tango : 6.15 — Im Zug saß ein Mann, der sich mit einer Frau in der Handzeichensprache der gehörlosen Menschen unterhielt. Obwohl ich die Hände der zwei Sprechenden eingehend betrachtete, ließen sie sich nicht stören, vermutlich weil sie ahnten oder wussten, dass ich ihre Sprache nicht verstehen konnte. Der Eindruck, dass die beiden weitere Körperzeichen verwendeten, um die Sprache ihrer Hände zu ergänzen. Als wären sie Flügel eines Vogels, der sich Wasser aus dem Gefieder schüttelt, flatterten ihre Augenlider. Kaum den Zug verlassen, versuchte ich vergeblich diese erstaunliche Bewegung ihrer Augen nachzuahmen. Und auch heute Morgen, nach einer ruhigen Nacht, bin ich nicht in der Lage, meine Lider in der beschriebenen Weise erzittern zu lassen. So unerreichbar sind sie wie meine Ohren, die nie gehorchen wollen, wenn ich mir mit ihrer Hilfe Luft zufächeln möchte. Vielleicht werd ich’s am Abend noch einmal probieren. Nehme an, sie haben Töne erzeugt, singende Töne, mit ihren Augen im Zug. — stop
Aus der Wörtersammlung: wasser
nabous zunge
echo : 5.12 — Nabou*, ja, Nabou, Frau aus dem Süden, wie sie nachts vor einer Tasse Kaffee am Flughafen in großzügigen Sprüngen durch die Zeit erzählt. Das Barfußmädchen Nabou, für Minuten ist sie wieder zum Flüchtlingskind geworden, erinnert, finsteres Gesicht, einen sudanesischen Herrscher, jenen Herrn, der Bars einer Stadt räumen und den Alkohol in den Nil schütten ließ. In der selben Stadt, nur wenige Stunden später, wurden im Namen des selben Mannes, Hände von Armen geschlagen für dies oder das zur Strafe. Das Feuer in den Augen der Erzählerin, wie sie berichtet von einer Zeit, da muslimische und christliche Kinder noch gemeinsam die Schule besuchten und heirateten kreuz und quer. Undenkbar heute, undenkbar, raschelt Nabou mit ihrer seltsam rauen Stimme, alle Menschen, wo auch immer, rücken nach rechts. Dann dieser verdammte Abend als Nabou eine bosnische Freundin besucht. Man sitzt mit Familie in Mitteleuropa um einen Tisch, es ist kurz vor Weihnachten. Die Attacke auf den christlichen Glauben kommt ohne Vorbereitung während der Nachspeise. Als Nabou sich als Christin zu erkennen gibt, das Staunen der Freundin: Aber Ihr habt doch ein Glas Wasser neben der Schüssel im Bad, und Du, Nabou, sprichst die arabische Sprache! Wie von diesem Moment an das Gespräch zu Ende war. Verknotete Zungen, sagt Nabou, nach all den trauten Jahren, verknotete Zungen.
* Name geändert
mangrove
india : 22.58 — Im Palmengarten befinden sich acht wabenförmige Glashäuser, die durch Schleusenräume miteinander verbunden sind, sodass man in wenigen Minuten zunächst durch eine Wüste spazieren kann, dann durch einen Regen- und kurz darauf durch einen Nebelwald. Ich sitz gern dort, jenseits der Mangrovenabteilung im Bromelienhaus, und lese in wasserfesten Büchern herum. Es ist angenehm still. Kaum jemand verirrt sich hierher, so versteckt liegt die Wabe im Zentrum der Glashausversammlung. Und vielleicht genau aus diesem Grund, weil es von Menschen still ist, kommen dutzende, leise jaulender Wachteln unter Bäumen zusammen, auf welchen Blumen lungern wie schlafende Vögel. Hatte vor Stunden noch unter Luftwurzeln etwas Wilhelm Genazino beobachtet. Plötzlich bemerkte ich, dass kein Geräusch um mich herum zu hören war. Völlige Stille. Eine merkwürdige, eine trockene Stille. Für einen kurzen Moment der Eindruck, während des Lesens vielleicht taub geworden zu sein. Schaute mich um, sah eine Hand auf einer Buchseite liegen und dachte, dass ich jetzt mit dieser Hand sofort zur Beruhigung ein Papiergeräusch erzeugen müsse. Ich blätterte also um, und ich hörte ein Rascheln und das leise Sausen der Luft, hörte Vögel wieder pfeifen, das Tropfen des Wassers. Ich hörte meine Stimme das Wort seltsam sagen. — stop
george ferry terminals tiefseeelefanten
sierra : 17.10 — Hatte einen Traum, eine Wahrnehmung, die mir lange Zeit, ich war längst erwacht, ein sehr wirklicher Raum gewesen zu sein schien. Dort, im Nachtzimmer, wartete ich an einem späten Abend in der zentralen Halle des Saint George Ferry Terminals auf das nächste Schiff nach Manhattan zurück. Ich wartete lange, ich wartete den halben Tag und eine halbe Nacht, begeistert vom Anblick einer Herde filigraner Tiefseeelefanten, die über den hellen, sandigen Boden eines Schauaquariums wanderten. Sie hatten ihre meterlangen Rüssel zur Wasseroberfläche hin ausgestreckt, suchten in der Seeluft herum und berührten einander in einer äußerst zärtlichen Art und Weise. Ein faszinierendes Geräusch war zu hören, sobald ich eines meiner Ohren an das warme Glas des Geheges legte. Dieses Geräusch nun sucht seit Stunden nach einem Wort für sich selbst, nach einem Zeichensatz, der vermutlich niemals existieren wird. — stop
manhattan — bellevue hospital
alpha : 14.15 — Auf einer Bank im Schatten kühlender Bäume gleich neben dem Bellevue Hospital sitzt ein alter Mann in einem blau und weiß gestreiften Pyjama. Er versucht eine Mineralwasserflasche zu öffnen, schimpft vor sich hin in dieser schweren Arbeit, sagt, dass das doch nicht möglich sei, warum sich das verdammte Ding nicht öffnen ließe, er habe die Flasche vor einer Stunde noch selbst zugedreht. Ein graues Eichhörnchen hockt auf mächtigen Hinterbeinen neben ihm, beobachtet die Hände des alten Mannes, bleibt auch dann ganz still, als ich mich nähere und meine Hilfe anbiete. — Ein angenehmer Nachmittag, die Luft ist etwas kühler geworden und trocken, ein leichter Wind raschelt in den Bäumen, die so alt zu sein scheinen, dass der Schriftsteller Malcolm Lowry sich an ihren Stämmen festgehalten haben könnte, damals, im Jahr 1936, als er schwer alkoholsüchtig in enger werdenden Kreisen auf das Krankenhaus zustürzte, um in einem Tage währenden Delirium, Wale über den East River fliegen zu sehen. Der Dichter, der Trinker auf hoher See. Bellevue war in Lowry’s Kopf zu einem Schiff geworden, dessen Planken unter ihm ächzten, in den Stürmen, die sein armes Gehirn durchleben musste, in Fieberschüben, unter den schwitzenden Händen der Matrosenärzte, die ihn an sein Bett fesselten. Und wie er dann selbst, oder jene Figur, die Malcolm Lowry in seiner großartigen Erzählung Lunar Caustic gegen das Alkoholungetüm antreten lässt, nach Wochen der Abstinenz aufrecht und leichtfüßig gehend durch den Haupteingang des Hospitals wieder festen Boden betritt, schon die nächste Flasche Absinth vor Augen hier am East River, an einem Tag wie diesem Tag vor langer, langer Zeit.
lexingtonlineparticle
echo : 2.32 — Subway 86 St., Linie 4, spätester Abend: Menschenstille. Aber das Brausen tausender Ventilatoren, die kühle Luft durch blecherne Arterien blasen. Eine Rolltreppe, einsam quietschend, selbstgenügsames Wesen. Und das Wasser, woher, an den Wänden. Hier muss nicht geatmet werden, solange der Boden bebt von der Erwartung des Zuges. Man hört ihn schon von weit her kommen, dumpfe, pochende Erschütterung. Und wenn er dann hereinfliegt aus den Schatten, das rote, das gelbe, das blaue Zahlenauge. Luft zischt, Menschen treten hervor oder bleiben. Jede Kammer, jeder Waggon, hinter jedem Fenster, eine eigene, einzigartige Versammlung lebender Geschichten. stop. Wie sich die Türen schließen. stop. Wie man verschwindet. — stop
=
india : 16.23 — n a s e n r a c h e n
stille
kilimandscharo : 1.58 — Fliegen am Abend traurigster Nachricht, Zausige, die mit dem Wasser sprechen. Regen, sanfter Regen. Deine fröhliche Stimme. Wir Menschen sind für letzte Dinge nicht gemacht. Dankbar lausch ich weiter Elefantenohrenwinden nach. - für g.
singende rosen
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : SINGENDE ROSEN
Mein lieber, lieber Jonathan Kekkola, wie ich mich freue über Ihre späte Nachricht! Stolz bin ich und voll Bewunderung, indem ich sehe, wie weit Sie gekommen sind. Ich habe gestern Ihre Eltern besucht, und wir studierten gemeinsam eine Karte Ihrer großen Wanderung dem amerikanischen Süden zu. Das Wasser war kühl, ihre Mutter schien zu frösteln, und Ihr Vater schwebte auf dem Kopf, sodass mir etwas schwindelig wurde, weil ich oben und unten für Momente nicht unterscheiden konnte. Ich hatte auf Sie gewartet, mein Lieber, saß mit einer Melone im Sand und schaute aufs Meer hinaus. Einmal glaubte ich, Sie gesehen zu haben. Ein Mann winkte mir zu, er stand bis zum Hals im Wasser, plötzlich war er verschwunden. Nun, am Ende dieses merkwürdigen Tages, will ich Ihre Frage beantworten. Ja, sie sind gekommen, unsere Geschöpfe, Elefanten, sie sind gekommen, so wie wir sie vorausgesehen haben. Ein glücklicher Moment voller Demut. Ich konnte sie hören, ihr leises Gespräch, Trompetenmusik, den Gesang der Rosen, der von der wandernden Luft in Wellen an Land getragen wurde. Als in der Dämmerung der Wind auffrischte, fuhr ich zurück in die Stadt, eine stundenlange Reise unter Straßen bis rauf nach Woodlawn und wieder zurück. — Alles Gute, alles Liebe! Ihr Louis. Ahoi!
gesendet am
12.05.2010
22.24 MESZ
1716 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »
MELDUNGEN : LOUIS TO MR. JONATHAN NOE KEKKOLA / ENDE
eine kleine physik
charlie : 0.02 — Zunächst Bilder, dann Klänge. Die Erinnerung des Gehörs scheint langsamer zu spielen, als die Erinnerung der Augen. Wie sich allgemeine physikalische Gesetze der Außenwelt in meinem Gehirn beruhigend wiederfinden. — Stellen Sie sich vor, ich habe den gestrigen Nachmittag unter einem Regenschirm zugebracht. So im Gehen im Wasser, die Suche nach kleinsten Partikeln einer großen Stadt. Bin ich Angler, bin ich Jäger, bin ich ein Dompteur? Ob Eichhörnchen mittels Zungenstimmen zueinander sprechen? — stop