Aus der Wörtersammlung: sichtbar

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ein zierliches mädchen

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echo : 7.18 — In einem Hos­pi­tal­pas­sa­gen­raum saß ein zier­li­ches Mäd­chen in einem Roll­stuhl. Ihr Gesicht war bis unter die Augen hin­auf von einem Mund­schutz bedeckt, von einem gefal­te­ten Segel, das sich bläh­te im Rhyth­mus des Atmens. Sie hat­te ihre Hän­de aus dem Schoß geho­ben und drück­te sie pul­sie­rend so fest gegen­ein­an­der, dass sie zit­ter­ten. Schläu­che, trans­pa­ren­te, gewun­de­ne Röh­ren, führ­ten von einer Sau­er­stoff­fla­sche, – sie war hin­ter der Leh­ne des Roll­stuhls befes­tigt -, zur Nase des Mäd­chens. Wenn sie hus­te­te, war ein tie­fes, feuch­tes, ein brum­men­des Geräusch zu ver­neh­men, ein Ton, der durch die Luft roll­te, ein unsicht­ba­res Wesen, das sich befrei­te, um sich irgend­wo in einer Ecke des War­te­rau­mes zu wei­te­ren unsicht­ba­ren Wesen zu fal­ten. Hin­ter einem Vor­hang, der eine Behand­lungs­ka­bi­ne ver­deck­te, zwit­scher­te ein Radio. Bald wird Schnee fal­len, bald Eis auf den Stra­ßen wach­sen. Die jun­ge Frau war müde gewe­sen, von einer Art der Müdig­keit, die ich selbst nie erfah­ren habe. Immer wie­der fie­len ihr die Augen zu, sie schwitz­te, ihre Hän­de zu heben, schien ihr alle Kraft abzu­ver­lan­gen, die zu die­sem Zeit­punkt in ihr zu fin­den war. Ein­mal bemerkt sie, dass ich sie anse­he, dass ich notie­re, dass ich ihre Hän­de beob­ach­te. — stop

ping

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wintermütze

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kili­man­dscha­ro : 8.55 — Seit Tagen fra­ge ich mich, wel­chen Anblick ich dar­ge­bo­ten haben könn­te, nar­ko­ti­siert, ich, Lou­is, über vier Stun­den Zeit im chir­ur­gi­schen Saal auf einem Tisch. Habe ich gespro­chen? Habe ich mich aus eige­ner Kraft bewegt? Wenn ich sage: Mei­ne schla­fen­den Augen, spre­che ich von Augen, die ich nie gese­hen habe. Kann mich an den Moment des Schla­fens nicht erin­nern, als ob die­ser Moment nie exis­tier­te. Möch­te bald mei­nen, unter Nar­ko­se unsicht­bar gewor­den zu sein. Statt­des­sen war ich sicht­bar, wie ich zuvor nie sicht­bar gewe­sen bin. Mein Ellen­bo­gen, von meh­re­ren Sei­ten her geöff­net, aus­ge­leuch­tet, dar­ge­legt. Einer der Chir­ur­gen, die ope­rier­ten, erzähl­te, man habe, sobald Kap­sel, Bän­der, Mus­keln, Seh­nen sor­tiert und genäht wor­den waren, alle übli­chen Bewe­gun­gen eines Ellen­bo­gen­ge­lenks erfolg­reich aus­pro­biert, ich sol­le mir kei­ne Gedan­ken machen, ich kön­ne bald wie­der schrei­ben von Hand, essen, mei­ne Win­ter­müt­ze auf­set­zen. Im Janu­ar spä­tes­tens das beid­hän­di­ge Wer­fen schwe­rer Kof­fer üben. — stop

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coleoptera rasura

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tan­go : 10.12 — Eine zier­li­che Frau von hohem Alter. Sie schob einen Roll­wa­gen vor sich her, auf dem zwei Kof­fer ruh­ten. Ele­gan­te Klei­dung, sand­far­ben, leich­te Som­mer­schu­he, links in der Hand eine Tasche von gel­bem Leder, der ein Kabel ent­kam, das ein paar Kopf­hö­rer und ein Mikro­fon mit einem Tele­fon ver­band. Das Tele­fon war nicht sicht­bar gewe­sen, aber die Frau sprach in das Mikro­fon, das sich in der Nähe ihres Mun­des befand, als wür­de sie tele­fo­nie­ren. Hin und wie­der blieb sie ste­hen, ihre wei­ßen Hän­de flat­tern dann in der Luft her­um, als woll­te sie zur Unter­stüt­zung ihrer Zun­ge mit Fin­gern arti­ku­lie­ren. Ich ver­such­te, sie anzu­spre­chen, zu grü­ßen, ihr nahe­zu­kom­men, um hören zu kön­nen, in wel­cher Spra­che sie kor­re­spon­dier­te. Ich sage Euch, sie flüs­ter­te unbe­kann­te Wör­ter. Ein­mal öff­ne­te sie einen ihrer Kof­fer. Sie gab mir ein Zei­chen, ich knie­te nie­der. In dem Kof­fer hock­ten Käfer in Fächern, zwei Käfer je in einem Fach. Ihre Kör­per waren von der Far­be und Zeich­nung der Bruyè­re­höl­zer gewe­sen, und sie brumm­ten, viel­leicht des­halb, weil an der Stel­le, da sich übli­cher­wei­se Käfer­zan­gen befin­den, knö­cher­ne Trom­meln in rasen­der Geschwin­dig­keit rotier­ten. Gegen Vier­tel nach zwei Uhr erwacht. Wol­ken­lo­ser Him­mel, Ster­ne, eis­kal­te Luft nahe der Ber­ge über dem Dach. — stop

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zeitort

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lima : 7.22 — Selt­sam ist an Buch­sta­ben, dass man ihnen die Zeit nicht anse­hen kann, die in ihnen steckt. Die­se acht­zehn Wör­ter und alle wei­te­ren Wör­ter an die­ser Stel­le habe ich bereits an einem sehr viel frü­he­ren Mon­tag­abend notiert. Es ist jetzt 7 Uhr und 15 Minu­ten und ich bin fern mei­nem Schreib­tisch und weiß doch, dass mein Satz sicht­bar wer­den wird für ande­re Men­schen in genau die­ser Minu­te, frei­ge­las­sen sozu­sa­gen, ohne in die­sem Moment auch nur einen Fin­ger bewegt zu haben. Denk­bar, dass ich gera­de unter einem Regen­schirm spa­zie­re. Viel­leicht schla­fe ich noch oder viel­leicht bin ich längst über den Atlan­tik geflo­gen und habe noch kei­ne Ver­bin­dung in öffent­li­che Funk­räu­me gefun­den. — stop

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naturbeobachtung

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india : 8.12 — Sagen wir so, sagen wir: Savan­ne. Sagen wir: Abend. Sagen wir: vor­schrift­li­che Zeit. Dort – zwei Män­ner. Der eine der bei­den Män­ner liegt auf dem Rücken. Die­ser Mann, von Staub bedeckt, – ein toter Mann. Sein Bauch ist geöff­net. Viel­leicht ist der Mann gestürzt, viel­leicht wur­de der Mann von einem Raub­tier ange­fal­len. Der zwei­te vor­ge­stell­te Mann kniet vor dem Toten und betrach­tet die Wun­de. Nun zieht die­ser Mann sei­ne Waf­fe und hebt einen Lap­pen Haut zur Sei­te. Er setzt das Werk­zeug in der Wun­de an und schnei­det so lan­ge in die Mus­ku­la­tur des Bau­ches, bis die Bauch­höh­le des Toten offen liegt. Eine Ges­te der Unter­su­chung, eine Ges­te des Ein­drin­gens, der Inva­si­on, eine vor­sich­ti­ge Bewe­gung ohne ein bestimm­tes Ziel. Da ist der Wunsch, Tie­fe zu gewin­nen, Unsicht­ba­res, Ver­deck­tes, Unbe­kann­tes sicht­bar zu machen. Viel­leicht wird sich die­ser Mann zunächst von dem Toten ent­fer­nen, viel­leicht des­halb, weil eine wei­te­re Raub­kat­ze sich nähert. Viel­leicht wird der Mann, aus der Erin­ne­rung her­aus, den Umriss eines Man­nes, der tot ist, in eine Fels­wand rit­zen. Viel­leicht wird er in die­sen Umriss eines Man­nes, der steht oder liegt, die Form eines Organs ein­tra­gen, – genaue Lage, exak­te Grö­ße. Die Abbil­dung eines Organs, für des­sen Exis­tenz zum Zeit­punkt der Ent­ste­hung weder ein Zei­chen noch ein Begriff erfun­den wur­de. — stop

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ein Millionstel Gramm Wort

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tan­go : 16.22 — Mei­ne neue Schreib­ma­schi­ne ist leicht und flach, ihr Atem geht lei­se. So fein ist sie gebaut, dass ich sie unter mei­nem Hemd ver­ber­gen könn­te, nie­mand wür­de sie bemer­ken. Wenn das so wei­ter geht mit dem Leich­ter­wer­den der Maschi­nen, wer­de ich bald Schreib­wer­ke zur Ver­fü­gung haben, die von gerin­ge­rer Schwe­re sind als die Papie­re, die ich mit ihren Zei­chen fül­le. — Wie viel genau wiegt eigent­lich die­ses elek­tri­sche Wort, das gera­de vor mir auf dem Bild­schirm erscheint? L i m a. Wie vie­le Male wird es heu­te oder mor­gen auf wei­te­ren Bild­schir­men auf­ge­ru­fen, wie lan­ge Zeit jeweils sicht­bar sein? Es ist denk­bar, dass das Wort L i m a, das in Euro­pa vor weni­gen Minu­ten ver­zeich­net wur­de, schwe­rer wiegt, sobald es in Aus­tra­li­en auf einem Bild­schirm erscheint, als das­sel­be Wort, wenn wir es in Euro­pa lesen, 1 Mil­li­ons­tel Gramm schwe­rer, sagen wir, um 1 Mil­li­ons­tel Gramm Koh­le schwe­rer und um den Bruch­teil einer Sekun­de. — stop
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time

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tan­go : 22.01 — Ein­mal, viel­leicht auf Papie­ren, eine Stadt äußerst lang­sa­mer Men­schen besu­chen, eine Stadt, deren Bür­ger sich unter rasen­den Vögeln, rasen­den Wol­ken, rasen­den Stra­ßen­bah­nen, wie in Zeit­lu­pe bewe­gen. Jeder Gedan­ke dort ein Stun­den­ge­dan­ke, die Stim­men der Men­schen, sono­re Lini­en, ich selbst kaum noch sicht­bar, Augen, Arme, Mund, Unschär­fen der Luft. — stop

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jelena bonner

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sier­ra : 22.58 — Das ers­te elek­tri­sche Buch, das ich für ein Kind­le-Lese­ge­rät zum Preis von 99 Cent erwer­ben konn­te, wur­de vor einer Vier­tel­stun­de in weni­ger als zehn Sekun­den von einem unbe­kann­ten Ort her mit­tels eines Wel­len­fa­dens auf mei­nen Com­pu­ter über­tra­gen. Franz Kaf­kas gesam­mel­te Wer­ke, Roma­ne, Brie­fe, Erzäh­lun­gen, Apho­ris­men, 19374 Sei­ten­po­si­tio­nen, eine merk­wür­di­ge Erfah­rung. Das Buch ist einer­seits anwe­send, ande­rer­seits ohne Gewicht, es ist nicht sicht­bar, oder nur je eine Sei­te, ein Blatt. — Jele­na Bon­ner ist im Alter von 88 Jah­ren in Bos­ton gestor­ben. — stop

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lampion

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marim­ba : 2.27 — Man könn­te viel­leicht sagen, dass es sich bei der Gat­tung der Lam­pion­kä­fer um Geschöp­fe han­delt, die bevor­zugt nach innen aus­ge­dacht wor­den sind, wes­halb man an ihrer äuße­ren Gestalt spar­sam zu wir­ken wünsch­te. Man mach­te ihnen Flü­gel, sehr klei­ne, kaum noch sicht­ba­re Flü­gel, die kur­ze Stre­cken des Luft­rei­sens gestat­ten, spar­te dage­gen an Bei­nen, ver­gaß Augen und Füh­ler, auch Ohren sind an ihrem voll­kom­men run­den Kör­per bis­lang nicht zu ent­de­cken gewe­sen. Nie­mand könn­te zu die­sem Zeit­punkt also ernst­haft behaup­ten, an wel­cher Stel­le nun genau der Kopf, also das Vorn des Käfer­we­sens zu fin­den sein könn­te. Meis­tens lie­gen sie dem­zu­fol­ge bewe­gungs­los auf dem Boden her­um, schla­fen viel­leicht oder träu­men. Man kann sie dann leicht über­se­hen, weil sie sehr klein sind und fast licht­los auf den ers­ten Blick. Uner­kannt haben sie in die­ser beschei­de­nen Wei­se bis vor Kur­zem in den Wäl­dern des Kar­wen­del­ge­bir­ges nahe der Baum­gren­ze gelebt, bis ein Stein­samm­ler ihr Geheim­nis unlängst ent­deck­te, in dem er sich mit einem sehr fei­nen Boh­rer ins Inne­re eines der Käfer­kör­per vor­ar­bei­te­te. Lan­ge Stun­den des War­tens, des Küh­lens, des Ban­gens, dann späh­te der jun­ge For­scher in eine voll­stän­dig unbe­kann­te Welt. Seit­her fehlt ihm jede Spra­che. Die Augen weit geöff­net, scheint er zu suchen, nach Sät­zen viel­leicht, nach Wör­tern, nach ange­mes­se­nen Geräu­schen der Bewun­de­rung, der Aner­ken­nung. — Was bleibt noch zu bemer­ken? — Sie sum­men wie die Bie­nen, sobald sie fliegen.

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in der subway

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sier­ra : 5.28 – Ich hat­te einen Traum, den ich ver­such­te fest­zu­hal­ten, also in ihm wei­ter­zu­exis­tie­ren, sagen wir ganz ein­fach, ich hat­te den Wunsch, nicht auf­zu­wa­chen. In die­sem Traum saß ich in einem Sub­way­wa­gon unter Men­schen, die einen fröh­li­chen Ein­druck mach­ten, ein Säug­ling wur­de in nächs­ter Nähe gewi­ckelt, ein paar Kugel­fi­sche schweb­ten durch den Raum, über einem offe­nen Feu­er wur­den Eich­hörn­chen gebra­ten, deren Sprung­keu­len in der Hit­ze der Flam­men knis­ter­ten und zisch­ten. Mein Vater saß neben mir und schlief. Und da war eine Frau, die einen Kof­fer auf ihre Knie gelegt hat­te. In die­sem Kof­fer befan­den sich Bücher, sie waren so klein, dass sie jedes der Bücher, das sie betrach­ten woll­te, mit einer Pin­zet­te aus dem Kof­fer heben muss­te. Mit einer wei­te­ren Pin­zet­te blät­ter­te sie um, sah in die­ser Bewe­gung durch ein Mikro­skop, das sie mit einem leder­nen Gür­tel vor ihre Stirn mon­tiert hat­te. Das war ein schwe­rer Appa­rat, wes­halb die Frau über kräf­ti­ge Hals­mus­keln ver­füg­te, die mit jeder Bewe­gung unter ihrer Haut hin und her hüpf­ten, als sei­en sie Tie­re für sich. Von Zeit zu Zeit notier­te die Frau in eines der Bücher, das sie her­vor­ge­holt hat­te. Auch der Stift, mit dem sie schrieb, war so klein, dass er für mei­ne Augen nicht sicht­bar war. Indem die Frau notier­te, for­mu­lier­te sie, ohne je eine Pau­se ein­zu­le­gen, immer nur einen Satz: Bit­te nicht atmen! Bit­te nicht atmen! Sie flüs­ter­te im Übri­gen mit den Ohren. — stop



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