6.08 — Ich besitze eine kleine Fernsehmaschine. Sie steht auf einem Brett, unter dem sich Rollen befinden, sodass sich das empfangene Lichtbild im Raum herumfahren lässt. Gestern Abend, ich saß auf dem Sofa und schaute in das Licht dieser kleinen Fernsehmaschine, kam eine junge Frau ins Bild, das heißt, genauer, die Kameramaschinen, die das Licht für meine Fernsehmaschine einzufangen, beauftragt waren, hatten sich weit weg in China auf die Gestalt dieser jungen Frau ausgerichtet und für einen kurzen Zeitraum ihres Lebens hielten sie an ihr fest, an ihrem jungen Gesicht, das voller Trauer gewesen war. — Was habe ich gesehen, was habe ich gehört? — Da war eine junge Frau, eine sehr blasse junge Frau, die in der chinesischen Sprache sprechend davon erzählte, dass ihr Mann, Hu Jia, soeben von einem Volksgericht zu 3 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt worden war, weil er sein Menschenrecht auf freie Rede ausübend gesagt und geschrieben hatte, die Olympischen Spiele des Jahres 2008 seien für die Menschenrechte in seinem Heimatland eine Katastrophe. Die junge Frau hielt ein Kind in ihren Armen, einen Säugling. Während sie sprach, bewegten sich ihre Hände in einer seltsamen Art und Weise vor Mund und Nase, Gesten von tiefer Traurigkeit und Verzweiflung, Gesten, die ihr Gesicht vielleicht vor den Lichtmaschinen schützen sollten. Ich habe gesehen, dass ihre Hände bebten. Dann war sie wieder weg und auch ihr Kind. – Fünfzehn Uhr sieben in Lhasa, Tibet. — stop
Aus der Wörtersammlung: fest
karpfenzungen
18.15 — Ich hörte, eine U‑Bahn-Linie soll einmal vor langer Zeit Europa mit dem nordamerikanischen Kontinent verbunden haben. Sie folgte dem 55. Breitengrad unter atlantischen Gesteinen, nahe Bryant Park, Manhattan, stieg man zu. Dann fuhr man los. Man fuhr zwei Tage und drei Nächte, Zeit, viel Zeit, Geschichten zu erzählen. Wenn Nacht geworden war unter dem Meeresboden, schlief man auf Hängematten gebettet tief und fest, war wieder Tag geworden, saß man plaudernd vor den Fenstern zu den Steinen. Am letzten Abend der Reise endlich wurde getanzt bis spät in die Nacht. Schon mitteleuropäischer Zeit, servierte man über offenen Feuern gebratene Täubchen. Die waren prall gefüllt mit Karpfenzungen. Dann war’s fünf und Morgen über Budapest. Metro Vörösmarty tér stieg man aus und jeder ging seiner Wege. – Zwei Uhr fünfundzwanzig in Lhasa, Tibet. — stop
particlesmaschine
5.48 — Die Beobachtung, dass ich in der Particlesmaschine vergeblich mit der Mouse einzufangen versuchte, was ich kurz zuvor noch durch einen Code in Bewegung gesetzt hatte. Sofort ein Gefühl von Heiterkeit. Ich könnte vielleicht sagen, dass diese Beobachtung des Scheiterns an Objekten, die ich selbst geschaffen habe, grundsätzlich zu tun haben könnte mit der suchenden Bewegung schreibender Menschen. Da schwebt zum Beispiel Kentaur Billy vor Neufundland 70 Meter tief unter dem Meeresspiegel. Eine Erfindung. Eine Erfindung, die zunächst eine Entdeckung gewesen ist, die Wahrnehmung einer uralten, einer neurologisch fest geschalteten Form, die unverzüglich, blitzartig, weiter gefaltet wurde, ein Modell wenig später mit Robbenfell an der ein oder anderen Körperstelle, einem schönen Menschenkopf, der Heckflosse eines Wales und anatomisch klandestinen Verdauungsorganen eines Pferdes. Sobald dieses Wesen vor mir schwebte und sprach, war es nie wieder einzuholen, weil es in der Sekunde seiner Entdeckung, in jener ersten Sekunde seiner Existenz, sich sofort in eine jener Substanzen verwandelte, die nur unvollkommen in einen erzählenden Text zu transportieren sind, weil dieser tauchende Kentaur wie alle anderen Wesen höchst feinen Gesang aus 1 Trilliarde Ziffern erwartet. — 12.58 in Tibet. Lhasa. — stop
trompetenkäfer
~ : louis
to : Mr. eliot
subject : TROMPETENKÄFER
Lieber Eliot, bei uns ist jetzt schon Dienstag. Gestern, also am Montag noch, war ich spazieren im schönsten Garten der Stadt. Stürmische Luft, alles ging verkehrt herum, es regnete aus dem Boden, die Sonne war auch irgendwo da unten und ich konnte nicht notieren, weil mir mein Notizbuch davon geflogen war. Ich habe Dir deshalb nicht viel zu berichten, weil ich ohne mein Notizbuch nicht anfange zu denken. An den letzten Gedanken, den ich in mein Notizbuch notierte, ehe es an den Wind verloren ging, kann ich mich gerade noch erinnern. Das also sollst Du wissen, ich habe entdeckt, dass ich, sobald ich einen Trompetenkäfer zu entwerfen wünsche, über die Lunge dieses Wesens, genauer über seine Luftpumpe und ihre Position in den Zusammenhängen eines Käferkörpers nachzudenken habe, andererseits, aus vorwiegend physikalischen Gründen, über die Füße des Käfers, die derart zu konzipieren sind, dass der Käfer, sobald er einen Trompetenton zu erzeugen wünscht, in der Lage sein wird, sich zunächst fest auf dem Boden, einem Blütenblatt oder einem menschlichen Finger zu verankern, um dem Rückstoß, den wir sehr sicher erwarten dürfen, Widerstand entgegensetzen zu können. Zu weiteren Gedanken, lieber Eliot, war ich gestern nicht in der Lage. Bald wird der Sturm auch zu Euch herübergekommen sein. Diese E‑Mail ist schneller als der Wind. Dein Louis
gesendet am
11.03.2008
22.56 MEZ
1068 Zeichen
mercè rodoreda
0.02 — Eine wunderbare Geschichte habe ich entdeckt, eine Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda. Ich darf sie rasch notieren: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: — Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
strichzeichnung
8.27 — Strichzeichnung eines Mannes, der Schritt für Schritt die Küsten dieser Welt spaziert. Er schläft vor den Meeren und ernährt sich aus den Meeren. Er sammelt Dinge, die Meere an Land geworfen haben. Wenn er etwas sieht, das aus einem Meer gekommen ist, dreht und wendet er es mit der einen Hand in der anderen Hand. Dann beschreibt er seinen Fund, notiert Uhrzeit und Position, isst ihn auf oder legt ihn zurück auf den Boden. Der Mann, an den ich denke, schläft in einem Zelt, wenn es kalt ist oder wenn es regnet. Er trägt gute, feste Schuhe, ist ausgerüstet, wie Menschen ausgerüstet sind, die in den Bergen schwierige Wände durchklettern. Sobald er sich bewegt, kann man ein Klimpern hören. Manchmal passiert der Mann eine große Stadt. Dann beschleunigt er seine Schritte. Der Mann weiß aus Erfahrung, dass er immer wieder zurückkommen wird an den Ausgangsort seiner Küstenreise. Heute, in den frühen Morgenstunden, habe ich diesem Mann einen Namen gegeben und ein Alter und eine Statur, eine präzise Angabe, in welcher Höhe über dem Boden sich seine Augen befinden, wenn der Mann aufrecht steht. — stop
coco chanel
1.18 — Einmal, in den Monaten der Vogelgrippe, kam mir bei kleineren Turbulenzen im Gang eines Flugzeuges eine uralte Lady entgegen, deren Gesichtszüge mich sofort an Coco Chanel erinnerten. Sie war von zierlicher Gestalt, trug einen dunklen Mantel, sportliche Schuhe und machte Schritte wie ein Matrose auf hoher See. Vor allem ihr schlohweißes Haar und ihr äußerst willensstarker Blick sind nah geblieben, auch ihr hellrot geschminkter Mund, der mindestens achtzig Jahre alt gewesen sein musste und doch beinahe wirkte wie der Mund einer jungen Frau. Eines Abends, während ich einer Nachrichtensendung folgte, erinnerte ich mich an diese seltsame Frau, und ich stellte mir vor, wie sie aus der dritten Etage eines Mietshauses in den Keller steigt, um ein Rollwägelchen zu suchen, das sie dort — für immer — abgestellt hatte, nachdem sie beim Einkaufen um ein Haar gestürzt war. Es ist also früher Morgen, es ist Winter und noch dunkel, als die alte Dame das Haus verlässt. Ich sehe sie mit vorsichtigen Schritten in ihrem dunklen Mantel und Winterstiefeln über die Straße gehen. An der ersten Ampel biegt sie nach links ab, überquert einen Platz, folgt einer weiteren schmalen Straße, jetzt ist sie vor einem Supermarkt angekommen. Sie stellt ihr Rollwägelchen in der Nähe der Kasse ab, geht in die Getränkeabteilung und nimmt eine Flasche Wasser aus dem Regal. Sie trägt die Flasche zu ihrem Wägelchen, kehrt zurück, nimmt sich die nächste Wasserflasche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägelchen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heimweg über die Straße gezogen wird. — Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hauses angekommen. — Jetzt stellt sie das Wägelchen neben die Treppe, die zur Haustüre führt. — Jetzt ist sie mit einer der Flaschen im Haus verschwunden. — Zehn Minuten vergehen. Dann erscheint sie wieder auf der Straße. Sie hat ihren Mantel ausgezogen, trägt eine graue Jacke und Sportschuhe. Kurz, für zwei oder drei Sekunden, hält sie sich am Geländer der Treppe fest. — stop
ludwig wittgenstein
5.27 — Bemerke immer wieder, dass ich nicht spüren kann, wo genau im Kopf ich denke. Da sind durch Worte gehemmte [ Ludwig Wittgenstein ] Gedanken, präzise vernehmbare Geräusche, die in blauen, in roten, in gelben Farbtönen erscheinen. – Einmal CNN. | stop | Nachtfernsehen. | stop | New Orleans. | stop | Alte Menschen, die aus Fenstern, von Balkonen ihrer Wohnungen her in Boote steigen. | stop | Junge Männer in Uniformen der Nationalgarde, die ihnen die Hände reichen. | stop | Gesten, als wären sie Gondoliere. | stop | Das Gesicht eines Mannes, — erschöpft, leer, ausgezehrt, geschlossen. | stop | Ja, ein geschlossenes, lichtloses Gesicht. | stop | Nichts mehr darf hinein. | stop | Nichts kann heraus. | stop | Vielleicht die Ahnung, dass er nicht wieder zurückkehren wird? | stop | Vielleicht reicht mein Blick, mein Kamerablick, nicht ausreichend tief in die Wohnung? | stop | Ich könnte ein Ohr fest auf den Boden legen und dem Meer lauschen, wie es in der Wohnung unter meiner Wohnung mit den Möbeln spielt. | stop | In Schiffen, in Städten, auf Bäumen wohnen arme Menschen tief oder an steilen Erdsegelhängen. | stop |
malcolm lowry
3.18 — Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinausgetragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notizgerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, Dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — stop
hemingway
7.05 — Unter einem Ahornbaum eine Hütte. Räume, so niedrig, dass ich mich, als ich eintreten will, bücken muss. Ein Tisch, auf dem ein Glas Milch steht, das dampft. Eine Katze schläft auf dem Tisch neben einer Gruppe scharf angespitzter Bleistifte von gelbem Holz. Ernest Hemingway, kaum höher als 150 cm, betritt den Raum. Er setzt sich an den Tisch und beginnt mit einem der Bleistifte in die Luft zu schreiben: Das merkwürdige Leuchten, das die Sonne jetzt, da sie höher steht, im Wasser hervorruft, und auch die Formen der Wolken über dem Festland bedeuten gutes Wetter. Aber der Vogel ist jetzt nahezu außer Sicht und nichts zeigt sich auf der Oberfläche des Wassers außer einige Stellen von gelbem, sonnengebleichtem Saragossatang und der violett schillernden, gallertartige Blase einer Portugiesischen Galeere, die dicht neben dem Boot treibt. Sie legt sich auf die Seite und richtet sich auf. Sie treibt munter, wie eine Luftblase dahin, mit ihren gefährlichen Nesselfäden, die beinahe einen Meter weit hinter ihr durchs Wasser ziehen. — Leichter Regen. — stop