Aus der Wörtersammlung: weise

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schallbecher

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india : 22.07 UTC — Vor weni­gen Tagen ist im hohen Alter ein Dok­tor gestor­ben, der mein Dok­tor gewe­sen war, als ich noch in kur­zen Hosen im Som­mer her­um­spa­zier­te. Mein Knie, eine Wun­de, war längt ver­sorgt, da hat­te ich noch den Duft des Jods in der Nase. Der Dok­tor kam manch­mal zu mir nach Hau­se, wenn ich Fie­ber hat­te. Er führ­te eine Leder­ta­sche mit sich, in der sei­ne Instru­men­te klim­per­ten. Ich erin­ne­re mich an die Küh­le eines Schall­be­chers, wenn er nach Geräu­schen in mir such­te. Sein Kopf war in die­sen Momen­ten des Lau­schens nah, kaum noch Haar, sehr fein und grau. Sei­ne sanf­te Stim­me. Lei­se. Ein­mal war er als Pri­vat­mann zu Besuch gekom­men. Anstatt eines Blu­men­strau­ßes für Mut­ter, führ­te er eine Glühspar­lam­pe mit sich, die er in der Art und Wei­se über­reich­te, als wäre sie tat­säch­lich eine fri­sche Blu­me, ein blü­hen­der Zier­lauch, sagen wir, oder eine Kugel­dis­tel. — stop
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fingerschnecke

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marim­ba : 2.28 UTC — Denk­bar ist, dass ich das Mus­kel­ge­dächt­nis mei­ner Spra­che bald ver­lo­ren haben wer­de, weil ich kaum noch mit Tin­ten- bezie­hungs­wei­se Gra­fit­werk­zeu­gen schrei­be, viel­mehr auf vor­ge­fun­de­ne Zei­chen tip­pe, die sich wie gestem­pel­te Bil­der auf Tas­ta­tu­ren befin­den. — stop
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von fäden

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lima : 15.05 UTC — Die Welt zer­fällt in Tat­sa­chen, notiert Lud­wig Witt­gen­stein. Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles übri­ge gleich blei­ben. Eine fei­ne Beob­ach­tung. Ich selbst ent­neh­me der Welt in erzäh­len­der Wei­se Fäden, die ich von allen Sei­ten her betrach­te und prü­fe. Dann webe ich etwas neue Welt, der ich wie­der­um Fäden ent­neh­me, die ich von allen Sei­ten her betrach­te und prü­fe. — stop
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sandwellenwinde

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alpha : 22.18 UTC — Man kann Geschich­ten erzäh­len über das, was man foto­gra­fiert, das ahne ich schon lan­ge. Vater bei­spiels­wei­se erzähl­te, wie er mit Mut­ter an einem hei­ßen Nach­mit­tag Coney Island besuch­te, wie sie im war­men Sand sit­zen, wie er sei­ner gelieb­ten Frau berich­tet, dass er schon ein­mal an die­sem Ort gewe­sen sei, da kann­ten sie sich bereits. Vie­le Jah­re spä­ter wer­de ich mei­nem Vater erzäh­len, dass ich eine Foto­gra­fie besuch­te, die er gefer­tigt hat­te, als ich noch nicht ganz fünf Jah­re alt gewe­sen war. Ich sag­te: Es ist, lie­ber Vater, tat­säch­lich, wie Du berich­test. Man fährt eine hal­be Stun­de mit der Sub­way vom Washing­ton Squa­re aus in süd­west­li­che Rich­tung, dann ist man am atlan­ti­schen Meer und der Him­mel hell über dem Was­ser. Hef­ti­ge Sand­wel­len­win­de fau­chen mir über die Stirn, wie ich auf die­sem Boden gehe, der fest ist. Zer­bro­che­ne Muscheln, Scher­ben von bun­tem Glas, Som­mer­be­stecke, Schu­he, Wod­ka­fla­schen, Lip­pen­stif­te, Holz, Kno­chen. Da und dort haben sich schar­fe Kan­ten gebil­det unter der stren­gen Hand der Win­ter­stür­me, dunk­le, fes­te Struk­tu­ren, in wel­chen sich Spu­ren mensch­li­cher Füße fin­den, als wären sie ver­stei­nert. Bald Brigh­ton Beach. An den Wän­den der Häu­ser ent­lang der See­pro­me­na­de sit­zen alte rus­si­sche Frau­en wohl ver­packt, auf­ge­ho­ben in die­sem Bild fros­ti­ger Tem­pe­ra­tur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Isaac Bas­he­vis Sin­ger, der hier spa­zier­te lang vor mei­ner Zeit. — stop

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kolibri m5

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india : 0.14 UTC — Es ist tat­säch­lich 0 Uhr und 14 Minu­ten, kurz nach Mit­ter­nacht. Ich habe lan­ge Zeit gewar­tet, näm­lich von 22 Uhr des ver­gan­ge­nen Tages an bis zu die­ser Minu­te, um fol­gen­den Text zu wie­der­ho­len, das heisst, ich wer­de Zei­chen für Zei­chen notie­ren, was ich vor Jah­ren bereits zur sel­ben Stun­de auf­ge­schrie­ben habe. Hört Ihr das Geräusch der Tas­ta­tur? Es ist kurz nach Mit­ter­nacht. Eine Droh­ne in der Gestalt eines Koli­bris sta­tio­niert seit weni­gen Minu­ten in einem Abstand von 1.5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beob­ach­ten, wie ich gera­de über sie notie­re. Kurz zuvor war das klei­ne Wesen in mei­nem Zim­mer her­um­ge­flo­gen, hat­te mei­nen Kak­te­en­tisch unter­sucht, mei­ne Bücher, das Later­nen­si­gnal­licht, wel­ches ich vom Groß­va­ter erb­te, auch mei­ne Papie­re, Foto­gra­fien, Schreib­werk­zeu­ge. Ruck­ar­tig ver­la­ger­te das Luft­tier sei­ne Posi­ti­on von Gegen­stand zu Gegen­stand. Ich glau­be, in den Momen­ten des Still­stan­des wur­den Auf­nah­men gefer­tigt, genau in der Art und Wei­se wie in die­sem Moment eine Auf­nah­me von mir selbst, indem ich auf dem Arbeits­so­fa sit­ze und so tue als gin­ge mich das alles gar nichts an. Von der Droh­ne, die ich ver­sucht bin, tat­säch­lich für einen Koli­bri­vo­gel zu hal­ten, war zunächst nichts zu hören gewe­sen, kei­ner­lei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minu­ten, mei­ne ich einen lei­se pfei­fen­den Luft­zug zu ver­neh­men, der von den nicht sicht­ba­ren Flü­geln des Luft­we­sens aus­zu­ge­hen scheint. Die­se Flü­gel bewe­gen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschär­fe der Luft wahr­zu­neh­men sind. Ein wei­te­res, ein hel­les fei­nes Geräusch ist zu hören, ein Wis­pern. Die­ses Wis­pern scheint von dem Schna­bel des Koli­bris her zu kom­men. Ich habe die­sen Schna­bel zunächst für eine Attrap­pe gehal­ten, jetzt aber hal­te ich für mög­lich, dass der Droh­nen­vo­gel doch mit die­sem Schna­bel spricht, also viel­leicht mit mir, der ich auf dem Sofa sit­ze und so tue, als gin­ge mich das alles gar nichts an. Ich kann natür­lich nicht sagen, was er mit­tei­len möch­te. Es ist denk­bar, dass viel­leicht eine ent­fern­te Stim­me aus dem Schna­bel zu mir spricht, ja, das ist denk­bar. Nun war­ten wir ein­mal ab, ob der klei­ne spre­chen­de Vogel sich mir nähern und viel­leicht in eines mei­ner Ohren spre­chen wird. — stop
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im park

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lima : 23.01 UTC — Ich war heut im Park wo noch vor Mona­ten Kirsch­bäu­me blü­hend paar­wei­se über eine Wie­se spa­zier­ten. Von den Hun­den, sobald es dun­kel wird, siehst Du dort nichts als das Licht, das um ihren Hals gelegt, oder ihre glü­hen­den Augen im Schein der Fahr­rad­la­ter­nen. Heut waren auch zwei flie­gen­de Hun­de unter­wegs oder beleuch­te­te Vögel, weil da auch Licht her­um­flog, viel­leicht Droh­nen, zwei klei­ne, das war selt­sam, auch dass sie mich viel­leicht beob­ach­te­ten wie ich nach ihnen sah. Ich dach­te an Fahr­rä­der, die unsicht­bar in Baum­kro­nen hän­gen. Und ich dach­te, dass selt­sam ist, dass ich manch­mal bemer­ke in Gedan­ken, wor­an ich gera­de noch dach­te. Ver­mut­lich war ich ganz grün gewe­sen vom Nacht­sicht­licht, wer weiß. — stop
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maskentier No 1

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tan­go : 0.06 UTC — In einer gezeich­ne­ten Vor­stel­lung der Mas­ken­tie­re sind Augen zu bemer­ken. Das ist sehr selt­sam, weil Augen nicht eigent­lich sinn­voll oder unver­zicht­bar sind für den Zweck, dem Mas­ken­tie­re bald ein­mal die­nen wer­den. Es ist näm­lich so, dass Mas­ken­tie­re in der Lage sein soll­ten, sich auf mensch­li­che Mün­der und Nasen nie­der­zu­le­gen, um die­sel­ben zu beatmen, dem­zu­fol­ge Luft aus der Atmo­sphä­re zu ent­neh­men, um die­se even­tu­ell kon­ta­mi­nier­te Luft für Men­schen oder ande­re Tie­re sorg­fäl­tigst zu fil­tern, indem sie in Stun­den, da sie ihrer Bestim­mung fol­gen, auf viel­fäl­tig gestal­te­ten Wan­gen, Nasen­rü­cken, Hals­par­tien so dicht zu lie­gen kom­men, dass kein Gramm einer Viren­last je an ihren Rän­dern oder Enden ent­wei­chen könn­te. Es ist statt­des­sen ganz wun­der­bar sau­be­re Luft, die sie spen­den, und es ist ganz wun­der­bar sau­be­re Luft, die sie im Gegen­zug wie­der an die Welt zurück­ge­ben wer­den. Natür­lich ist denk­bar, dass kein Wort, kein Schrei durch ihre Leder­haut hin­durch nach drau­ßen drin­gen wird, es wird also stil­ler unter den Men­schen, die schwei­gen und sich sicher füh­len, sobald sie mit ihren wär­men­den Mas­ken über Stra­ßen und durch Waren­häu­ser spa­zie­ren. Dann ist Abend gewor­den, und man legt das getra­ge­ne Tier zurück in einen Behäl­ter, der mit Was­ser gefüllt ist. Dort schwim­men sie dann auf­ge­regt unter wei­te­ren Mas­ken­tie­ren her­um und erzäh­len sich Geschich­ten, was sie hör­ten und was sie gese­hen haben wäh­rend des Tages, indes­sen sie sich säu­bern und paa­ren, um wei­te­re Mas­ken­tie­re zu erzeu­gen. — Auch Ohren, jawohl! — stop

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ai : KASACHSTAN

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MENSCH IN GEFAHR : “Aigul Ute­po­va ist eine bekann­te Blog­ge­rin und Akti­vis­tin. Sie hat 8.000 Fol­lower auf Face­book und eine gro­ße Fan­ge­mein­de sieht die Bei­trä­ge auf ihrem You­Tube-Kanal. 2015 kan­di­dier­te sie bei den Prä­si­dent­schafts­wah­len, doch zog sie ihre Kan­di­da­tur spä­ter wie­der zurück. Sie wird beschul­digt, eine Anhän­ge­rin der Oppo­si­ti­ons­par­tei Demo­kra­ti­schen Wahl Kasach­stans zu sein. Am 13. März 2018 wur­de die Par­tei will­kür­lich zu einer “extre­mis­ti­schen” Orga­ni­sa­ti­on erklärt, weil sie “zur natio­na­len Zwie­tracht auf­sta­chel­te”. Grund­la­ge für die­se Ein­ord­nung sind die vage for­mu­lier­ten Anti-Extre­mis­mus-Geset­ze in Kasach­stan. / Nach der Zwangs­ein­wei­sung von Aigul Ute­po­va in die Psych­ia­trie fürch­tet ihr Rechts­bei­stand, dass eine will­kür­li­che psych­ia­tri­sche Dia­gno­se zum Vor­wand genom­men wird, um sie zwangs­wei­se “behan­deln” und lan­ge in der Anstalt fest­hal­ten zu kön­nen. Bei einem Ver­such, Aigul Ute­po­va am 23. Novem­ber zu besu­chen, wur­de dem Rechts­bei­stand und einer Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen mit­ge­teilt, dass die Jor­u­na­lis­tin kei­nen Kon­takt zur Außen­welt haben dür­fe. / Dass Per­so­nen, die die Regie­rung kri­ti­sie­ren oder sich gegen bestimm­te Inter­es­sen­grup­pen stel­len, zwangs­wei­se unter psych­ia­tri­sche Beob­ach­tung gestellt wer­den, ist in Kasach­stan nicht unge­wöhn­lich. 2019 ent­schied der UN-Men­schen­rechts­aus­schuss, dass Zina­idi Muk­hor­to­va will­kür­li­cher Inhaf­tie­rung, Fol­ter und ande­rer Miss­hand­lung aus­ge­setzt war. Die Anwäl­tin war fünf Mal gegen ihren Wil­len in eine psych­ia­tri­sche Ein­rich­tung ein­ge­wie­sen und dort “behan­delt” wor­den. / Aigul Ute­po­va hät­te nie­mals straf­recht­lich ver­folgt und unter Haus­ar­rest gestellt wer­den dür­fen. Die­se Maß­nah­me ver­stößt gegen kasa­chi­sches Recht, das Haus­ar­rest nur in Fäl­len vor­sieht, bei denen die Höchst­stra­fe fünf Jah­re oder mehr beträgt. Außer­dem muss sach­lich begrün­det wer­den, wes­halb weni­ger restrik­ti­ve Maß­nah­men nicht ange­wen­det wer­den kön­nen. Die Ver­fol­gung und der Haus­ar­rest von Aigul Ute­po­va sind als Ver­gel­tungs­maß­nah­men für ihre unver­blüm­te Kri­tik an der Regie­rung ein­zu­ord­nen.”- Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen bis spä­tes­tens zum 18.1.2021 unter > ai : urgent action

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samuel beckett : 16 steine

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india : 3.25 UTC – Hört zu! Ich nut­ze die­sen Auf­ent­halt, um mich mit Stei­nen zum Lut­schen zu ver­sor­gen. Es waren klei­ne Kie­sel, aber ich nen­ne sie Stei­ne. Ja, die­ses Mal brach­te ich einen bedeu­ten­den Vor­rat von ihnen zusam­men. Ich ver­teil­te sie gleich­mä­ßig in mei­nen vier Taschen und lutsch­te sie nach­ein­an­der. Dadurch ent­stand ein Pro­blem, das ich zunächst auf fol­gen­de Art lös­te: Ange­nom­men, ich hat­te sech­zehn Stei­ne und vier davon in jeder mei­ner vier Taschen, näm­lich in den zwei Taschen mei­ner Hose und den zwei­en mei­nes Man­tels. Wenn ich einen Stein aus der rech­ten Man­tel­ta­sche nahm und in den Mund steck­te, so ersetz­te ich ihn in der rech­ten Man­tel­ta­sche durch einen Stein aus der rech­ten Hosen­ta­sche, den ich durch einen Stein aus der lin­ken Hosen­ta­sche ersetz­te, den ich durch einen Stein aus der lin­ken Man­tel­ta­sche ersetz­te, den ich wie­der­um durch den Stein in mei­nem Mund ersetz­te, sobald ich mit dem Lut­schen fer­tig war. Auf die­se Wei­se befan­den sich immer vier Stei­ne in jeder mei­ner vier Taschen, aber nicht genau die­sel­ben… / Es ist Sams­tag. Ich notie­re die­sen Text, weil ich ihn schon ein­mal notiert habe, um an Samu­el Beckett zu erin­nern. Damals war Mitt­woch. Es war Som­mer und es war dun­kel. Schwe­re wür­zi­ge Luft der Kas­ta­ni­en­blü­te. Nacht­bie­nen summ­ten am Fens­ter vor­über. Mut­ter leb­te noch, Vater war schon tot. — stop

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jagende lichter

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echo : 23.58 UTC — Im Park am Abend in der Dun­kel­heit unter Regen­schir­men unsicht­ba­re Men­schen, paar­wei­se oder allein. Und da flit­zen Lich­ter her­um, grün, blau oder rot leuch­ten­de Rei­fen oder blin­ken­de Perl­ket­ten, die die Posi­ti­on spie­len­der Hun­de ver­mer­ken. Man möch­te mei­nen, dass sie fern­ge­steu­er­te Krea­tu­ren sind, die sich jagen nach dem Wil­len jener im Dun­keln ste­hen­den schwei­gen­den Men­schen. Ich dach­te noch, in Brook­lyn sol­len Feu­er ent­zün­det wor­den sein, um Mas­ken zu ver­bren­nen. Der Wahn­sinn bricht aus jen­seits ruhi­gen, ver­nünf­ti­gen Han­dels, Men­schen dicht gedrängt wie Amei­sen. Kaum noch ein Gespräch ist mög­lich, ohne sich gefähr­lich nahe­zu­kom­men. Aber hier im Park am Abend unter Regen­schir­men sind die Räu­me weit, das Gespräch der ahnungs­lo­sen unsicht­ba­ren Tie­re, die ihren Licht­schmuck über die Wie­sen tra­gen. — stop
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