sierra : 7.05 — Immer wieder wundere ich mich darüber, wie ein Bild, eine Vorstellung, eine Idee, ohne mein Zutun, ohne dass ich also den Eindruck haben würde, Arbeit verrichtet zu haben, weitere Bilder erzeugt, Geschichten, Filme, Zeiträume von Abwesenheit. Ich erinnere mich, in einem dieser Räume kürzlich in Amsterdam gewesen zu sein, während ich zur selben Zeit im Zug durch südliche Landschaft reiste. Ich hatte das Bild eines Lädchens vor Augen, in welchem in einer Pfanne menschliche Ohren geröstet wurden. Es roch gut nach gebratenem Fleisch und natürlich frage ich mich, woher ich diese Vorstellung genommen habe. Menschen standen bis auf die Straße hinaus, warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, eine Portion der gerösteten Ohren in einer Papiertüte entgegenzunehmen. 100 Gramm kosteten 72 englische Pfund, vielleicht war es deshalb, in Anbetracht des Preises, so still im Laden, man hörte nur ein Zischen, sobald aus einem Schäufelchen eine weitere Portion Ohren in die Pfanne fiel. Aber draußen auf der Straße war Tumult entstanden. Während die einen sich über den enormen Preis der Ohren beschwerten, waren andere sehr deutlich gegen den Verkauf menschlicher Ohren überhaupt eingestellt. Das sind gezüchtete Organe, sagten sie, sie waren nie an einem menschlichen Kopf befestigt. Andere hingegen empörten sich darüber, dass es doch verrückt sei, für etwas, das niemals echt gewesen war, eine derart exzellente Summe Geldes pro Gramm bezahlen zu müssen. Die einen wie die anderen schienen mir recht zu haben. Fenster gingen zu Bruch, berittene Polizei fegte über eine Brücke. Und wie ich in dieser Weise in einem Zug sitzend einen Film erlebte aus dem Nichts, beobachtete mich ein Freund. Ich bemerkte ihn nicht. Als ich ihm später erzählte, was ich erlebt hatte, sagte er, er habe indessen, in der Beobachtung meiner Person, nicht den geringsten Laut gehört. — stop
Aus der Wörtersammlung: schicht
vom zufall
delta : 0.12 — Henry erzählte, er habe vor einigen Wochen eine Kartonschachtel erworben für 80 Cent. Zu Hause habe er im Inneren der Schachtel einhundertundzwölf Schwarz-Weiß-Fotografien entdeckt, Fotografien einer Zeit um das Jahr 1965 herum. Menschen, die auf diesen Fotografien zu sehen sind, tragen Schuhwerk jener Jahre, Mäntel, Hüte. Auch Automobile, die da und dort im Hintergrund zu sehen sind, verweisen auf die Mitte eines Jahrzehntes, als Henry selbst geboren worden war. Er habe die Bilder nun digitalisiert und würde sie in wenigen Tagen auf einer Webseite veröffentlichen mit der Bitte, sich bei ihm zu melden, sobald man sich selbst auf einer der Fotografien entdecken würde. Ich wollte wissen, warum er so handele. Henry antwortete, er habe das Gefühl, diese Aufnahmen könnten vielleicht fehlen, irgendjemandem, einem Album, einer Geschichte. Ja, selbstverständlich sei ihm bewusst, dass nur durch einen Zufall seine Seite von genau jenen Menschen besucht werden würde, die sich wieder erkennen könnten, es gehe ihm rein um die Möglichkeit, dass sich dieser Zufall ereignen könne, er habe im Grunde die Möglichkeit eines Zufalles geschaffen. Eine der Fotografien soll ein hölzernes Feuerwehrauto zeigen, das von Kinderhand geführt über einen Teppich fährt. In dem Teppich sei ein Loch, das ihn an ein Brandloch erinnert habe. Eine weitere Aufnahme zeige eine Gardine, die sich im Wind zu bewegen scheine, im Hintergrund etwas Himmel, Wolken und ein Flugzeug. Und diese alte Frau, die auf einer Parkbank sitzt, sie wird, sagte Henry, vielleicht oder sehr sicher nicht mehr unter den Lebenden sein. Sie hält einen Fotoapparat, es könnte sich um eine Leica handeln, in ihren Händen. Die alte Frau lacht, es ist Sommer, sie lacht wie jene andere, etwas jüngere Frau, die auf einem steinigen Weg breitbeinig steht, ein Fuß ist zur Seite geknickt, auch sie hält eine Kamera, ein Leica vielleicht, ihn ihren Händen. — stop
ameisengeschichte
india : 6.15 — Die müde Stimme eines Freundes gestern Abend auf dem Anrufbeantworter. Ich hatte um einen Rückruf gebeten, der Rückruf kam bald. Er meldete, er sei gerade auf dem Land in seinem Haus und kämpfe mit Ameisen. In den darauffolgenden Minuten hatten wir mehrfach kürzere Verbindungen, die je nur Sekundenzeit dauerten. Das waren Verbindungen einer Art gewesen, die man vielleicht von früher her kennt, Störgeräusche, Wortfetzen, Stimmen von sehr weit her, geheimnisvoll. Nach einigen Minuten war dann endlich eine stabile Verbindung erreicht. Ich hörte einen Bericht jener Vorgänge, die sich fern, im Rheingau, in einem kleinen Haus, das sich in der Nähe eines Waldes befindet, abspielten. Möbel wurden verrückt, in Mauerspalten geleuchtet, Dielen angehoben, um das Nest der Ameisentiere, die wieder einmal in das Haus eingewandert waren, aufzuspüren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch immer die Vorstellung eines Kampfes, der mit den Werkzeugen der Uhrmacher gefochten wurde, Lupen, Pinzetten, dazu feinste Netze, Nadeln, Honigtropfen. Rasch wurde deutlich, dass ich mich in Dimensionen der Vorstellung bewegte, die mit der Wirklichkeit meines Freundes nichts zu tun hatten, mein Freund kämpfte mit Schaufeln, mit Besen, mit Giften, mit Feuer, mit Wasser. Er sagte, er habe einzelne Tiere bereits vor Wochen wahrgenommen, sie aber zunächst nicht ernst genommen. Ich stellte mir vor, wie sie nun überall sind, ein Haus, das von Ameisen geflutet wird, ein Haus, das eine Haut von Ameisenkörpern trägt. Sie sollen als Staatswesen ohne besondere Intelligenz sein. Sie bemerken nicht, dass man sie bekämpft, sie werden weniger, aber sie hören nicht auf, sie flüchten nicht, gerade deshalb sind sie vielleicht nicht zu bezwingen. Und wieder die Frage, nehmen wir einmal an, ein Volk von Wanderameisen näherte sich, was würde ich hören? Vielleicht ein gut sichtbares Geräusch? — stop
von nachthüten
echo : 6.48 — Es war das erste Mal, dass ich ein Hutgeschäft betreten habe. Es roch sehr gut, es roch nach feinen Stoffen und nach Leder, es roch eigentlich eher nach einem Schuhgeschäft als nach einem Geschäft für Hüte. Der Mann hinter dem Tresen trug natürlich selbst einen Hut auf dem Kopf. Als ich mich näherte, war er gerade in ein Gespräch vertieft mit einem Herrn, der sich Hüte vorführen ließ. Er schien über sehr viel Geld zu verfügen, weil er jeden Hut, der ihm gefiel, unverzüglich kaufte. Ein Turm von Hutschachteln, so hoch wie der Mann selbst, hatte sich neben ihm gebildet. Der Turm wurde von einem Angestellten des Ladens festgehalten, damit er nicht stürzte. Ein weiterer junger Mann kletterte auf einer Leiter hinter dem Tresen vor einem Regal herum, das aus einem früheren Jahrhundert zu kommen schien, das heißt, das Regal war übrig geblieben, während andere Gegenstände derselben Zeit längst verschwunden waren. Einige Minuten nahm keiner der Menschen, die sich in dem Laden befanden, Notiz von mir, und so konnte ich diese kleine Geschichte beobachten, auch den Ausführungen lauschen, mit welchen der Mann, der Hüte kaufte, sein Verhalten begründete. Obwohl auf seinem Kopf noch sehr viel Haar zu entdecken war, schien der Mann sich bereits jetzt Gedanken darüber zu machen, wie lang er über sein Haar noch verfügen würde. Er schien damit zu rechnen, dass er bald kein einziges oder nur räudiges Haar auf dem Kopf tragen würde, darunter bloße Haut, nichts also als seinen Kopf, was für ihn inakzeptabel sein konnte. Er wollte nun vorsorglich Hüte wie Frisuren besitzen, wollte nichts anderes, als mächtig sein über seine Zukunft, vorbereitet, sagen wir. Selbst noch nachts, stellte er sich vor, sollte ein Hut seinen Kopf bedecken, weswegen er nach Nachthüten fragte, aber so etwas gibt es nicht, oder bisher nicht, Mützen ja, aber nicht Hüte, nicht Nachthüte, was seltsam ist, nicht wahr, dass es alles Mögliche gibt auf dieser Welt, aber keine Hüte, die reine Nachthüte sind. Seit ich das Hutgeschäft vor Stunden verlassen habe, denke ich darüber nach, was einen Nachthut genau genommen ausmachen würde, was ihn von anderen Hüten unterscheiden würde. Es müsste vermutlich sehr weich sein, das könnte sein. Sehr viel weiter bin ich in meinen Überlegungen bislang nicht gekommen. Es ist jetzt kurz nach drei Uhr. Schneewolken nähern sich von Nordosten her. – stop
zylinder
nordpol : 22.01 — Stelle mir ein Buch vor, das rund ist, ein Buch, dessen Seiten so gebunden sind, dass sie einen Zylinder ergeben. Man könnte Geschichten in diesem Buch derart anordnen, dass sie, wie in einem Gewässer Strömungen, kaum merklich ineinander fließen, sagen wir fünftausend kleinste Geschichten auf 2500 Seiten, geschrieben ohne Absatz und ohne eine Seitenangabe. Man steigt irgendwo zu und liest und wird man bald meinen, schon einmal da und dort gewesen zu sein. — stop
flamingo
alpha : 2.25 — Seit einigen Wochen der Verdacht, dass sich Wörter meiner Particles-Sphäre genau so verhalten, als wären sie ungebändigte Lebewesen, sie tun nämlich in heimlicher Weise was sie wollen, fügen sich zum Beispiel selbst Buchstaben hinzu oder lassen Buchstaben, die für ihre spezielle Existenz unverzichtbar sind, verschwinden. Andere Wörter lassen Buchstaben kreisen, einen Buchstaben um einen anderen Buchstaben. Kaum habe ich nach langer Arbeit in der Nacht die Augen zugemacht, geht das alles los. Und wenn ich dann wach geworden bin und betrachte, was ich nachts notierte, mein Gott, denke ich, aus Wetter ist Watte geworden, aus Miete Mut, aus Regenschirmen Schirme von Schnee. Gerade eben habe ich das Wort Möwe in einem Text beobachtet, den ich vor Monaten notierte. Ich hatte dieses Wort schon lange im Auge. Eine Stunde betrachtete ich das Wort, ohne dass es sich veränderte. Kaum aber war ich für eine Minute aus dem Raum getreten, um in die Küche zu gehen, wurde aus der Möwe eine Mive, das kann ich so genau sagen, weil ich, als ich an den Schreibtisch zurückkehrte, gerade noch sehen konnte, wie aus dem Wort Mive wieder das Wort Möwe wurde. Eine seltsame Sache. Auch ganze Wörter scheinen durch den Textraum wie durch Zeit zu reisen. Im Juli 2008 fabrizierte ich eine kleine Geschichte, die davon erzählt, warum ich nachts manchmal im Dunklen sitze. Genau diesen Text scheint das Wort Flamingo besonders angenehm zu finden, weswegen es immer wieder erscheinen will im Text anstelle der Fliegen, die Teefliegen sind. Schauen Sie selbst, Sie müssen nur lange genug Beobachter oder Beobachterin sein, dann werden Sie schon sehen: Heut Nacht sitze ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop – Zwei Uhr und fünfundzwanzig Minuten. Wahrscheinlich ist auch heute, während ich schlief, wieder alles in Bewegung gewesen. — stop
flugbriefe
delta : 0.01 — Nach einer harten Schicht im Postamt von Breles, an welcher nicht weniger als zweihundert Beamte beteiligt gewesen sein sollen, starteten in den frühen Morgenstunden 5778 Luftpostbriefe von eigener Kraft, jeder also für sich und zur gleichen Zeit, ihren Flug von der französischen Küste über den Atlantik nach John Island, South Carolina. Man fliegt im Schwarm nun schon die 16. Stunde, eine äußerst günstige Linie entlang, weil man in der Lage ist, sich an den Sternen zu orientieren. Es soll ein wunderbares Schauspiel gewesen sein, wie sich die Wolke der Luftpostbriefe unter dem Beifall des geladenen Publikums vom Boden erhob, um sich auf den Weg zu machen, das unendlich weite Westmeer zu überqueren. Ein Augenzeuge berichtete von einem Geräusch, das er nie zuvor wahrgenommenen habe, als ob sich ihm tausende Bienen näherten. Ein weiterer Beobachter schwärmte von wunderbar schimmernder Erscheinung genau in dem Moment, da die Briefwolke den Horizont erreichte. Er sagte, dass man noch eine lange Zeit ein Brummen vernommen habe. Einer der fliegenden Briefe sei vor seinen Füßen ins Gras gestürzt. Er habe den Brief mit sich nach Hause genommen, wo er ihn untersuchte. Ein Liebesbrief von Madame Juliett L. an sich selbst sei im Umschlag enthalten gewesen. An der oberen Briefkante, je an einer Ecke links und rechts, befänden sich Rotoren, die im Zustand der Ruhe, in der Art geschlossener Regenschirme nach unten gefalteten seien. Der Flugbrief ist leicht, sagte der Mann zum Schluss, ein kleines Wunder mit einer Briefmarke, die über Lichtsensoren zu verfügen scheint. — stop
erzählende physik eines fallendes radios
sierra : 6.32 — Von der Berechnung des Luftwiderstandes, dem ein Körper begegnet, wenn er sich im freien Fall befindet, wusste ich bis kurz nach Mitternacht nichts. Auch die Berechnung der wachsenden Geschwindigkeit, mit der sich ein stürzender Körper dem Erdmittelpunkt nähert, war mir bisher nicht möglich, weil ich noch nie gut gewesen bin in der Mathematik der Physik. Ich habe also nachgelesen und bin in dieser Lektüre auf einen wunderbaren Text gestoßen, den der Philosoph Lukrez bereits im Jahr 55 vor Christus notiert haben soll. Er schreibt: Wer nun etwa vermeint, die schwereren Körper, die senkrecht rascher im Leeren versinken, vermöchten von oben zu fallen auf die leichteren Körper und dadurch die Stöße bewirken, die zu erregen vermögen die schöpferisch tätigen Kräfte: Der entfernt sich gar weit von dem richtigen Wege der Wahrheit. Denn was immer im Wasser herabfällt oder im Luftreich, muss, je schwerer es ist, umso mehr sein Fallen beeilen, deshalb, weil die Natur des Gewässers und leichteren Luftreichs nicht in der nämlichen Weise den Fall zu verzögern imstand ist, sondern im Kampfe besiegt vor dem Schwereren schneller zurückweicht: Dahingegen vermöchte das Leere sich niemals und nirgends wider irgendein Ding als Halt entgegenzustellen, sondern es weicht ihm beständig, wie seine Natur es erfordert. Deshalb müssen die Körper mit gleicher Geschwindigkeit alle trotz ungleichem Gewicht durch das ruhende Leere sich stürzen. — Eine weitere Stunde später hatte ich eine recht präzise Vorstellung von der Beschleunigung, die ein Transistorradio erfährt, wenn es aus 1,60 Meter Höhe von einem Bartisch aus zu Boden fällt. Das ist eine wichtige Erfahrung, um eine Geschichte erzählen zu können, die sich dem Verhalten eines fallenden Radios gemäß entwickeln könnte. Weil sich das Radio zunächst langsam, dann schneller werdend durch die Luft bewegt, würden sich auch die Wörter der Geschichte zunächst langsamer ereignen, eine geringe Menge Wörter für ein erzähltes Particle der Geschichte, wohingegen zuletzt, kurz vor dem Aufprall des Radios sich sehr viele Wörter ereignen werden, um ein erzähltes Particle zu erzeugen. Eine interessante Vorstellung, die ich paradoxerweise in meinem Gehirn herumzudrehen vermag. Weil sich das Radio zunächst langsam bewegt, ist viel Zeit, um viele Wörter zu notieren. Stetig werden die Wörter weniger, weil sich die Zeit ihrer Aufführung verkürzt. Alles das ist für eine extreme Zeitlupe ausgedacht. Und jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. Guten Morgen. — stop
eine unerhörte geschichte
alpha : 6.20 — Eine unerhörte Geschichte soll am vergangenen Samstagabend auf der Staten Island Fähre MS John F. Kennedy ihren Ausgang genommen haben. Das Schiff war auf dem Weg zurück nach Manhattan gewesen, als drei junge Männer eine junge Möwe lockten, und zwar mit handwarmen Rosinen, die sie dem Tier, das auf einer Reling saß, vor die Füße warfen, so dass es sich auf den Boden begab, wo es gefangen werden konnte. Bei den jungen Männern handelte es sich um Timothy Waken, Bill L. Anderson, sowie Max Aurel Stevenson, alle drei leben in Brooklyn von Kindheit an. Sie waren wohl stolz auf ihr Handeln gewesen, weil sie sich filmten, während sie das erschrockene Tier mit seltsamen Bällen zwangsweise fütterten, Bällen, die prall mit Helium oder einem anderen leichten Gas gefüllt worden waren, weshalb das Tier, als man es wieder in die Freiheit entließ, wild zu schreien begann, vermutlich deshalb, weil es bald bemerkte, dass sich das Verhalten seines Körpers in der Luft stark verändert hatte. Die Möwe konnte nicht mehr landen, immer wieder fassten ihre Füße ins Leere, wenn sie nach der Reling der John F. Kennedy greifen wollte. Einen Versuch nach dem anderen unternahm die traurige Kreatur, bis sie im letzten Moment vor tödlicher Erschöpfung doch noch erfolgreich war. Nun aber musste sich die Möwe fest mit dem Schiff verbinden, um nicht sofort wieder aufzusteigen, ihr Bauch war rund, sie schien starke Schmerzen zu haben und sich zu fürchten vor den jungen Männern, die sie filmten, die ihr mit einem Scheinwerfer ins Antlitz leuchteten. Die Möwe hatte eine rosa Zunge, sie war zu diesem Zeitpunkt die einzige Möwe noch an Bord, alle anderen Tiere waren westwärts nach New Jersey geflüchtet. Gegen 10 Uhr und dreißig Minuten, kurz bevor das Fährschiff Manhattan erreichte, verließen die Möwe ihre Kräfte. Mit einem leisen, verzweifelten Ton löste sie sich vom Schiff. Sie war so schwach, dass sie die Flügel hängen ließ und langsam, wie ein Zeppelin den Battery Park in 25 Fuß Höhe durchquerte. Ein leichter Wind trieb das Tier die Sixth Avenue nordwärts, wo es mehrfach von Zeugen gesichtet wurde, entweder von den Fenstern der Wohnhäuser aus oder vom Boden her. Kurz vor Mitternacht wurde die Feuerwache nahe Washington Square Park alarmiert. Dort genau, in diesem Park, wurde die Möwe schließlich vom Himmel geholt. Behutsam wurde das Tier in den Arm genommen. Es hatte die Augen geschlossen und war vollständig stumm. — stop
fingergeschichte
india : 6.14 — Nehmen wir einmal an, irgendwann in den kommenden Jahrzehnten würde es möglich sein, einen Laden zu betreten wie man heute eine Apotheke betritt, um sich einen sechsten Finger für die rechte Hand zu bestellen. Oder ein drittes Ohr, oder ein fünftes Auge, eines, mit dem man schlafen könnte, während alle weiteren Augen das Geschehen in der nächsten Umgebung überwachen. Was darf es denn bitte sein, wird man gefragt. Man antwortet unverzüglich: Guten Abend, ich hätte gerne einen Finger, sagen Sie, wann könnte der Finger einer rechten Hand frühestens fertig ausgewachsen sein? Und schon ist man wieder auf die Straße getreten. Man ist zufrieden, ja glücklich, weil man sich schon lange Zeit einen sechsten Finger wünschte, sie sind nicht ganz billig zu haben, man muss sich einen sechsten Finger sehr wohl überlegen. Aber wenn man den Finger dann verbindlich bestellt haben wird, ist alles ganz einfach geworden. Ein oder zwei Wochen, nicht länger wird man warten, bis man den Finger in sich wachsen fühlt. Es ist ein schmerzloser Vorgang, eine lang erprobte Sache, man hat schon viel vom Wachsen der Finger gehört. Der ein oder andere Freund verfügt bereits über Füße, auf welchen man sehr viel besser stehen kann, als noch zuvor. Auch sind Menschen, die über Ohren gebieten, mit welchen man von den Schultern aus die Welt belauschen kann, längst keine Seltenheit. Irgendwo im Norden soll eine Frau existieren, die fliegen kann, ein Wunsch vielleicht, Legende, aber nehmen wir doch einmal an, es würden bald Läden existieren für fliegende Menschen, oder Läden für moderne Kiemenwesen, wenn doch das Wasser weltweit gegen die Küsten steigt. — Früher Morgen. Dieser kleine Text wurde in einer Straßenbahn notiert. Die Straßen dampfen. Ich bin sehr schön wach geworden, weil ich durchgeschüttelt worden bin. Um mich herum schlafen noch ein paar sehr müde Menschen. Es ist eine sehr alte Straßenbahn. Über uns leuchtet Glühbirnenlicht. — stop