charlie : 0.58 — p y r a m i d e n b a h n n e u r o n
Aus der Wörtersammlung: charlie
jean paul
charlie : 3.08 — Während eines Gespräches im Gehen erzählte ich Mutter, dass ich vor Jahren einmal fürchtete, ihr Leben könnte vor dem Leben meines Vaters enden. In Bruchteilen einer Sekunde antwortete sie, dass Vater ihr in diesem Falle unmittelbar nachgestorben wäre. Ich war sofort stehen geblieben, das Wort nachsterben irritierte. Ich meinte dieses Wort noch nie zuvor gehört zu haben, und überlegte, ob Mutter das Wort vielleicht erfunden haben könnte, ein Wort also für eine Situation, die sie sich selbst vorgestellt haben mochte. Einige Stunden später suchte ich nach dem Wort in der digitalen Sphäre. Tatsächlich existiert dieses Wort bereits seit langer Zeit. Ich war nun ein altes Kind gewesen, das Wörter lernt, in dem es Geräusche von den Lippen seiner Mutter liest. Habe auf der Suche nach den Spuren jenes Wortes eine feine Beobachtung Jean Pauls entdeckt: Außerhalb des Traums kommen uns Empfindbilder öfter von Tönen als von Reden und Schällen vor; nach einer Musiknacht kann die bewegte Seele sich willkürlich die Melodien, aber nicht die Gespräche wiederklingen lassen; denn wie sehr der Musikton, die Poesie des Klanges, so tief mehr in uns als um uns zu spielen und unter allen Empfindungen von uns mehr geschaffen als empfangen zu werden scheint, beweiset die schon angeführte Erfahrung, daß wir an einem Singen und Flöten, das in immer weitere Ferne verfließt, gerade mit dem gespanntesten Ohre die letzten aussterbenden Töne von Außen nicht von den nachsterbenden von Innen sondern können. — stop. Drei Uhr. stop. Heute Nacht pfeift ein Vogel im Dunkeln, obwohl es noch lange Zeit nicht hell werden wird. Das ist seltsam. Er scheint mich im Auge zu behalten. Ich stehe am Fenster und bewege einen Arm und eine Hand, als würde ich winken. Diese Geste lässt den Vogel verstummen, warum? — stop
aleppo
charlie : 20.05 — Als Kind konnte ich an Geräuschen der Luft unterscheiden, ob ich einer singenden Amsel lauschte oder einer Meise, einer Lerche, einem Rotkehlchen. Ich hörte nun, die Kinder von Aleppo sollen in der Lage sein, sehr genau zu unterscheiden, um welche Art Munition es sich handelt, die nachts ihre Betten erschüttert, welche Flugzeuggattungen sich am Himmel befinden, das Kaliber detonierender Granaten zu erraten. — stop
ryūnosuke akutagawa
charlie : 5.05 — Nach der möglichen Existenz von Drohnen im New Yorker Luftraum gefragt, soll der Bürgermeister der Stadt geantwortet haben, dass man solche Entwicklungen nicht aufhalten könne. „Wir werden mehr Sichtbarkeit und weniger Privatsphäre haben”. Es sei keine Frage, ob er selbst das gut oder schlecht finde. Das sei beängstigend, aber er sehe letztlich kaum einen Unterschied zwischen einer Drohne in der Luft und einer Kamera auf einem Gebäude.“ — In diesem Moment, es ist kurz nach drei Uhr, verlässt die Vorstellung eines Posaunisten, der frühmorgens an Bord der Fähre MS John F. Kennedy spielend einen neuen Morgen begrüßt, während er von einem summenden Flugobjekt in der Größe einer Mandarine umrundet wird, ihren poetischen Raum. — stop. — Minus 5 Grad Celsius. — stop. — Weit unter mir, auf einer Straßenlaterne, sitzt eine Amsel. Ich nehme an, dass sie mich sehen kann. Aber es ist noch zu kalt oder zu früh, um zu singen. Ich habe eine halbe Stunde lang in der Beobachtung des kleinen dunklen Vogelschattens mein Gedächtnis trainiert, indem ich versuchte, den Namen eines japanischen Dichters zu lernen, der seit dem 24. Juli 1927 nicht mehr am Leben ist. Er heißt Ryūnosuke Akutagawa. Jetzt ist es kurz vor vier. Nichts weiter. — stop
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charlie : 3.22 — o h r t r o m p e t e
mondstimme
charlie : 20.32 — Eine bewegende Geschichte erzählte Alexander Gerst, Astronaut der ESA, er wird im Jahr 2014 auf der Internationalen Raumstation ISS forschen und arbeiten. Sein Großvater sei ein begeisterter Funker gewesen. Er habe in einem Kellerraum, der brummte und summte, eine Funkstation betrieben, Knöpfe, Schalter, Antennen, ein faszinierender Ort. Einmal habe sein Großvater eine seiner Antennen zum Mond hin ausgerichtet und der kleine Junge habe kurz darauf in das Mikrofon gesprochen. Zweieinhalb Sekunden später seien Fragmente seiner Nachricht, reflektiert von der Mondoberfläche, zurückgekehrt. Der Astronaut erinnert sich seiner Begeisterung, als er begriff, dass Teile seiner Person gerade eben in Berührung mit dem Mond gewesen waren. — stop
muscheln
nordpol : 6.36 — Ich hatte einen lustigen Traum. In diesem Traum saß ich mit einem jungen Mann in einem Café. Ich erinnere mich, dass wir uns über Charlie Parker unterhielten, während ich beobachtete, wie sich die Ohren des jungen Mannes sanft bewegten, so als würden sie über hunderte Muskeln verfügen, Lebewesen mit je einer Seele und eigenem Willen sein. Sie entfalteten sich vor meinen Augen, schirmten aus zur Größe einer Untertasse, dann wieder kehrten ihre Muschelränder zueinander zurück, die Ohren des jungen Mannes wurden zu Knospen, sie sahen jetzt aus, als würden sie schlafen. Aber das war noch nicht alles gewesen, was ich träumte. Der junge Mann hatte nämlich seine Ohrmuscheln bald so dicht zueinander gefaltet, dass er sie in seinen Schädel einführen konnten, sie waren nun vollständig im Kopf verschwunden. Meine Ohren schlafen, sagte der junge Mann und lachte. Aber dann wurde er schnell wieder ernst, weil eine seiner Ohrmuscheln sich verklemmt hatte, während das andere Ohr bereits aus seinem Gehörgangetui hervorgekommen war. stop. Freitag. stop. Die Luft riecht Schnee. stop. Nichts weiter. — stop
hurricane
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : HURRICANE
Es wird Winter, nicht wahr, liebe Daisy, liebe Violet, es wird Winter. Habe Pullover, Mäntel, Handschuhe, Hüte, Schals auf mein Bett gebreitet, alles ist jetzt geprüft, ich bin gerüstet. Nicht viel ist zu erzählen zur Zeit, vielleicht, dass ich gestern am späten Abend die Lektüre eines Romans von Ray Loriga aufgenommen habe, der von der Erfindung Manhattans handeln soll, ein angenehm leichtfüßig erzählter Text. Während ich las, erinnerte ich mich an ein Gespräch, das ich mit einem Matrosen der Staten Island Fähren noch im Januar führte. Er berichtete, wie er mit einem der Schiffe, es war die Andrew J. Barberi gewesen, den Hudson aufwärts fuhr, um das Schiff vor dem Hurrikan Irene in Sicherheit zu bringen. Es sei eine unheimliche Reise gewesen, Notbeleuchtung an Bord, Möwen waren mit stromaufwärts gefahren, unbewegt saßen sie auf den Handläufen der Reling, hunderte Vögel, als hätten sie das Fliegen verlernt. Ein Lotse, nicht der Kapitän, führte Kommando über das Schiff. Er selbst habe sich zum ersten Mal in seinem Leben landeinwärts von der Küste fortbewegt. Ich erinnere mich gern an diesen kleinen Mann, der in Brooklyn groß geworden war. Manchmal trug er eine blinkende Kopfbedeckung, die den Strahlenringen der Freiheitsstatue nachempfunden worden war. Heute, an diesem Abend, wird er vielleicht wieder unterwegs sein, mit seinem Schiff den Hudson aufwärts, es geht nun um Sandy, und es geht um Barack Obama. Ich frage mich, liebe Daisy, liebe Violet, wen, wenn ihr noch in heimlichen Wahlregistern verzeichnet sein solltet, würdet Ihr wählen? Euer Louis, sehr herzlich, wünscht eine gute Nacht!
ps. Mr. Salter hat seine Drohung wahr gemacht. Im Hof, verpackt in mehrere Kisten, wartet das Eisenbahnabteil eines Pullmanwagens darauf ausgepackt, und in meiner Wohnung montiert zu werden. Es ist angeblich möglich, dass ich mich in das Abteil setzten und dort arbeiten könnte. Landschaften, die ich frei wählen kann, sollen an Fenstern vorüberziehen. Stimmen sind zu hören, das ist sicher, Stimmen aus Nachbarabteilen, die nicht existieren. Und die Bewegung eines wirklichen Zuges unter meinen Händen. — stop
gesendet am
28.10.2012
5.16 MEZ
2145 zeichen
MELDUNGEN / ENDE
indulin
charlie : 2.12 — Der Versuch in den vergangenen Minuten, Farben zu erinnern, die ich in der Sixtinischen Kapelle vor zwei Wochen noch beobachtet habe. Es ist merkwürdig, diese Farben, die doch von meinen persönlichen Augen aufgenommen wurden, sind in dieser Nacht nur sehr flüchtig verfügbar. Da ist zunächst ein intensives BLAU, ein Wort, wie das Wort BLAU in einer Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda, deren Existenz mir wieder in den Sinn gekommen ist: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fädigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die weiße Blume wird blau von oben bis unten. Sie sagen: – Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
winterfliegen
charlie : 6.37 — Regen fällt. So viel Regen fällt, dass die Nachtluft hell wird vom Wasser. Vielleicht war es diese Helle, die mich an die Frage nach der Existenz der Winterfliegen erinnerte. Vor einigen Tagen hatte ich mich auf die Suche nach dieser Spezies begeben. Nicht in der wirklichen, aber in der Welt der Zahlen, welche Zeichen, Bilder, Filme in Lichtgeschwindigkeit durch den Raum transportieren. Ich suchte nach Winterfliegen vornehmlich in den Magazinen digitaler Bibliotheken, aber ich habe keine Fliegensorte gefunden, die meinen Vorstellungen einer polaren Fliegengattung entsprochen haben würde, denn die Art der Winterfliegen sollte in eisiger Umgebung existieren, in Höhlen, stelle ich mir vor, die sie mit ihren Fliegenfüßen höchstpersönlich in den Schnee gegraben haben. Vielleicht sind sie von Natur aus eher kühle Wesen, oder aber sie tragen einen Pelz, ein Fell, wie das der Eisbären, weiche, weiße Mäntel von Haut und Haar, die ihre äußerst langsam schlagenden Herzen schützen. Diese Fliegen werden einhundert Jahre oder älter, sie könnten sich von feinsten Stäuben ernähren, vom Plankton der Luft, das aus windgebeugten Wäldern angeflogen kommt, Moose, Birkenpollen, Kotsand von nordischen Füchsen. Ich stelle mir vor, dass diese Fliegen so weiß sind, dass man sie nicht sehen wird, wenn sie über den Schnee spazieren. Man wird meinen, der Schnee bewege sich selbst oder es wäre der Wind, der den Schnee bewegt, aber stattdessen sind es die Fliegen, die nicht größer sind als jene Fliegen, die nachtwärts in meiner Küche im Sommer aus einem Apfel steigen. — stop