romeo : 10.28 UTC — Es war Mai, ich ging, Blick auf den Boden gerichtet, spazieren. Man möchte vielleicht meinen, dass ich nur den Boden, nichts anderes sehen wollte in Gedanken versunken in Kreisen. So geh ich eine halbe Stunde dahin. Bald begegnete ich einer Raupe, die den Weg, auf dem ich ging, überquerte. Es war eine sandige Stelle. Ich blieb stehen, ging in die Knie, beobachtete, wie sich die Raupe bemühte, sandige Körner von ihren Beinen zu schütteln. Einmal rollt sie sich seitwärts ab, eine Idee, die dazu führte, dass auch das kräftige Haar ihres Rückens von Sand bedeckt worden war. Diese erste Raupe, der ich an diesem Tag begegnete, war von einem leuchtenden Gelb. Seitlich, ihren Körper entlang, waren hellrote Punkte zu erkennen. Ihr Kopf war von einem leuchtenden Blau. — stop
Aus der Wörtersammlung: beine
das bein
bamako : 6.32 UTC — Einmal, das war vor zehn Jahren gewesen, stürzte eine Fliege aus großer Höhe vor mir auf den Tisch. Die Vorstellung zunächst, das Tier könnte, noch im Flug befindlich, aus dem Leben geschieden sein, dann aber war Bewegung im liegenden Körper zu erkennen, zwei der vorderen Fliegenbeinchen bewegten sich bebend, bald zuckten zwei Flügel. Die Fliege schien benommen, jedoch nicht tot gewesen zu sein, weswegen sie bald darauf erwachte, eine äußerst schnelle Bewegung und schon hatte die Fliege auf ihren Beinen Platz genommen, das heißt genauer, auf fünf ihrer sechs Beine Platz genommen, das linke hintere Bein streckte die Fliege steif von sich. Keine Bewegung der Flucht in diesem Zeitraum meiner Beobachtung. Auch dann, als ich mich mit dem Kopf näherte, keine Anzeichen von Beunruhigung. Die Fliege schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, tastete mit einem ihrer Hinterbeinchen nach der gestreckten Extremität, die verletzt zu sein schien, gebrochen vielleicht oder gestaucht. Natürlich stellte sich sofort die Frage, ob es möglich ist, das Bein einer Fliege medizinisch erfolgreich zu versorgen, Bewegungsstillstand zu erreichen, sagen wir, um eine Operation zum Beispiel, die dringend geboten sein könnte, vorzubereiten. Ich machte ein paar Notizen von eigener Hand, ich notierte in etwa so: Forschen nach Mikroskop, Pinzetten, Skalpellen, anatomischen Aufzeichnungen, Schrauben, Narkotika und Verbandsmaterialien für Operation an geöffneter Calliphora vicina. — stop
im wald
ulysses : 18.12 UTC — Einmal spazierte ich mit Mutter durch einen Wald. Die alte Dame, sie trug rote Turnschuhe, fragte mich, ob sie denn seltsam aussehen würde, so wie sie ging. Und ich antwortete: Nein, dein Gang ist vielleicht etwas steif geworden, etwas langsamer, vorsichtiger, aber nicht seltsam. Am Himmel kreiste ein Modellflugzeug mit einem Kopfpropeller, sehr leise, kunstvoll über einem Hügel, von dem aus wir Vaters Segelflugzeuge in herbstliche Winde hängten. In jenem Wald, ich erinnere mich, den ich mit Mutter spazierte, suchte ich als Junge nach Skeletten. Es war ein dichter Wald junger Tannen. Man erzählte, dass die Tiere sich dorthin zurückzogen, um in Ruhe zu sterben. Vermutlich deshalb habe ich sehr viele Knochen gefunden. Sie waren über Jahre hin über den Boden gewandert, das waren vermutlich Wildschweine gewesen. Ich trug zahlreiche Knochen nach Hause, um sie zu sortieren mithilfe eines naturkundlichen Buches. In einem großen Karton verwahrte ich Knochen, die ich nicht zuordnen konnte. Einmal schüttete ich diese Knochen vor mich auf den Boden und setzt sie so zusammen, dass sich ein Tier abzeichnete, welches über mehrere Schädel verfügte und zahlreiche Beine. Das Tier war sehr lang, ein Tier, über dessen Leben ich aufregende Geschichten erzählen konnte. — stop
auf der intensivstation
ulysses : 8.22 UTC — Am Telefon berichtete eine Schwester der Intensivmedizin: Heute Nacht war es ernst, sie hatte eine Atemkrise. Vielleicht wollen sie sofort kurz vorbeikommen! Eine Straßenbahnhalbstunde später trat ich in die Station. Seltsam hupende Geräusche von da, von dort. Blinkende Apparaturen, gelb, rot, grün. Eine weitere Schwester erzählte, sie habe morgens bei der Übergabe gehört, es sei knapp gewesen: Das Leben ihrer Freundin hing an einem seidenen Faden. Und ich dachte, sie wird nicht dieselbe sein, wenn sie wieder aufwachen wird. Wer wird sie sein? Und ich dachte noch dazu: Jedes der Zimmer an diesem Ort, jedes Abteil, ist eine Sorgenwelt. Und schon saß ich auf einem Stuhl vor dem Bett der Schlafenden. Sie lag auf dem Bauch, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Ohren. Eine der tapferfröhlichen Schwestern schlug vor, ich solle doch möglichst mit der Schlafenden sprechen: Das mögen sie nämlich! Und schon waren wir unter uns allein mit den Maschinen. Ich versuchte also zu sprechen. Es ist sehr schwer einer schlafenden Person zu erzählen, man hört nur sich selbst, und man glaubt nicht, was man erzählt, obwohl doch alles wahr ist, was man erzählt. Sofort in dieser Notlage suchte ich in den Magazinen meiner Schreibmaschine nach Geschichten, die ich vorlesen könnte, vorlesen, sagen wir, wie sprechen, mit meiner Stimme locken. Ich sagte: Folgendes, hör zu! Da ist ein Museum, das Museum der Nachthäuser, das sich in New York am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der Eastriver — Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor hörte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil, so war zu lesen, das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung geöffnet würde. Es ist eben ein Museum für Nachtmenschen, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum dann öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher in dieser Nacht gewesen war, führte mich ein junger Mann herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er überaus spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz erzählen, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung zwischen einem Gecko und einer Spinne erinnerte. Das Ding war verrostet. Es hatte die Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handele, aus einer Zeit da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter den Dächern ein und derselben Häuser wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf,- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen hatten. Ja, zum Teufel, schon zum hundertsten Male war das so geschehen, obwohl man allerfreundlichst um etwas Ruhe, um etwas Vorsicht gebeten hatte, nein gefleht, nein geflüstert. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich jene Tagmenschen, die über geräumigen Zimmern wohnten, sicher fühlten vor jenen Nachtmenschen, die unter ihnen wohnten und mit ihren Schritten die Zimmerdecke niemals erreichen konnten. Aus und fini! — stop
polio
echo : 15.08 UTC — Nach Alkohol bitter duftende Wolke, Erinnerung einer Turnhalle mit hölzernem Boden, vor Kletterseilen Tische, hinter welchen Lehrer hockten. Sie führten Namenslisten, und jene weiteren Personen in weißen Kitteln, die nicht bekannt gewesen waren, bereiteten den Impfstoff vor, der uns, wir waren Kinder, vor Polio schützen sollte, vor der Lähmung unserer Beine, unserer Arme, vor eisernen Lungen und vor den schrecklichen Krücken aus Metall oder Holz. Ich erinnere mich an einen dunkelbraun gefärbten Tropfen, der auf einen Zuckerwürfel fällt. Wir albern herum, eine wogende, kichernde Schlange von Kindern in Sommerkleidchen und Sommerhosen. Sehr ernst der Moment, da sich der Löffel nähert. Zucker. Bitter. Süß. Das Schlucken. Es war kurz vor der Zeit der Kartoffelfeuer. Gestorben ist damals niemand, nicht an Polio. Heut, da ich beginne Phillip Roth Roman Nemesis zu lesen, war dieses seltsames Wort meiner Kindheit wieder gegenwärtig geworden. — stop
herzwesen
lima : 5.18 UTC — Ein kleiner Kopf, das ist eine Tatsache. Und Augen ja, aber im Grunde nicht unverzichtbar. Kaum Beine, kaum Arme, das Wesen ruht in einer Schale, die über einen Abfluss verfügen sollte, weil sein Körper von Wasser umspült wird, weil das Wesen Nahrung zu sich nimmt, gefüttert wird, manchmal mit einem Löffel, üblicherweise mittels einer Sonde. Das Wesen ist menschlicher Natur, ein reduzierter menschlicher Körper, der über kaum nennenswertes Gehirn verfügt, es handelt sich um einen Basisherzkörper, um ein Herzwesen. Sobald erwachsen geworden, es wird sehr schnell erwachsen, kann das fertiggestellte Herz von seinem kleinen Kopf befreit werden. Nun kann man das frische Herz aus der Schale nehmen und transplantieren, zum Beispiel, um ein krankes Herz zu ersetzen. Zurück in der Schale verbleiben ein kleiner Kopf und ein kleiner Bauch. Die Augen des kleinen Kopfes sind geschlossen. Sobald man sich nähert, möchte man meinen, das Wesen würde nur schlafen.
nahe uummannaq
marimba : 16.11 UTC — Gestern ist mir etwas Lustiges mit mir selbst passiert. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde. Der vorgestellte Eisbär sollte ein ernstzunehmender Eisbär sein, ungefähr drei Meter in der Höhe, sofern er sich auf seine Hinterbeine stellt. Ich stand also in meinem Zimmer und überlegte, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde, der gerade noch unter meiner Zimmerdecke Platz finden würde. Plötzlich saß ich auf dem Boden und fand diese Haltung angesichts eines Polarbären in meinem Zimmer sehr angemessen. Kurz darauf wurde ich gefressen. Ich meine mich erinnern zu können, der Bär begann mit der Schulter, meiner rechten. — stop
von der reisenden warenwelt
kilimandscharo : 22.02 UTC — Ich dachte heute, in der Schweiz würden vielleicht Menschen existieren, die ich als Uhrenträger bezeichnen könnte. Uhrenträger, weil sie je 50 Uhren an Armen und Beinen dicht an ihren Körpern tragen. So, in dieser Weise von Uhrwerken geschmückt, geht man als Uhrenträger leise tickend vorsichtig spazieren, wandert in der schönen Natur herum, ohne selbstverständlich auch nur eine der Uhren je abzulegen. Auch im Schlaf werden alle Uhrwerke getragen, weshalb es in der nächtlichen Stille in den Zimmern leise rauscht. Nach ein oder zwei Wochen kehren Uhrenträger dann aus dem Leben in ihre Uhrenfabrik zurück. Dort sind sie nämlich angestellt, um vollständig neue Uhrgeschöpfe in bereits gebrauchte Ware zu verwandeln, warum? — stop
bauci
tango : 10.28 UTC — Regen gestern, ein Regen, der sprühte, beinahe Nebel. Ich spazierte im Park. Kaum ein Mensch war unterwegs im Park, von dem ich nicht erzählen darf, wo er sich präzise befindet, damit niemand sagen kann, wo präzise ich selbst mich befinde. Ich hatte mir einen Regenschirm gekauft für Regenzeit, einen, den ich auch als Schneeschirm verwenden könnte, einen robusten Schirm, etwas größer im Umfang, als gewöhnliche Schirme, einen Schirm, der bewirkt, dass es schneien wird, sobald man ihn zur rechten Zeit hervorholen wird. Ich spazierte also und las in Italo Calvinos Sammlung der unsichtbaren Städte. Bald stellte ich mir vor, wie ich in diesem Moment des Lesens nach sieben Tagen Fußmarsches durch ausgedehnte Wälder eine Stadt erreiche, die ich nicht sehen kann, Bauci, aber ihre — dünnen Stelzen, die sich in großen Abständen von der Erde erheben und über den Wolken verlieren, (sie) tragen die Stadt. Man gelangt mit Leitern hinauf. / Auf der Erde erscheinen die Einwohner selten. Sie haben schon alles Notwendige oben, und kommen lieber nicht herunter. Nichts von der Stadt berührt den Boden, ausgenommen diese langen Flamingobeine, auf denen sie ruht, und an hellen Tagen ein durchbrochener, eckiger Schatten, der sich auf dem Blätterwerk abzeichnet. / Drei Hypothesen stellt man über die Einwohner von Bauci auf, dass sie Erde hassen, dass sie einen solchen Respekt vor ihr haben, jede Berührung zu meiden, dass sie sie lieben, wie sie vor Ihnen gewesen, und nicht müde werden, sie mit abwärts gerichteten Ferngläsern und Teleskopen Blatt für Blatt, Stein um Stein, Ameise um Ameise zu mustern, und fasziniert ihre eigene Abwesenheit zu betrachten. — stop / aus: Italo Calvino Die unsichtbaren Städte, Frankfurt 20134
am nachmittag
foxtrott : 16.22 UTC — Im Park hörte ich ein Geräusch, das mich an einen Trompetenstoß erinnerte. Das Geräusch wiederholte sich, war mal lauter, dann wieder leiser zu hören, vielleicht weil es vom Wind davongetragen wurde. Wenig später trat ein Cello aus dem Unterholz. Das Cello spazierte auf zwei Beinen in Richtung des Geräusches, das ich als Trompetengeräusch identifizierte. Bald war es jenseits des Weges unter den Schattenschirm einer Kastanie getreten, wo es stoppte. Das Instrument, dessen Holz leuchtete, schien zu warten. Als ich nun weiter spazierte begegneten mir ein Becken, das sich auf acht kurzen Beinen fortbewegte, die sich sowohl vorwärts als auch kreisend bewegten, nur Minuten später eine Oboe, die in einer horizontalen Haltung marschierte. Der Wind, der in ihr Mundstück drang, erzeugte leise hupende Klänge ganz wundervoll. Als Becken, Oboe und Cello sich unter der Kastanie vereinigten, sendeten sie gemeinsam seltsame Frequenzen über die Wiese, die sich westwärts zur Stadt hin erstreckte. Dann Stille, dann von neuem eine Wiederholung des bereits Gehörten, und wieder Stille. Man wartete nebeneinander stehend wie an einer Busshaltestelle, man wartete gemeinsam worauf auch immer. — stop