echo : 5.38 — Ich erinnere mich, dass ich im Schlaf zu mir sagte: Das will ich nicht weiter träumen. Unverzüglich wurde ich wach. – Schnee ist gefallen, ein weißes Tuch liegt auf den Bürgersteigen. Das Kairofenster flimmert seit bald vierzehn Stunden auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine. Kamelreiter prügeln auf Demonstrierende ein, Steine fliegen durch die Luft, Kühlschränke von Hausdächern, um Menschen zu töten. Mit der Dämmerung kommen Barrikaden, Ölfeuerflaschen, taumeln hin und her, brennende Autos, der hellgraue Rauch der Panzermotoren, die Stimmen der Kommentatoren, die Zahlen verletzter und getöteter Menschen melden. Auf dem Platz der Befreiung wird nach Steinen gegraben. Millimeter hohe Menschenfiguren schleifen liegende Millimeter hohe Menschenfiguren über den Boden. Reine Mordlust scheint ausgebrochen zu sein. – Es ist jetzt 5 Uhr und 30 Minuten. Seit drei Stunden wird scharf geschossen. Niemand weiß, woher die Schüsse kommen. Eine junge Frau, 24, die sich auf dem Platz befindet, erzählt weinend von Menschen, die soeben getötet wurden. Wie das möglich sein könne, dass die Welt nicht eingreife, dass keine Hilfe komme. We will not leaving this place. Sie nennt ihren Namen. — stop
Aus der Wörtersammlung: steine
nonfossil
marimba : 20.06 — Versteinerte Geräusche existieren nicht. — stop
raymond carver goes to hasbrouck heights
echo : 22.12 — Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
manhattan — bellevue hospital
alpha : 14.15 — Auf einer Bank im Schatten kühlender Bäume gleich neben dem Bellevue Hospital sitzt ein alter Mann in einem blau und weiß gestreiften Pyjama. Er versucht eine Mineralwasserflasche zu öffnen, schimpft vor sich hin in dieser schweren Arbeit, sagt, dass das doch nicht möglich sei, warum sich das verdammte Ding nicht öffnen ließe, er habe die Flasche vor einer Stunde noch selbst zugedreht. Ein graues Eichhörnchen hockt auf mächtigen Hinterbeinen neben ihm, beobachtet die Hände des alten Mannes, bleibt auch dann ganz still, als ich mich nähere und meine Hilfe anbiete. — Ein angenehmer Nachmittag, die Luft ist etwas kühler geworden und trocken, ein leichter Wind raschelt in den Bäumen, die so alt zu sein scheinen, dass der Schriftsteller Malcolm Lowry sich an ihren Stämmen festgehalten haben könnte, damals, im Jahr 1936, als er schwer alkoholsüchtig in enger werdenden Kreisen auf das Krankenhaus zustürzte, um in einem Tage währenden Delirium, Wale über den East River fliegen zu sehen. Der Dichter, der Trinker auf hoher See. Bellevue war in Lowry’s Kopf zu einem Schiff geworden, dessen Planken unter ihm ächzten, in den Stürmen, die sein armes Gehirn durchleben musste, in Fieberschüben, unter den schwitzenden Händen der Matrosenärzte, die ihn an sein Bett fesselten. Und wie er dann selbst, oder jene Figur, die Malcolm Lowry in seiner großartigen Erzählung Lunar Caustic gegen das Alkoholungetüm antreten lässt, nach Wochen der Abstinenz aufrecht und leichtfüßig gehend durch den Haupteingang des Hospitals wieder festen Boden betritt, schon die nächste Flasche Absinth vor Augen hier am East River, an einem Tag wie diesem Tag vor langer, langer Zeit.
ground zero
sierra : 18.16 — Zwei Stunden Broadway südwärts bis Fultonstreet. Eine kleine Kirche, St Paul’s Chapel, Granitsteine, Gräber, ein Garten unter Bäumen. Ich kenne diesen Garten, diese Bäume, eine Fotografie genauer, die einen Staubgarten zeigt, Sekundenzeit entfernter Gegenwart, ein Bild, das im September 2001 aufgenommen wurde, am elften Tag des Monats kurz nach zehn Uhr vormittags. Hellgraue Landschaft, Papiere, größere und kleinere Teile, liegen herum, Akten, Scherben. Auch die Bäume vor der Kirche, helle Gestalten, als hätte es geschneit, eine feine Schicht reflektierender Kristalle, Spätsommereis, das an Wänden, Stämmen und an den Menschen haftet, die durch den Garten schreiten, träumende, schlafwandelnde, jenseitige Personen im Moment ihres Überlebens. Ein merkwürdiges Licht, beinern, nicht blau, nicht blühend wie am heutigen Tag um Jahre weitergekommen. Etwas fehlte in der Luft im Raum unter dem Himmel über Manhattan sehr plötzlich, war so fein geworden, dass es von flüchtenden Menschen eingeatmet wurde. Kaffeetassen. Treppenläufe. Hände. Feuerlöscher. Füße. Waschbecken. Nieren. Stühle. Schuhe. Computerbildschirme. Arme. Brüste. Kopfschalen. Radiogeräte. Bleistifte. Telefone. Ohren. Augen. Herzen. stop
bronx — flug
echo : 23.
32 — In der Dämmerung des Abends gegen die 241 St. zu, letzte Station weit oben im Norden. Eine halbe Stunde Tiefflug über steinerne Landschaften der Bronx, Miethauskasernen, rot, grau, rußig schwarz. Nach und nach leert sich der Zug, aber da draußen, da unten hinter den scheppernden Scheiben des Zuges, geräuschlos, stumm, Straßenzüge voller Menschen bis zum Horizont. Und wie sich die Lichtmembranen dann beruhigen, wie wir langsamer und langsamer werden, der schmale Kopf eines metallenen Fühlers, unser Bahnsteig, an den der Zug sich müde lehnt wie ein Schiff an einen Landungssteg nach langer Reise. Wald, wild und dornig, jenseits der Schienen, blühende Gräser erheben sich vom brüchigen Boden. Eine Bank, warmes Holz, auf dem ich sitze, rot leuchtende Falter eilen westwärts. Weit entfernt, am anderen Ende des schlafenden Zuges noch, die Gestalt einer Frau mit Besen, die sich durch die schimmernde Schlange fädelt, eine Frau von schwarzer Hautfarbe. Sie trägt kräftige Schuhe und einen Overall. Als sie bei mir ankommt, zögert sie kurz, will wissen, was ich hier tue, seltene Erscheinung, formuliert so rasend schnell, dass ich ihr kaum folgen kann. Bald geht sie weiter, schleift ihren Besen hinter sich her, macht den Zug zu Ende, kommt wieder zurück, setzt sich neben mich, spricht wie in Zeitlupe mit leicht erhobener Stimme: I — s — - t – h — a — t — - s — l – o — w — - e – n — o — u – g – h ?
standby
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : STANDBY
Mein lieber Jonathan, Mittwoch ist geworden, früher Morgen, höchste Zeit, eine Nachricht zu übermitteln, die Sie vielleicht traurig stimmen wird. Sie haben gehört, eine Insel nahe Grönland spricht seit Tagen mittels Feuer und Asche zur Welt. Vermutlich werden Sie sich fragen, warum ich Ihnen davon erzähle. Nun, der Himmel über Europa ist zu einem unsicheren Ort geworden, Staubsteine fliegen durch die Luft in großer Höhe, es ist denkbar, dass sich meine Reise zu Ihnen nach Amerika verzögern wird. Ich habe deshalb eine Bitte an Sie, lieber Mr. Kekkola, den dringenden Wunsch habe ich, dass Sie selbst, sollte ich im Mai, am 2. des Monats, nicht auf Coney Island erscheinen, für mich dort sitzen und den Horizont fotografieren werden, unsere Elefanten, Sie verstehen, Spuren unserer Elefanten! Ich wäre Ihnen so sehr herzlich dankbar, mein lieber Freund. Machen Sie sich um Gotteswillen unverzüglich auf den Weg! Bis bald, ich hoffe, bis bald! STANDBY. – Ihr Louis. Ahoi ps. Besitzen Sie eine Kamera?
gesendet am
21.04.2010
6.22 MESZ
1002 zeichen
nahaufnahme
india : 0.02 — Erscheinungen auf Bildschirmen, die sich wie Traumbilder, wie bewegte Gemälde verhalten. Wollte sie berühren, jenen isländischen Mann im Moment, da er aus dem Atem des Vulkans auf eine Wiese tritt, dieses vollkommen graue Wesen, staubig, steinern, und auch das Schaf an seiner Seite, unsicheren Schrittes, ein steinernes Schaf. Aber dann, in dem sie näherkommen, die Augen des Mannes und die Augen des Schafes, wie sie zwinkern, zwei Leuchtkörper in Dunkelheit, überlebt, eine Chiffre des Widerstandes. – Man müsste jetzt ein gut trainierter Atlantikschwimmer sein. — stop
manhattan
engelgeschichte für geraldine
delta : 0.03 — Vor langer Zeit habe ich eine kleine Geschichte geschrieben, die von Engeln erzählt. Ich kann nicht genau sagen warum, ich habe diese Geschichte bereits zweimal aus dem Licht der Öffentlichkeit zurückgezogen, sie aber nie gelöscht. Als ich gestern nun über die Kindheit eines Mädchens nachdachte, das in einer vornehmen Gegend Manhattans aufgewachsen ist, fiel mir die Geschichte wieder ein und ich habe nach ihr gesucht. Ich werde sie jetzt für Geraldine an dieser Stelle endgültig notieren. Liebe Geraldine, wo auch immer Du sein magst, diese folgende Geschichte gehört Dir. Hör zu: Einmal, immer nur einmal im Jahr, kommen die Engel der Stadt New York in einer Kirche zur großen Versammlung geflogen. Die steinernen Engel kommen von den Friedhöfen her, die hölzernen Engel aus den Gartenlauben, kostbare Porzellanengel öffnen ihre Vitrinen und segeln über den Hudson durch die kühle Abendluft. Auch von den Tapeten steigen Engel auf, verlassen ihre Postkartenzimmer, Bücher und Zeilen, in welchen sie vermerkt worden sind Zeichen für Zeichen. Sie steigen aus den Träumen der Kinder, der Mütter, der Väter, wie Menschen aus Straßenbahnen steigen sie aus. Sobald sie Luft unter ihren Schwingen fühlen, werfen sie ihre Goldstaubmäntel von den Schultern, springen aus Badewannen, stark schon unterm Wasser geschmolzen, löschen das Licht, das auf ihren Köpfen flackert, umflattern noch einmal kurz die Häupter der steinernen Marien, auf deren Händen sie um ein weiteres Jahr gealtert sind. Es ist kaum richtig Nacht geworden, da kann man es in den Kellern schon ächzen hören, wenn sie sich mit vereinten Kräften gegen die schweren Deckel der Truhen stemmen, in denen sie aufgehoben sind von Fest zu Fest. Man muss sich, sofern man ein Mensch ist, nur im Dezember in Manhattan, Queens oder Brooklyn am richtigen Tag zur richtigen Stunde vor einen Engel setzen. Sobald es dunkel geworden ist, setzt man sich hin und wartet. Man wartet nicht lange, man wartet eine Stunde oder zwei und plötzlich ist der Engel fortgeflogen. Nach Süden ist er geflogen, oder nach Norden, auf kürzestem Weg vorbei an bebenden Vögeln zur größten Kirche der Stadt. Dort nimmt der Engel unter Engeln Platz. Überall sitzen sie inzwischen bis unter die Gewölbe, auf der Kanzel, den Betstühlen, den heiligen Figuren, auch auf den Mosaiken des Bodens, den Chören, dem Altar, den Verstrebungen der Kreuze, den Knochenfiguren, ja, auf Christus selbst haben sie Platz genommen. Sie sind alle sehr leicht. Im Grunde wiegen sie nichts. Sie sind von der Schwere eines Wunsches und sprechen in einer von keinem Forscher erschlossenen Sprache. Fröhliche Engelgestalten, jawohl. Sie lachen, das Lachen der Engel, wie tolle Fledermäuse lachen sie, so hell. Dann, kurz nach Mitternacht ist’s geworden, kommt einer der drei großen Engel, immer kommt nur einer von ihnen und immer kommt er zu spät, wurde aufgehalten im Auftrag befindlich, einmal ist es Gabriel, dann Raphael, dann Michael. Sehr langsam, ein Künstler des Fliegens, schwebt er herein, nimmt Platz auf den Stufen, schlägt die Beine übereinander und leuchtet. Ruhig sieht er unter die Versammlung, während er seine gewaltigen Schwingen hinter dem Rücken faltet. Jetzt werden die kleinen Engel andächtig und still. Vereinzelt kommt noch ein vergesslicher Kundschafter durchs Kirchenschiff gerast, da und dort trudelt ein betrunkenes Federwesen von höherer Stelle. Ist dann alles schön geordnet, erhebt der Erzengel seine Stimme. Es ist ein Singen, ein wunderbarer Altsopran, eine unerhört schöne Sprache. Er sagt: Guten Abend, Engel.