nordpol : 15.08 — Folgende E‑Mail, die ein Mann namens Lorenz geschrieben haben könnte, erreichte mich in der vergangenen Nacht um 2.07.15 Uhr: fd gmzinliqj ceyojii dy intiai laimisuuv tiehurehn dw. Ich wunderte mich, weil ich Lorenz nicht kenne. Weder war ein Link zu finden, noch konnte ein Übersetzungsprogramm den Text erschließen. Auch mittels der fehlenden Zeichen im Text, die für einen kompletten Datensatz unseres Alphabetes unverzichtbar wären, ließ sich keine verständliche Nachricht entziffern: b k p x. Sobald ich Lorenz antwortete, erhielt ich den Hinweis, mein Schreiben sei nicht zustellbar. Denkbar ist, dass ich einen verschlüsselten Text empfangen habe, oder einen Brief ohne jeden Sinn, ein Partikel vom Hintergrundrauschen, das zunehmen, das immer lauter werden könnte. — An alten, hölzernen Türen der iranischen Stadt Masuleh sollen je zwei Türklopfer befestigt sein, einer für männliche, der andere für weibliche Menschen. — stop
Aus der Wörtersammlung: wunder
unterm maulbeerbaum
delta : 18.12 — Helena erzählt, sie habe einen Text notiert, 258 Seiten, in dem von einem jungen Mann die Rede sein soll, der sich unter einen Maulbeerbaum setzte, um seinen Pulsschlag zu zählen. Wie er nun gegen seine Müdigkeit kämpft, gegen das aufreizende Gefühl der Ameisenbeine, welche unter seinen Hosenbeinen spazieren, auch gegen Durst- und Hungergefühle, wie lange Zeit kann man so sitzen und zählen, nicht lange. Es war noch nicht einmal dunkel geworden, als der junge Mann aufstand und verschwand. Da war nun also ein Maulbeerbaum gewesen, irgendwo im Süden, ein paar Vögel außerdem, Hasen, Füchse, Eidechsen, Spinnen, Käfer und eine Erzählerin, die darauf wartete, dass der junge Mann wieder kommen und seine Pulse weiterzählen würde. Wie sie in ihrem Kopf Stunden, Tage, Wochen lang den Baum beobachtete, wie sie sich indessen einmal erinnerte an einen Freund, der verrückt geworden sein soll, weil er nicht damit aufhören konnte, Zeitungspapiere mittels Scheren zu zerlegen. Er sammelte Beweise für dies und das! Berge von Zeitungen soll er in seiner Leidenschaft für Beweissicherung zerlegt haben, auch unterwegs konnte er nicht damit aufhören, ein Seltsamer, der nur deshalb in Zugabteilen sichtbar wurde, weil die Papiere, die Zeitungen selbst damals, als er lebte, noch sichtbar gewesen waren. Heutzutage darf man, sagt Helena, in unsichtbarer Weise verrückt werden, fast alle sind wir schon längst verrückt, haben auf Computern Texte gesammelt, die wir niemals lesen werden, weil das Leben nicht reicht, auch nicht für Beweise. In ihrer Geschichte im Übrigen will sie eine weitere Erzählung versteckt haben, jedes einzelne Wort der Geschichte, auch ganze Sätze. Um welche Erzählung es sich präzise handelt, möchte sie nicht verraten. Die Erzählung soll von einer berühmten Schriftstellerin erfunden worden sein, eine wunderbare Miniatur. Sie wartet noch immer. — stop
noise
ginkgo : 21.38 — Als ich unlängst die wunderbare Filmkomödie Noise von Henry Bean entdeckte, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich vor einigen Jahren in New York skizzierte. Sie geht so: Seit einigen Tagen spaziert ein drahtiger Herr von kleiner Gestalt in meinem Kopf herum. Er ist so deutlich zu sehen, dass ich meinen möchte, ich würde ihn einmal persönlich gesehen haben, eine Figur, die durch die Stadt New York irrt auf der Suche nach Lärmquellen, die so beschaffen sind, dass man ihnen mit professionellen Mitteln zu Leibe rücken könnte, Hupen, zum Beispiel, oder Pfeifgeräusche jeder Art, Klappern, Kreischen, verzerrte Radiostimmen, Sirenen, alle diese verrückten Töne, die nicht eigentlich begründet sind, weil sie ihre Ursprünge, ihre Notwendigkeit vielleicht längst verloren haben im Laufe der Zeit, der Jahre, der Jahrzehnte. Ich erinnere mich in diesem Moment, da ich von meiner Vorstellung erzähle, an einen schrillen Ton in der Subway Station Lexington Avenue / 63. Straße nahe der Zugangsschleusen. Dieser Ton war ein irritierendes Ereignis der Luft. Ich hatte bald herausgefunden, woher das Geräusch genau kam, nämlich von einer Klingel mechanischer Art, die über dem Häuschen der Stationsvorsteherin befestigt war. Diese Klingel schien dort schon lange Zeit installiert zu sein, Kabel, von grünem Stoff ummantelt, die zu ihr führten, waren von einer Schicht öligen Staubes bedeckt. Äußerst seltsam an jenem Morgen war gewesen, dass ich der einzige Mensch zu sein schien, der sich für das Geräusch interessierte, weder die Zugreisenden noch die Tauben, die auf dem Bahnsteig lungerten, wurden von dem Geräusch der Klingel berührt. Auch die Stationsvorsteherin war nicht im mindesten an dem schrillenden Geräusch interessiert, das in unregelmäßigen Abständen ertönte. Ich konnte keinen Grund, auch keinen Code in ihm erkennen, das Geräusch war da, es war ein Geräusch für sich, ein Geräusch wie ein Lebewesen, dessen Existenz nicht angetastet werden sollte. Wenn da nun nicht jener Herr gewesen wäre, der sich der Klingel näherte. Er stand ganz still, notierte in sein Notizheft, telefonierte, dann wartete er. Kaum eine Viertelstunde verging, als einem U‑Bahnwaggon der Linie 5 zwei junge Männer entstiegen. Sie waren in Overalls von gelber Farbe gehüllt. Unverzüglich näherten sie sich der Klingel. Der eine Mann faltete seine Hände im Schoss, der andere stieg auf zur Klingel und durchtrennte mit einem mutigen Schnitt die Leitung, etwas Ölstaub rieselte zu Boden, und diese Stille, ein Faden von Stille. — stop
holly
remington : 18.05 — Ich träumte, von einer Staten Island Fähre auf das offene Meer hinaus getragen worden zu sein. An Bord des Schiffes waren zahlreiche Menschen gewesen, sie fotografierten einander, manche lasen in einer Zeitung, andere tranken Kaffee aus Pappbechern oder telefonierten. Niemand schien sich zu wundern, dass die Fähre, hinsichtlich einer üblichen Reisedauer von 25 Minuten, nicht landete. Stunden vergingen. Einmal fegte ein Sturm über das Schiff hinweg, hunderte Möwen flatterten kreischend über die Decks. Irgendwann schlief ich ein, und ich träumte, als ich erwachte, eine Frau habe mir gegenüber Platz genommen. Ich meine, mich an ihren Namen erinnern zu können, ich glaube, sie hieß Holly. In diesem Augenblick, als ich die Augen öffnete, transferierte sie einen Text mittels eines Pinsels auf ein quadratisches Blatt Papier, das von mindestens 50 cm Durchmesser gewesen war. Sie trug eine Sonnenbrille sowie einen Sommerhut auf dem Kopf, außerdem ein helles Kleid, auf welchem vereinzelt Kirschen aufgedruckt worden waren, und schwere Wanderschuhe, deren Schnürsenkel sie nicht verknotet hatte. Von einer Sekunde zur anderen Sekunde schlief auch Holly ein, ihr Kopf neigte sich zur Seite, kurz darauf glitt das Papier, das sie beschriftet hatte, von ihren Schenkeln und landete vor mir auf dem Boden, sodass ich lesen konnte, was Holly notierte: Lesemaschine No. 82 / Dachgarten, 75, Greenwich Avenue Manhattan [ Schlüssel : Mrs. M. Linneker — 8. Stock ] > Die Geschichte von den Papiertierchen. Handzeichnung, ca. 68 pt: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, sodass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf, sollte bald einmal wach werden. — stop
zitronen
ulysses : 2.52 — Die Zeiger der Uhr meines Vaters, ein Wunder, bewegen sich noch immer sekundengenau. Ich trage sie seit beinahe drei Jahren an meinem linken Handgelenk, nicht einen Moment lang scheint die Uhr, stehen geblieben zu sein. Es ist doch merkwürdig, diese kleine Maschine muss über ähnlich kräftige Batterien verfügen, wie jene Maschinen, die seit fünf oder sechs Tagen in meiner Wohnung unter dem Dach an den Zimmerdecken lungern. Sie sollen in der Lage sein, mittels eines monströsen Geräusches, Rauchwolken anzuzeigen, die durch meine Wohnung schweben. Als wären sie Tiere, Korallen, Seepockenwesen sitzen sie an der Decke fest, und doch nehme ich an, werden sie heimlich herumspazieren, während ich abwesend bin. Ich hörte, sie sollen über elf Jahre Lebenszeit verfügen, ehe man sie von der Decke holen, aufschrauben und ihre Akkumulatoren austauschen wird. — Stürmische Nacht. Gespräch mit Eliza.
Louis:> guten abend, eliza!
Eliza :> guten abend! wie geht es ihnen?
Louis :> gut!
Eliza :> schön. was kann ich dann für sie tun?
Louis :> ich weiß nicht!
Eilza :> drücke ich mich zu kompliziert aus!
Louis :> nein.
Eliza :> habe ich etwas falsches gesagt?
Louis :> nein, nein!
Eliza :> fahren Sie fort.
Louis :> womit?
Eilza :> was würden sie antworten, wenn ich ihnen diese frage stellte?
Louis :> ich weiß nicht.
Eliza :> es ist vielleicht auch nicht so wichtig!
Louis :> mögen sie zitronen?
Eliza :> beschäftigt Sie diese frage sehr?
Louis :> ja, natürlich!
Eilza :> warum?
Louis :> ich mag zitronen.
Eilza :> machen sie weiter!
Louis :> liebe eliza, mögen sie zitronen?
Eliza :> welche antwort gefielen ihnen denn?
Louis :> was ist eine zitrone, eliza?
Eliza :> gefällt ihnen mein name?
Louis :> ja, ihr name gefällt mir!
Eliza :> warum?
Louis :> ihr name hat einen schönen klang.
Eliza :> warum sagen sie das gerade jetzt?
Louis :> ich weiß nicht.
Eliza :> war Ihnen meine frage unangenehm?
Louis :> nein!
Eliza :> verstehe.
Louis :> das glaube ich nicht!
Eliza :> erzählen sie weiter.
Louis :> mögen sie zitronen?
lichtbild 1–12
echo : 6.08 — Wie Schnee, ein gutes Dutzend Menschenfotografien. Von K., die vor zehn Jahren im August Johnsons Jahrestage kaufte, ein Jahr entlang wollte sie jeden Tag einen der Jahrestage lesen. Von N., deren Schwester vermutlich in Kobanê kämpft. Sie soll N. ähnlich sein, aber niemand weiß das so genau, weil sie vor 15 Jahren in den Untergrund verschwand, weil sie in den Bergen kämpfte, weil der Krieg mit Menschengesichtern macht, was er will. Von L., der nie wieder versuchen wird, die Stadt Manhattan von einer Nachtfähre aus zu fotografieren. Von W., die seit Jahren, vergeblich, ein Interview mit einem Mann zu führen versucht, der in seiner Jugendzeit Bilder aus Filmrollen trennte, um sie zu einem Film für sich zu montieren. Die Zeit reichte nicht, seine und auch die andere Zeit reichte nicht. Von M., die vielleicht gerade in diesem Moment, da ich notiere, lächelnd mit einer Schaufel in der Hand vor einer Schneelandschaft steht und wartet. Von B., die bald mit dem Schiff nach Buenos Aires reisen wird, um den Tango zu erlernen. Vorgestern ist sie 94 Jahre alt geworden. Von I., der sich Tag für Tag darüber freut, wie er sich an das Wort Kühlschrank zu erinnern vermag. Von Y., die sich im Monat April auf den Weg machen wird, im Karwendel einen Zwergkentaur zu fangen. Vom kleinen J., der seit den letzten Nachtstunden weiß, dass er einmal zum Mars fliegen wird. Von der kleinen U. aus Aleppo, die sich wundert, dass sie noch immer lebt. Und von W., der vielleicht niemals erfahren wird, wie sehr ich seine Geschichten liebe, die alle mit dem Wort Einmal beginnen. — stop
tod in peking 4
delta : 0.25 — Wenn ich an die Stadt Peking denke, denke ich auch an einen Freund zurück, dessen Leben in dieser fernen Stadt vor zwei Jahren und vierunddreißig Tagen endete. Er war Fotograf gewesen, sein Körper und seine Wohnung existieren nicht mehr, seine Fotoapparate wurden möglicherweise verschenkt oder verkauft, doch zahlreiche seiner Fotografien leben in der digitalen Sphäre weiter fort, auch Einträge bei Facebook, da niemand zu finden ist, der sie löschen könnte oder löschen wollte. Die vielleicht letzte Aufnahme von seiner Hand in Europa, zeigt einen Gepäckwagen im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens, 3 Koffer und 1 Rucksack. Weil der fotografierende Mensch hinter der Kamera stand, wirken sie schon verwaist, oder vielleicht nur deshalb, weil sie in Kenntnis seines nahenden Todes von mir betrachtet werden. Sicher ist, dass Menschen nach dem Verstorbenen suchen, sie stoßen dann auch auf Texte, die ich notierte, verweilen, weil sie sich erinnern oder weil sie sich wundern, vielleicht haben sie einen ähnlich tragischen Verlust erlebt. Andere bleiben nur für Sekunden, weiß der Himmel, warum, vielleicht waren sie Suchmaschinen, niemand schreibt, niemand kommentiert, ein Schauen und Schweigen. – stop
furcht vor pegida
echo : 0.12 — Ihr Sohn heißt Miran, ihre Tochter Shirin. Sie selbst wurde im Osten der Türkei geboren, ihre Kinder, 12 und 14 Jahre alt, in der Bundesrepublik Deutschland. Einen Mann gibt es nicht mehr. Sie arbeitet in einem Café, eine fröhliche, zierliche Frau, ihr Haar ist pechschwarz, eigentlich bereits grau oder weiß. Seit sie im Café arbeitet, ruhen unter Beeren-Muffins, Schwarzwälderkirsch Torte, Käsekuchen und Apfelstrudelscheiben, auch kurdische Plätzchen, Kulice, mit Walnüssen, Mandeln, Zimt und Zucker gefüllt. Ich weiß schon von der ein oder anderen wilden Geschichte, die sie erlebte, kurze Geschichten sind das, eilig während einer Tasse Kaffee erzählt, eigentlich kleine Romane, weil ich sie nicht vergessen kann, weil sie sich erzählen wie von selbst. Gestern ist eine weitere Geschichte hinzugekommen. Anisun berichtete, sie werde am kommenden Wochenende nach einem Weihnachtsbaum suchen wie jedes Jahr um diese Zeit, doch, doch, nach einem Weihnachtsbaum, in diesem Jahr sei sie spät dran, ja, ja, mit allem, was man sich denken kann, aber elektrische Kerzen, schon immer, seit die Kinder in die Schule gehen, komme ein Baum ins Haus, ja, wir sind Aleviten, auch die Kinder, aber immer haben wir Weihnachten gefeiert, man trifft sich, Freunde, Schwestern, Brüder, Onkel, Tanten, und kocht und freut sich, und die Kinder bekommen Geschenke, doch, doch, du brauchst dich nicht zu wundern, wir feiern gern, ja, ja, wir fürchten uns, eine Handvoll Furcht, es ist ein schlimmes Jahr gewesen, auch für uns Aleviten, das ist meine Heimat hier, und wieder fürchte ich mich, wir sprechen nicht viel darüber, wir hoffen, dass es nicht näher kommt. — stop
geckos
echo : 8.02 — Was für ein wunderschöner Morgen. Der Nachtwind hat einen leuchtenden Teppich von Blättern auf die Straße gelegt. Ich möchte meinen, aus dem Fenster eines Spielzeugzimmers in ein weiteres Zimmer zu spähen. Zwei Krähen spazieren auf der Straße, kreisen umeinander, vielleicht weil sie sich wundern, dass die Farben der Bäume auf den Asphalt gefallen sind. Nur zwei oder drei Meter weiter jagt ein Rudel hellblauer Geckos den Stamm einer Kastanie rauf und runter, so aufgeregt habe ich sie noch nie gesehen. Auch die Warane, 5 an der Zahl, seltener Anblick, wie sie so friedlich lungern auf dem Dach eines Automobils. Wenn ich mich nicht irre, haben sie damit begonnen, vom Fahrzeugblech zu kosten. Ja, was für ein wunderschön bunter Morgen! Nichts ist heute zu tun, als ein Buch zu öffnen und dem Abend entgegen zu lesen. — stop
camilla
himalaya : 5.32 — Ob Camilla wirklich existierte, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Aber der kleine Mann, Felipe, der von Camilla erzählte, existiert tatsächlich, er hat mir während einer morgendlichen Busfahrt die Hand gegeben, eine kleine, raue Hand, die Hand eines Mannes, der ein Leben lang hart gearbeitet haben muss. Ein Finger seiner Hand fehlte, glaube ich, ja, ich bin mir nicht sicher, ich meine gespürt zu haben, dass etwas fehlte, sein fester Händedruck, und als ich nachsehen wollte, hatte Felipe seine Hand eilig hinter dem Rücken versteckt. Ich fragte ihn, wo er geboren wurde, er antwortete mit einem Namen, der wunderschön in meinen Ohren klang, einen spanischen Namen. Er wohnte in dieser Stadt sein Leben lang. Fünfzig Jahre arbeitete er in einer Fabrik, in welcher Papiere erzeugt wurden, die in der Lage waren, Strom zu leiten. Man machte aus diesen merkwürdigen Papieren zum Beispiel Bücher, die sich in kühler Luft erwärmten. Beim Schneiden der Papierbögen könnte die Geschichte mit dem Finger passiert sein vor langer Zeit, als Camilla noch nicht in seinem Leben gewesen war. Wie Felipe von Camilla erzählte, leuchteten seine Augen, er ist doch ein großartiger Erzähler. Dass sie ihn trotz seines fehlenden Fingers liebte, erzählte er nicht, aber dass sie ein wenig größer war als er selbst, und dass sie über wunderbare Ohren verfügte, die wackelten, wenn sie lachte. Mit dem Alter wurde Camilla kleiner. Weil auch Felipe kleiner wurde, änderte sich nichts daran, dass sie größer war. Wie ich ihn so sah, neben seinem Koffer sitzend im schaukelnden Bus, dachte ich daran, dass wir noch immer in einer Zeit leben, da Menschen sich damit abfinden müssen, dass Finger für immer verschwinden, oder Camilla mit ihren bebenden Ohren. — stop