foxtrott : 5.12 — Früher Nachmittag, Sommer. Ich beobachte auf einem Fährschiff, das nach Staten Island fährt, einen älteren Mann bei konzentrierter Arbeit. Er sitzt auf einer Bank des Promenadendecks, tief über ein Buch gebeugt. Einige Kinder tollen in seiner Nähe herum, er nimmt, so sehr ist er bemüht, mit einem Bleistift den Zeilen eines Buches zu folgen, keine Notiz von ihnen. Ich denke zunächst, der alte Mann würde seine Augen mithilfe eines Bleistifts entlang der Zeichenlinie führen, aber als ich mich nähere, entdecke ich Wort für Wort eine leichte Verzögerung der Bewegung, die aus der Entfernung betrachtet doch wie eine fließende Bewegung wirkt. Am Ende jeder Zeile notiert der Mann eine Ziffer, vermutlich deshalb, weil er die Wörter des Buches zählt. Das ist seltsam und zugleich berührend, wie er so selbstvergessen auf dem großen Schiff verweilt, und ich hoffe, er möge auf Staten Island angekommen, mit dem nächsten Schiff zurückfahren nach Manhattan, und wiederum auf seinem Transfer Wörter zählen. Als das Schiff an das St. George Terminal anlegt, schließt der alte Mann das Buch, verstaut seinen Bleistift in einer Tasche seines Jacketts, erhebt sich mühevoll, um das Schiff langsam gehend über die Brücke, die sich zur Fähre hin senkte, zu verlassen. Im Saal des Terminals bleibt er für einen Augenblick vor einem Aquarium stehen, betrachtet die Fische oder sein Spiegelbild, um sich wenige Minuten später von der Menschenmenge, die auf das wartende Schiff strömt, mitnehmen zu lassen. Nebel ist aufgekommen, die Möwen, die das Schiff auf seinem Weg nach Manhattan begleiten, still. Ich stehe draußen auf der Promenade und beobachte das Wasser, wie es weit unten entlang des Schiffskörpers schäumt. Gelegentlich schaue ich durch Fenster zu dem alten Mann hin, zu seinem Buch, seinem Bleistift, seinen Händen. — stop
Aus der Wörtersammlung: zeichen
zebraaffen
whiskey : 0.01 — Ich sollte einen Brief schreiben. Der Inhalt des Briefes wäre bedeutungslos, weswegen ich auf ein Schriftstück im Umschlag verzichten könnte. Ich werde per E‑Mail Folgendes notieren: Lieber L., in wenigen Tagen, wenn alles gut gegangen sein wird, wirst Du einen Brief erhalten. Sollte Dich der Brief tatsächlich erreichen, musst Du ihn nicht öffnen, das Kuvert ist leer. Würdest Du mir bitte den Empfang des Briefes bestätigen. Ich wäre Dir dankbar, es ist ein Versuch. Ja, so werde ich notieren, den Brief sorgfältig adressieren, auch mein Absender wird nicht fehlen. Ich stelle mir vor, einen größeren Briefumschlag zu verwenden, ich werde 1 gültiges Postwertzeichen befeuchten und auf dem Brief befestigen. Von diesem gültigen Postwertzeichen abgesehen, werden 25 weitere Postwertzeichen auf dem Umschlag zu finden sein, sagen wir Briefmarken, die Giraffen und Fische zeigen, Schmetterlinge, Zebraaffen, Vögel, Insekten. Diese Briefmarken ferner Länder, die ich von weiteren Briefen löste, werden natürlich bereits gestempelt sein, man könnte sagen, dieser Brief wird geschrieben werden, um die Sorgfalt der Behörden zu probieren. — stop
leon grog abends
echo : 2.55 — Am Flughafen, in einem Wartesaal unter dem Terminal 1, hockte ein älterer Mann am späten Abend auf einer Bank. Neben ihm stand eine Flasche Milch auf dem Boden, sowie eine kleine, arg ramponierte Ledertasche, die man früher vielleicht einmal über die Schulter hängen konnte, aber der Riemen der Tasche war vom langen Tragen zerschlissen, baumelte zu Teilen von den Seiten der Tasche, die leicht geöffnet war, sodass ein Blick möglich wurde auf einen Stapel von Luftpostbriefen, die sich in die Tasche fügten, als wären sie genau für diese Tasche gefertigt oder aber die Tasche für genau diese Sammlung scheinbar weit gereister Briefe. Sie waren vielfach geöffnet worden, vielleicht gelesen, das war deutlich zu erkennen. Einen der Briefe hielt der Mann gerade in dem Moment, da ich ihn auf der Bank bemerkte, an sein Ohr, er schien zu lauschen. Seine Augen hatte er geschlossen, er wirkte konzentriert, ja andächtig. Als ich von dem alten Mann in dieser Haltung eine Fotografie mit meinem Telefonapparat machen wollte, sah er mich plötzlich an und hob in einer reflexartigen Bewegung den Brief in die Höhe, sodass sein Gesicht nun beinahe ganz verdeckt war. Da ging ich weiter, um nicht zu stören, aber der Mann rief mir zu: Warten sie, setzen sie sich! Er überreichte mir den Brief, mit dem er kurz zuvor noch sein Gesicht maskiert hatte, und forderte mich auf, das Kuvert an mein Ohr zu halten. Der Brief knisterte, als ich ihn in meine Hände nahm. Auf der Anschriftseite des Briefes war mit feinen Zeichen folgender Schriftzug aufgetragen: Leon Grog, Av. Rovisco, 26, Lisboa. Der Mann lachte und deutete auf sich selbst: Das bin ich, sagte er, Leon. Er wies mit einer großzügigen Geste auf eine Briefmarke hin, die akkurat am rechten oberen Rand des Briefes befestigt wurde, ein Stück Himmel war zu erkennen von hellem Blau, und ein blitzendes Flugzeug, eine Caravelle, die soeben zu starten schien. Als ich selbst die Briefmarke an mein Ohr legte, hörte ich ein helles Rauschen, ich hörte die Motoren des Flugzeuges und schloss die Augen, wie der Herr zuvor seine Augen geschlossen hatte. Als ich sie wieder öffnete, bemerke ich einen weiteren Brief, der gleichfalls an Herrn Leon Grog adressiert worden war, wiederum nach Lissabon, während der erste Brief aus den Vereinigten Staaten gesendet worden war, kam dieser hier von Kolumbien her, eine Briefmarke zeigte etwas Regenwald und einen Nashornvogel von prächtigem Gefieder. — stop
von marienkäfern und wodka
tango : 2.00 — Vor drei Wochen entdeckte ich in einem Münchener Antiquariat ein schweres Notizbuch DIN A3, in welches ein Mann, der für einige Monate in einem Bergwald lebte, mit winzigen Schriftzeichen Beobachtungen, Erlebnisse, Gedanken verzeichnete. Es muss zur Sommerzeit gewesen sein, das Jahr der Aufzeichnungen wurde nicht vermerkt, auch nicht der volle Name des Mannes, nur sein Vorname, der war Ludwig. Das Dokument umfasst beinahe siebenhundert Seiten, es scheint mehrfach feucht geworden zu sein, da und dort sind zwischen den Blättern getrocknete Wiesenblumen zu finden, die mittels des Buchgewichtes präpariert worden waren, auch habe ich mehrere Ameisen vollkommen leblos aufgefunden, sowie Marienkäfer, die den Anschein erweckten, als würden sie gerade noch versucht haben, auf und davonzufliegen, als sie von einer Buchseite, die umgeblättert wurde, gefangen genommen wurden. Was war es gewesen, das den Mann in den Wald lockte? Vielleicht die Stille und das wunderbare Licht der Höhe? An einem Julitag, es war der 5., folgender Eintrag: Höhe 1258 m. Kein Wind, keine Wolke am Himmel. Ich sitze und beobachte Schafe, wie sie unter mir über eine Wiese spazieren. Wunderbare Geräusche der kleinen Halsglocken. Zum Wodka ist mir heute Morgen eingefallen, dass Menschen existieren, die Wodka bevorzugt in Mineralwasserflaschen füllen. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang der Verkleidung oder des Verheimlichens. Der Wodka ist versteckt, obwohl er sichtbar ist. Das eigentliche Versteck ist die Methode der Behauptung, etwas anderes zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Mixturen, die üblicherweise an Arbeitsplätzen zur Anwendung kommen. Eine Thermoskanne ist Aufenthaltsort einer guten Begründung, diese Begründung besteht aus der Flüssigkeit des Kaffees. In diese Begründung ist das Eigentliche, der Cognac, eingewickelt. — stop
morgenzeitung
himalaya : 0.36 — Meine Mutter überlegte vor einigen Tagen, ob sie ihre geliebte Zeitung, die sie ein halbes Leben lang jeden Morgen in aller Frühe studierte, nicht vielleicht abbestellen sollte, weil sie nicht mehr so schnell lesen würde wie früher noch, also weniger Zeitung wahrnehmen könne in derselben Zeit. Sie rief bei der Zeitung an. Ein junger Mann, der die Gefahr erkannte, eine treue Leserin zu verlieren, machte ihr unverzüglich ein großzügiges Angebot. Er sagte, wenn sie die Zeitung weitere 2 Jahre abonnieren würde, müsste sie ein halbes Jahr lang für ihre Zeitung nichts bezahlen, weswegen meine Mutter sofort von ihrem Wunsch, sich um ihr Lesevergnügen zu bringen, Abstand nahm. Sie abonnierte also die Zeitung für weitere 2 Jahre, obwohl sie doch möglicherweise langsamer und noch langsamer lesen wird, also jener Teil der Zeitung, der ungelesen, größer werden wird. Der junge Mann am Telefon hatte im übrigen auch für dieses Problem ungelesener Zeitungsabteile eine beruhigende Mitteilung zu machen. Er sagte, die Zeitung würde auch dann gedruckt, wenn Mutter sie abbestellen würde, was vermutlich der Fall ist, ein Argument, das wirkte. Als ich Mutters Geschichte hörte, dachte ich, man müsste einmal elektrische Papiere erfinden, hauchdünne Computerbildschirme, die zu einem Gefäß versammelt sind, das sich anfühlt wie eine Zeitung. Über Funk würden Zeichen gesendet werden, gerade so viele Zeichen wie üblicherweise gelesen werden von dem Besitzer des Zeitungsgefäßes, Zeichen über Literatur und Lokales und über die Politik der großen, weiten Welt. Eine Zeitung mit Augen, eine Zeitung, die vermerkt, wie viele ihrer Zeichen präzise gelesen werden, eine Zeitung beinahe wie ein Computer, oder, genauer gesagt, ein Computer, der sich wie eine Zeitung anfühlen würde, in dem man blättern könnte, ein Computer der raschelt, oder eben eine Zeitung, die man ausschalten kann. — stop
von muffins
tango : 1.10 — In der vergangenen Nacht hatte ich einen lustigen Traum. Ich beobachtete, wie ich mit einem gespitzten Stück blauer Kreide in mein Papiernotizbuch notierte. Ich schrieb ungefähr ein Wort auf eine Seite. Sobald das Wort, das ich schreiben wollte, über zu viele Zeichen für den Umfang einer Seite meines Notizbuches verfügte, überlegte ich, ob vielleicht ein kürzeres Wort existieren könnte, um das längere Wort zu ersetzen. Plötzlich näherte sich eine Hand von der Seite her, nahm mir das Stück Kreide behutsam aus den Fingern, reichte mir stattdessen einen Bleistift, und ich schrieb in großen Buchstaben weiter, die von Seite zu Seite immer kleiner wurden, kleiner und kleiner, bis ich meine Schrift nicht mehr lesen konnte. Immer noch Traum. Ich gehe spazieren. Frischer Nachtschnee knistert unter meinen Füßen. Es ist ein sonniger Tag in Brooklyn, am Ende einer Straße schimmert das Meer. Ein paar glänzende Flugzeuge schweben dort über den Himmel, sie fliegen auf dem Kopf. Kurz darauf betrete ich ein Café, es ist, glaube ich, das Buon Gusto in der Montague Street. Vor einer Vitrine in der Tiefe des schmalen Raumes wartet ein Polizist. Er ist groß und von kräftiger Statur und seine Haut sehr schwarz, und ich denke, er weiß, dass ich denke, dass er sehr schwarz ist, und er lacht und deutet ins Innere der Vitrine, wo ein gutes Dutzend Muffins auf aprikosenfarbenen Deckchen ruhen. Einer der kleinen Kuchen bewegt sich, ein Blaubeermuffin, seitwärts ragt ein gefiedertes Flügelchen heraus, das wild um sich schlägt, weshalb der kleine Kuchen sich immer schneller auf der Stelle dreht. Seite an Seite stehen der riesige Mann und ich, ein kleiner Mann, leicht vorgebeugt und staunen über das Geschehen in der Vitrine. Plötzlich wird es still, der Flügel ist im Muffin verschwunden, und der Polizist flüstert mir zu: Er gehört zu Ihnen, nicht wahr! Ich antworte: Ich glaube, er ist eingeschlafen. — stop
tintenfinger
lima : 0.55 — Mit dem langsamen Verschwinden der Briefe flüchten unsere Postwertzeichen in Schachtelbehälter, in Alben, in Museen, kostbare, bunte Wesen von Papier, die wir noch mit unseren Zungen befeuchteten, um sie mit Briefumschlägen für immer zu verbinden. Auch Gesten, die den Briefen zugeordnet sind, werden sich nach und nach verlieren. Die Geste des Zerreißens beispielsweise, oder die Geste des Zerknüllens. Wann habe ich zuletzt beobachtet, wie der Empfänger eines Briefes sich dem geöffneten Dokument mit der Nase näherte, um von der Luft der geliebten schreibenden Person zu atmen, die mit dem Brief gereist sein könnte? Verloren die Abdrücke der Tintenfinger, die Ränder einer Briefseite zierten, verloren auch das feine Geräusch der Skalpelle, indem sie teilend durch das seidene Futter der Kuvertkoffer ziehen. Ein absurder Gedanke möglicherweise, wie ich den E‑Mailbrief einer Behörde, der mich zornig werden lässt, ausdrucke, wie ich ihn in einen Umschlag stecke, wie ich ihn für einige Sekunden in Händen halte, wie ich mich konzentriere, wie ich den Brief genussvoll in winzige Teile zerlege. — stop
zerzaust
victor : 0.55 — L. erzählt, sie habe einmal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zeitungen. Trotzdem sei diese Frau, deren Namen sie nicht in Erinnerung habe, Wörtern sehr eng verbunden gewesen, da sie pausenlos Wörter notierte. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bänken sitzend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie verlassen haben soll. Sie schrieb an einem einzigen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer weiteren Variante mit sich führte, im Grunde an einem Buch einerseits, das sie bereits aufgeschrieben hatte, und einem Buch andererseits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrieben worden war, wiederholte, aber natürlich nicht, ohne das Buch im Prozess des Abschreibens zu ergänzen. Jede Ergänzung wurde sorgfältig überlegt, manchmal wurden Wörter ersetzt, ganze Sätze oder ein Gedanke hinzugefügt, selten eine Passage gestrichen. In dieser Weise veränderte sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wurde langsam schwerer. Immer dann, wenn ein Buch abgeschrieben worden war, verschwand das abgeschriebene Buch. Und wiederum begann die Frau eine weitere Kopie anzufertigen, die sich im Prozess der Verdopplung scheinbar nur unwesentlich von ihrem Original unterscheiden würde. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spazieren und war stets sorgfältig gekleidet. Sie soll schon ein wenig wild ausgesehen haben, zersaust, aber glücklich, sagen wir, zerzaust und immer beschäftigt und irgendwie fröhlich. Sie notierte zierliche, äußerst exakte Zeichen. — stop
es ist abend
marimba : 6.02 – Wie Schnee, ein gutes Dutzend Menschenfotografien. Von L., die über einem Buch eingeschlafen ist, wie sie an einem Küchentisch sitzt, den Kopf auf ihre Hände gebettet, sie muss bemerkt haben, dass sie gleich das Bewusstsein verlieren wird. Von M., der im Wald über eine Wiese voller Schneeglöckchen spaziert, ein Manuskript in der linken Hand, dessen Sätze er auswendig lernen muss, um sie auf einer Bühne zu sprechen. Er geht schnell, weil kaum noch Zeit ist, aber das ist auf der Schwarz-Weiß-Fotografie nicht zu erkennen. Von P., die vor einer Erdmulde unter einer Birke steht. Das Grab der Eltern ist verschwunden, der Hügel voller Blumen, ein Gedenkstein, aber die Birke ist noch da, sie war schon da, als sie geboren wurde, und sie weiß, dass tief da unten auch die Knochen der Eltern noch immer anwesend sind. Von I., der sich, wie ein Jahr zuvor, Tag für Tag darüber freut, dass er das Wort Kühlschrank zu erinnern vermag. Von J., die einen Fotoapparat auf sich selbst richtet an einem Abend, da sie bemerkt, dass das Sausen in ihren Ohren plötzlich verschwunden ist, wie sie der Stille lauscht. Von K., die über eine Straße stürmt auf dem Weg zum Tanz, barfuß, ihre roten, flachen Lederschuhe in der rechten Hand, und obwohl es regnet, wirbeln nasse Blätter hinter ihr durch die Luft. Von N., deren Schwester in Kobanê kämpfte, wie sie schläft. Die Schwester soll N. ähnlich gewesen sein, aber niemand weiß das so genau, weil die Schwester vor 15 Jahren in den Untergrund verschwand, weil sie in den Bergen kämpfte, weil der Krieg mit Menschengesichtern macht was er will, weil sie nie wieder zurückkehren wird. Von M., die im Dezember noch in den Bergen wanderte auf einer Alm, wo der Schnee Muster auf eine Wiese zeichnete, wie sie auf der Haut der Sommerkühe anzutreffen sind. Von dem kleinen H. aus Aleppo, der sich wundert, dass er noch immer lebt. Er zeigt gerade Siegeszeichen mit beiden Händen, als der Fotograf seinerseits seine letzte Aufnahme macht. Von K., der mit geschlossenen Augen auf einer Violine spielt, die aus Stirnknochen eines gestrandeten Wales geschnitzt wurde. Von Y., die in einem feinen dunkelblauen Kostüm nahe Columbus Circle im Central Park neben einem Rollkoffer steht und mit einem Eichhörnchen spricht, das mit gespitzten Ohren vor ihr sitzt. Es ist Abend. — stop
2 minuten
alpha : 5.25 – Eine Freundin, B., erzählte, sie sei kürzlich in einer Straßenbahn gefahren, da habe ein Mann in ihrer Nähe Platz genommen. Sie habe gerade gelesen, als sich der Mann fast lautlos setzte, sie habe kurz ein wenig den Blick gehoben und auf dem Unterarm des Mannes die Zeichen ISLAM entdeckt, diese Zeichen seien dort eintätowiert gewesen, eine Hautbeschriftung wie für die Ewigkeit eines ganzen Lebens. Sie habe dann erst einmal ihre Lektüre fortgesetzt, aber sie habe sich nicht länger auf ihr Buch konzentrieren können, darum habe sie den Blick gehoben. Ihr Blick sei über die Inschrift ISLAM, sie war tatsächlich noch immer dort gewesen, hinweggehuscht zum Gesicht des Mannes hin, das ein junges Gesicht gewesen sei. Der Mann habe sie äußerst bedrohlich, also aggressiv oder so ähnlich, betrachtet, ein Blick unentwegt, ein Blick ohne einen Lidschlag, da habe sie sich gefürchtet, habe ihren eigenen Blick wieder gesenkt und das Buch angesehen, aber natürlich nicht gelesen, sondern nachgedacht. Ja, was sie gedacht habe, sei nicht gerade angenehm gewesen, sie habe sich überlegt, ob der Mann, der ihr gegenübersaß, vielleicht eine Waffe, gar einen Sprengstoffgürtel tragen könnte. Ihr sei auch in den Sinn gekommen, dass sehr viele Menschen in der Straßenbahn gefahren seien, was eigentlich ein gutes Zeichen gewesen sei, weil man ihr hätte helfen können, einer gegen viele, aber dann habe sie daran gedacht, dass gerade dort, wo viele Menschen sich befinden, Bomben explodieren, weil man in dieser Weise viele Menschen auf einmal umbringen könne, und sie habe den Eindruck gehabt, dass sie sofort aufstehen und aussteigen sollte. Aber dann habe sie sich gesagt, dass sie das jetzt aushalten müsse, und deshalb sei sie sitzen geblieben, und das alles in ein oder zwei Minuten. — stop