Aus der Wörtersammlung: kind

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sandor marai

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sier­ra : 10.14 — Lan­ge Zeit der Ein­druck, dass in mei­nem Leben nur weit ent­fern­te Wesen ster­ben, Wesen bei­spiels­wei­se, die Madras bewoh­nen, Wesen ohne Nie­ren. Dann, von einem Tag zum ande­ren, endet mei­ne Kind­heit. Erin­ner­te mich an eine Notiz des 84-jäh­ri­gen unga­ri­schen Dich­ters San­dor Marai. “In der Nacht urplötz­lich die Gewiss­heit, dass ich sterb­lich bin — nicht die Mög­lich­keit, son­dern die Tat­sa­che. Es war nicht beängs­ti­gend. — Und eini­ge Tage spä­ter, am 31. Okto­ber des­sel­ben Jah­res: Das Ster­ben beginnt damit, dass man es nicht mehr für unmög­lich hält zu ster­ben. 84 Jah­re lang habe ich es nie­mals für mög­lich gehal­ten, und ich hat­te recht.” – Elf Uhr fünf­und­zwan­zig in Suni, West­dar­fur. — stop
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hu jia

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6.08 — Ich besit­ze eine klei­ne Fern­seh­ma­schi­ne. Sie steht auf einem Brett, unter dem sich Rol­len befin­den, sodass sich das emp­fan­ge­ne Licht­bild im Raum her­um­fah­ren lässt. Ges­tern Abend, ich saß auf dem Sofa und schau­te in das Licht die­ser klei­nen Fern­seh­ma­schi­ne, kam eine jun­ge Frau ins Bild, das heißt, genau­er, die Kame­ra­ma­schi­nen, die das Licht für mei­ne Fern­seh­ma­schi­ne ein­zu­fan­gen, beauf­tragt waren, hat­ten sich weit weg in Chi­na auf die Gestalt die­ser jun­gen Frau aus­ge­rich­tet und für einen kur­zen Zeit­raum ihres Lebens hiel­ten sie an ihr fest, an ihrem jun­gen Gesicht, das vol­ler Trau­er gewe­sen war. — Was habe ich gese­hen, was habe ich gehört? — Da war eine jun­ge Frau, eine sehr blas­se jun­ge Frau, die in der chi­ne­si­schen Spra­che spre­chend davon erzähl­te, dass ihr Mann, Hu Jia, soeben von einem Volks­ge­richt zu 3 Jah­ren und 6 Mona­ten Haft ver­ur­teilt wor­den war, weil er sein Men­schen­recht auf freie Rede aus­übend gesagt und geschrie­ben hat­te, die Olym­pi­schen Spie­le des Jah­res 2008 sei­en für die Men­schen­rech­te in sei­nem Hei­mat­land eine Kata­stro­phe. Die jun­ge Frau hielt ein Kind in ihren Armen, einen Säug­ling. Wäh­rend sie sprach, beweg­ten sich ihre Hän­de in einer selt­sa­men Art und Wei­se vor Mund und Nase, Ges­ten von tie­fer Trau­rig­keit und Ver­zweif­lung, Ges­ten, die ihr Gesicht viel­leicht vor den Licht­ma­schi­nen schüt­zen soll­ten. Ich habe gese­hen, dass ihre Hän­de beb­ten. Dann war sie wie­der weg und auch ihr Kind.  – Fünf­zehn Uhr sie­ben in Lha­sa, Tibet. — stop

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blaue schuhe

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0.56 — Ich hat­te mir vor­ge­nom­men, eine klei­ne Notiz über eine Amei­se zu schrei­ben, die ich ges­tern Nach­mit­tag in einem U‑Bahn-Wag­gon ange­trof­fen hat­te. Aber dann habe ich mei­ne Hän­de gese­hen, wie sie dicht über der Tas­ta­tur der Schreib­ma­schi­ne auf Anwei­sung war­te­ten. Ich dach­te, dass mei­ne Hän­de jene ana­to­mi­schen Struk­tu­ren mei­nes Kör­pers sind, die ich am bes­ten ken­ne, weil ich sie viel­fach betrach­tet habe. — Alle Hän­de, die ich erin­nern kann, sind die Hän­de eines Men­schen, der nicht mehr Kind ist. Aber ich erin­ne­re mich an Bewe­gun­gen, die Kis­sen in einem Kin­der­wa­gen sor­tie­ren. Ich erin­ne­re mich an mei­nen Wunsch, in mei­nem Kin­der­wa­gen Ord­nung zu hal­ten. An höl­zer­nes Spiel­zeug erin­ne­re ich mich, das vor mei­ner Nase bau­mel­te. Da sind jetzt klei­ne, blaue Schu­he in mei­nem Kopf. Sie bewe­gen sich, wenn ich wün­sche, dass sie sich bewe­gen. — stop

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juan goytisolo

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0.19 — Las im Zug Juan Goy­tiso­los Buch Das Manu­skript von Sara­je­vo. Als ich kurz die Augen von den Sei­ten neh­me, sehe ich in der Däm­me­rung eine Her­de bren­nen­der Kühe auf einer Wie­se ste­hen. — Wo ist Rado­van Karad­zic? Was hat er ges­tern Abend geges­sen? Was hat er getrun­ken? Was macht er in die­ser Minu­te? Schläft er oder schreibt er wie­der ein­mal ein Gedicht an ein Kind? Was für Schu­he trägt er in sei­nem Bett heu­te Nacht? Wer erin­nert sich an die­sen Mann? — stop

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ilse aichinger

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5.38 — Es soll jetzt Ton­fil­me geben. — Das war ein rät­sel­haf­ter Satz. Und es war einer von den ganz weni­gen rät­sel­haf­ten Sät­zen der Erwach­se­nen, die mich nicht los­lie­ßen. Eini­ge Jah­re spä­ter, ich ging schon zur Schu­le, sag­te die jüngs­te Schwes­ter mei­ner Mut­ter, wenn wir an den Sonn­ta­gen zu mei­ner Groß­mutter gin­gen, bei der sie leb­te, fast regel­mä­ßig am spä­ten Nach­mit­tag: > Ich glaub, ich geh jetzt ins Kino. < Sie war Pia­nis­tin, unter­rich­te­te für kur­ze Zeit an der Musik­aka­de­mie in Wien und übte lang und lei­den­schaft­lich, aber sie unter­brach alles, um in ihr Kino zu gehn. Ihr Kino war das Fasan­ki­no. Es war fast immer das Fasan­ki­no, in das sie ging. Sie kam frös­telnd nach Hau­se und erklär­te meis­tens, es hät­te gezo­gen und man kön­ne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasan­ki­no nicht, und sie hol­te sich dort nicht den Tod. Den hol­te sie sich, und der hol­te sie gemein­sam mit mei­ner Groß­mutter im Ver­nich­tungs­la­ger Minsk, in das sie depor­tiert wur­den. Es wäre bes­ser gewe­sen, sie hät­te ihn sich im Fasan­ki­no geholt, denn sie lieb­te es. Aber man hat kei­ne Wahl, was ich nicht nur bezüg­lich des Todes, son­dern auch bezüg­lich der Aus­wahl der Fil­me zuwei­len bedaue­re, wenn mei­ne liebs­ten Fil­me plötz­lich aus den Kino­pro­gram­men ver­schwin­den. Obwohl ich es ger­ne wäre, bin ich lei­der kei­ne Cine­as­tin, son­dern gehe sechs oder sie­ben­mal in den­sel­ben Film, wenn in die­sem Film Schnee fällt oder wenn die Land­schaf­ten von Eng­land oder Neu­eng­land auf­tau­chen oder die von Frank­reich, denen ich fast eben­so zuge­neigt bin. Ilse Aichin­ger : Mitschrift

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nachtsammlung

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2.24 — Habe 628 Optio­nen gezählt, das Wort Nacht fort­zu­set­zen. Zum Bei­spiel: Nach­ti­gal­len­af­fe Nacht­ge­wöl­be Nacht­duft Nacht­durch­schwär­mer Nacht­eu­len­ton Nacht­ge­fie­der Nacht­wolf. Oder aber Nacht­pa­pa­gei : das ist der merk­wür­digs­te aller papa­gei­en, der kaka­po von neu­see­land [ stri­go­ps habrop­ti­lus ], den man mit dem­sel­ben rech­te, mit wel­chen man die eulen im gegen­satz mit den fal­ken einer beson­de­ren fami­lie unter­bringt, als einen ver­tre­ter einer eige­nen fami­lie betrach­ten muss. [ nach Grimm­sches Wör­ter­buch N – Q ] — Drei Uhr zwölf. In mei­nen Zim­mern ame­ri­ka­ni­sche Stim­men. Funk­ge­räu­sche. Geräu­sche mei­ner Kind­heit. Welt­raum­ge­räu­sche. Geräu­sche, wie sie auch in Guan­ta­na­mo zu hören sind. Den Schlaf rau­ben­de Geräu­sche. — stop

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hrabal

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0.32 — Boh­u­mil Hra­bal notiert in sei­nen Arbeits­hef­ten, dass er mit allem, was sich vor sei­nen Augen abspie­le, unver­züg­lich durch einen fes­ten Schlauch ver­bun­den sei, wie das Kind durch die Nabel­schnur mit dem Leib sei­ner Mut­ter. — Die Ohn­macht vor Bil­dern, Geräu­schen und Zei­chen aus gro­ßer Ent­fer­nung. > ai - stop

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kinderwelten

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9.55 — Ich hat­te ein Kin­der­buch, das ich zufäl­lig in einer Kis­te ent­deck­te, vor mir auf den Schreib­tisch gelegt, illus­trier­te Erzäh­lun­gen aus Tau­send und einer Nacht. Ich konn­te mich an bei­na­he jedes Detail der Zeich­nun­gen, die sich in dem Buch befan­den, erin­nern, das heißt, ich erkann­te die Zeich­nun­gen wie­der, auch den Geruch des Papiers, einen Tin­ten­fleck, mei­ne kind­li­che Schrift, die eine der Erzäh­lun­gen kom­men­tier­te. Heu­te, ange­sichts zwei­er Buben, — sie kämpf­ten in einer U‑Bahn mit­tels hand­li­cher Kon­so­len ver­bis­sen gegen­ein­an­der -, die Vor­stel­lung, wie in Zukunft uralte Men­schen nicht Büchern, son­dern ihren Spiel­zeug­ma­schi­nen aus Kin­der­ta­gen begeg­nen, vir­tu­el­len Wel­ten von unge­heu­rer Rechen­leis­tung. — stop

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