broadway Ecke 30. Straße schnellfüßig unter sich drehenden Regenschirmen überquerten. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, der Mann würde sich verhalten wie eine Figur in einem sehr kurzen Film, der sich unablässig wiederholte. Einmal bleibt eine ältere Frau neben ihm stehen, sie schien zu zögern, aber dann trat sie doch entschlossen auf die Straße, um kurz darauf zurückzukehren und dem jungen Mann eine Tüte Nüsse zu überreichen. In genau diesem Augenblick ließ ich los und spazierte weiter in Richtung South Ferry, ohne mich noch einmal nach dem jungen Mann umzudrehen. — Kurz vor drei Uhr. Noch Stille draußen vor den Fenstern, kühle Nacht. Erinnerte mich vor wenigen Stunden an Alexandros Panagoulis, an das vorgestellte Bild des Dichters, wie er im griechischen Militärgefängnis Bogiati in einer Zelle sitzt. Er ist ohne Papier, er notiert Gedichte, die er aufhebt in seinem Kopf. Lange musste ich nach seinem Namen suchen, er war verschwunden gewesen, als hätte ich nie von ihm gelesen. — stop
siatista mittags jahre später
echo : 5.08 — Vor Jahren einmal wurde mir erzählt, ein sehr alter Mann habe sich aus Verzweiflung über die politische Lage seines Landes, andere meinten, weil er im hohen Alter noch hungern musste, an einem wunderschönen Maitag auf dem Marktplatz der malerischen Stadt Siatista, demzufolge in einer nördlichen Provinz Griechenlands, erschossen. Er habe ein Sturmgewehr für seinen letzten Schuss verwendet, eine Waffe, die seit dem Jahre 1944 im Keller seines Elternhauses in Ölpapier gewickelt lagerte. Beinahe wäre das Gewehr, einst Stolz des jungen Mannes im Kampf gegen deutsche Faschisten, für immer in Vergessenheit geraten. Im Detail war damals zu erfahren gewesen, die Kugel habe zunächst den Unterkiefer des alten Mannes durchschlagen, sei von dort aus in das Gehirn vorgedrungen und habe den Kopf über das linke Auge hin wieder verlassen. Bruchteile einer Sekunde später soll das Projektil eine Fliege getötet haben, die sich kurz zuvor auf den Weg südwestwärts gemacht hatte, um sich zuletzt in den Ast eines Salzbaumes zu bohren. — Ist das nun eine Geschichte oder eine Nachricht? Ich habe noch immer keine Antwort auf diese Frage. — stop
minutenbild
himalaya : 3.12 — In einer Schublade meines Vaters entdeckte ich Bleistifte, Spitzer, Lineale, Rechenschieber, Uhren und eine Trillerpfeife. Zwei Klebstofftuben, hart wie Stein, waren nie geöffnet worden. In einer Schachtel von Metall eine Handvoll Batterien. Sie gehörten zu einem Blutdruckmessgerät, das ich selten beachtete, solange mein Vater noch lebte. Es war ein Gerät für alte Leute, scheinbar unsichtbar für die Augen eines jungen Mannes. Ich erinnere mich, beinahe hätte ich dieses Minutenbild vergessen, wie mein Vater vor seinem Schreibtisch sitzt, die Manschette des Prüfgerätes um den linken Arm gelegt. Das Geräusch einer Pumpe ist zu hören, ein Brummen. Wie mein Vater nun reglos wartet auf den Moment, da das Gerät die Umklammerung seines Armes lockern wird, ein scheuer Blick, so stelle ich mir vor, auf Leuchtziffern, deren Bedeutung er fürchtete oder über die er sich freute. Vor einigen Wochen fand ich in einem Ordner lange Zahlenreihen in Tabellen, die der alte Mann selbst angefertigt hatte. Seine akkurate Schrift, jede Zeile ein Zeugnis von Überwindung, ein Beweis, dass mein Vater sich kümmerte, dass er kein Flüchtender gewesen war. — stop
tokio
ginkgo : 0.22 — Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, und auch damals fing es so an. Ein Kind wollte sehen. Der Junge konnte laufen, und er konnte an eine Türklinke heranreichen. Es steckte keinerlei Absicht dahinter, nur der instinktive Tourismus des Kindesalters. Eine Tür war dazu da, aufgestoßen zu werden; er ging hinein, blieb stehen, schaute. Da war niemand, der ihn beobachtet hätte; er drehte sich um und ging fort, wobei er sorgsam die Tür hinter sich zumachte. — Ich erinnerte mich an diese Zeilen Julian Barnes, als ich zum ersten Mal von B. hörte, der eine tiefe Leidenschaft für die Stadt Tokio entwickelt haben soll, obwohl er nie dort gewesen ist. Was weiß ich von B. an diesem Abend? Eigentlich nicht sehr viel. B. ist 52 Jahre alt, ungefähr 1,88 Meter groß, schlank, studierte slawische Sprachen, arbeitete als Übersetzer, Altenpfleger, Autor von Restaurantbeschreibungen, Dramaturg, Postschaffner, seit vier Jahren nun weder das eine noch das andere, weil er wohlhabend geworden ist durch unerwartete Erbschaft. Er blieb damals vor vier Jahren in seiner kleinen Wohnung, kaufte sich einen Computer mit einem großen Bildschirm und muss irgendwie in Tokio gelandet sein. Seinen ersten Besuch mittel der Streetviews (Google-Maps) beschreibt er als ein wesentliches Ereignis seines Lebens, er sei irgendwo in der Stadt gelandet, habe sich gewundert über die Enge der Straße, auf welcher er sich plötzlich befand, und über Bäume, die aus Häusern zu wachsen schienen. Ein Mann stand vor einem Getränkeautomaten, er schaute in die Kamera, die ihn gerade ablichtete. Seine Augen, durch Unschärfe verfremdet, waren nicht zu erkennen, aber eine Zigarette, die der Mann zwischen Finger seiner rechten Hand geklemmt hatte. So, erzählte B., habe es angefangen. Stunde um Stunde, Tag für Tag, bewegte er sich fortan durch die Stadt. Immer wieder entdecke er Spuren seltsamster Geschichten. Ich habe eine Tür geöffnet. — stop
alice austen
echo : 1.58 — Vor längerer Zeit einmal wollte ich ein Haus besuchen, das die Fotografin Alice Austen viele Jahre ihres Lebens bewohnte. Ich erinnere mich, es war ein bitterkalter Tag gewesen, Schnee bedeckte Staten Island, und die Luft war so eisig, dass selbst die Möwen nicht zu fliegen wünschten. Vermutlich deshalb, weil es so kalt gewesen war, blieb ich an der Railway Station Clifton im Zug, anstatt auszusteigen und ein paar Meter zu Fuß zu Austens Haus zu gehen. Ich fuhr weiter bis nach Tottenville, wo der Zug eine halbe Stunde wartete, um dann dieselbe Strecke zurückzufahren. Ein Angestellter der Bahngesellschaft dampfte wie eine Lokomotive über den Bahnsteig von Waggon zu Waggon, er schlug Eis von den Trittbrettern des Zuges. Als wir uns wieder in Bewegung setzten, ließ er sich auf eine Bank fallen und schlief sofort ein. Auch auf meinem Rückweg zum Fährschiffterminal stieg ich in Clifton nicht aus, es war noch immer stürmisch, und ich vergaß das Haus, das ich besichtigen wollte, und Alice Austen, die tausende Fotografien Manhattans zu einer Zeit angefertigt hatte, da das Fotografieren noch Mut, Kraft und Ausdauer erforderte. Gestern habe ich ein wenig Zeit auf der Suche nach ihr verbracht. Sie soll als einzige Frau der Insel Besitzerin eines Automobils gewesen sein. Auf einer Fotografie ist ihre Lebensgefährtin Gertrude Tate zu sehen, wie sie stillhält. Die junge Frau sitzt auf einer Veranda, die heute noch existieren soll, umgeben von Blumen, einer Wildnis so wild, dass sie die nahe Küste verbirgt. Auf einer weiteren Fotografie, die ich noch nicht kenne, soll Alice Austen an derselben Stelle im Alter von 26 Jahren zu sehen sein, auch sie sitzend, eine Selbstaufnahme, unter einem Strauß Blumen verborgen ein Gummiball gefüllt mit Luft, die sie mittels einer kräftigen Bewegung ihrer Hand durch einen Schlauch zu ihrer Kamera gepresst haben musste, um die Lichtaufnahme auszulösen. Ein Geräusch vielleicht, wie ein Atemzug möglicherweise, oder ein Seufzen. — stop
unterm maulbeerbaum
delta : 18.12 — Helena erzählt, sie habe einen Text notiert, 258 Seiten, in dem von einem jungen Mann die Rede sein soll, der sich unter einen Maulbeerbaum setzte, um seinen Pulsschlag zu zählen. Wie er nun gegen seine Müdigkeit kämpft, gegen das aufreizende Gefühl der Ameisenbeine, welche unter seinen Hosenbeinen spazieren, auch gegen Durst- und Hungergefühle, wie lange Zeit kann man so sitzen und zählen, nicht lange. Es war noch nicht einmal dunkel geworden, als der junge Mann aufstand und verschwand. Da war nun also ein Maulbeerbaum gewesen, irgendwo im Süden, ein paar Vögel außerdem, Hasen, Füchse, Eidechsen, Spinnen, Käfer und eine Erzählerin, die darauf wartete, dass der junge Mann wieder kommen und seine Pulse weiterzählen würde. Wie sie in ihrem Kopf Stunden, Tage, Wochen lang den Baum beobachtete, wie sie sich indessen einmal erinnerte an einen Freund, der verrückt geworden sein soll, weil er nicht damit aufhören konnte, Zeitungspapiere mittels Scheren zu zerlegen. Er sammelte Beweise für dies und das! Berge von Zeitungen soll er in seiner Leidenschaft für Beweissicherung zerlegt haben, auch unterwegs konnte er nicht damit aufhören, ein Seltsamer, der nur deshalb in Zugabteilen sichtbar wurde, weil die Papiere, die Zeitungen selbst damals, als er lebte, noch sichtbar gewesen waren. Heutzutage darf man, sagt Helena, in unsichtbarer Weise verrückt werden, fast alle sind wir schon längst verrückt, haben auf Computern Texte gesammelt, die wir niemals lesen werden, weil das Leben nicht reicht, auch nicht für Beweise. In ihrer Geschichte im Übrigen will sie eine weitere Erzählung versteckt haben, jedes einzelne Wort der Geschichte, auch ganze Sätze. Um welche Erzählung es sich präzise handelt, möchte sie nicht verraten. Die Erzählung soll von einer berühmten Schriftstellerin erfunden worden sein, eine wunderbare Miniatur. Sie wartet noch immer. — stop
5 uhr acht
nordpol : 5.10 — Ich hörte, junge Schmetterlingsfinken sollen nachts vom Singen träumen. — Ist das eine Nachricht? — stop