nordpol : 5.15 — Seit zwei Stunden sitzt ein Eichhörnchen auf meinem Fensterbrett. Es ist mitten in der Nacht und so kalt, dass ich den Atem des kleinen Tieres, das um diese Uhrzeit eigentlich tief schlafen sollte, in der Dunkelheit zu erkennen vermag. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht vielleicht täusche. Es ist denkbar, dass ich mir das Eichhörnchen nur vorstelle. Und wie ich über die Möglichkeit der Täuschung nachdenke, bemerke ich, dass die Vorstellung eines Eichhörnchens mittels weit geöffneter Augen tatsächlich gelingen kann, und zwar je für ein oder zwei Sekunden in einem Bild, das pulsiert, das in der dritten Sekunde schon wieder verloren ist und zunächst dann wieder erscheint, wenn ich das Wort Eichhörnchen denke oder Eichhörnchenschweif. Ich muss das weiter beobachten. Wenn ich nun die Notizen Michaels aus dem Präpariersaal, die vor mir auf dem Tisch liegen, betrachte, weiß ich, dass sie keine Täuschung sind, weil ich das Papier, auf dem sie sich befinden, berühren, vom Tisch heben, falten und wieder entfalten kann, und damit gleichwohl Michaels Zeichen, die keinerlei pulsierender Bewegung unterworfen sind. Er schreibt: Ich beobachte, dass ich meinen lebendigen Körper mit dem toten Gewebe vor mir auf dem Tisch vergleiche. Ich lege Nerven, Muskeln und Gefäße einer Hand frei, bestaune die Feinheit der Gestaltung, überlege, wie exakt das Zusammenspiel dieser anatomischen Strukturen doch funktionieren muss, damit ein Mensch Klavier spielen, greifen, einen anderen Menschen streicheln kann, wie umfassend die Innervation der Haut, um Wärme, Kälte, verschiedene Oberflächen erfühlen, ertasten zu können. Immer wieder pendelt mein Blick zwischen meiner lebendigen und der toten Hand hin und her. Ich bewege meine Finger, einmal schnell, dann wieder langsam, ich schreibe, ich notiere, was ich zu lernen habe, bis zur nächsten Prüfung am Tisch, und beobachte mich in diesen Momenten des Schreibens. Abends treffen wir uns in der Bibliothek hier gleich um die Ecke und lernen gemeinsam. Vor allem vor den Testaten werden die Nächte lang. Ich kann zum Glück gut schlafen. Unsere Assistentin ist eine junge Ärztin, die noch nicht vergessen hat, wie es für sie selbst gewesen war, im Saal. Sie ist immer sehr warm und freundlich zu uns. Aber natürlich achtet sie streng auf die Einhaltung der Regeln, kein Handy, kein Kaugummi im Mund, angemessene Kleidung. Manchmal versammelt sie uns und wir proben am Tisch stehend das nahende Testat, es gibt eigentlich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt werden, das erhöht natürlich unsere Aufmerksamkeit und Konzentration enorm. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mich sehr berührte. Sie sagte, ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie eine Ärztin geworden ist. Sie habe ihr eingeschärft: Was Du gelernt hast, kann Dir niemand mehr nehmen. Aber natürlich, als wir die feinen Blutgefäße betrachteten, die unser Gehirn mit Sauerstoff versorgen, wurde mir bewusst, dass wir doch auch zerbrechlich sind, dass unser Leben sehr plötzlich zu Ende gehen kann. Gegenwärtig will ich daran aber nicht denken. Ich bin froh hier sein zu dürfen, ich habe lange darauf gewartet. Manchmal gehe ich durch den Saal spazieren. Wenn ich Lungenflügel betrachte, oder Herzen, oder Kehlköpfe, Lage und Verlauf einzelner Strukturen, dann erkenne ich, dass im Allgemeinen alles das, was in dem einen Körper anzutreffen ist, auch in dem anderen entdeckt werden wird, kein Körper jedoch ist genau wie der andere, damit werde ich in Zukunft zu jeder Zeit rechnen. — stop
Aus der Wörtersammlung: fühlen
schnee
~ : malcolm
to : louis
subject : SCHNEE
date : dec 2 12 0.15 p.m.
Über Nacht ist Schnee gefallen. Ein harter, böiger Wind fegt vom East River her durch die Straßen in den Park. Wir sind die ersten Spaziergänger heute Morgen. Es ist beinahe still in der Dämmerung. Weithin sehen wir hinter uns unsere eigene Spur auf dem Weg, den wir nordwärts gehen. Immer wieder bleiben wir stehen, um nach Frankie zu sehen. Er scheint sich wohlzufühlen, man könnte sagen, dass es sich bei diesem Eichhörnchen um einen Schneetaucher handeln könnte. Für Minuten ist nichts von ihm zu sehen, aber dann plötzlich sein Kopf, der aus dem Schnee ragt, er schüttelt sich, seine Ohren beben, ja, Frankie scheint glücklich zu sein in dieser neuen weißen Welt. Auch Möwen sind in den Central Park gekommen. Sie hocken auf Sitzbänken und Mauern, ich glaube, sie haben es auf Zwerge wie Frankie abgesehen, denkbar, dass sie den Schnee als Gewässer betrachten und jene Tiere, die sich für einen kurzen Moment an der Oberfläche zeigen, für Fische, die sie jagen müssen. Es sind große Vögel, gelbe Augen, riesige Schnäbel, die uns heute Morgen tatsächlich Sorge bereiten, sie könnten Frankie erlegen und mit ihm aufs Meer hinausfliegen, mit all seinen Sensoren, die uns dann nicht weiterhelfen werden. Wann werden Sie uns besuchen, Mr. Louis? Wir hoffen noch in diesem Winter! Einmal Frankie mit eigenen Augen betrachten, nicht wahr! Schnell ist er geworden. In der kommenden Woche wollen wir zum ersten Mal erproben, ob wir in der Lage sind, ihn mit unserer Fernsteuerung beeinflussen zu können. Wir haben vor, Frankie in Kreisen durch den Park laufen zu lassen. – Allerbeste Grüße sendet ihn Malcolm / codewort : hillarystep
empfangen am
03.12.2012
1630 zeichen
von den ohrenvögeln
marimba : 18.15 — Über Ohrenvögel notieren. Ich entdeckte sie gestern während eines Spaziergangs. Ohrenvögel kommen ohne Ausnahme paarweise vor. Haut von hellem Leder, Haut, die man als Beobachter oder als Besitzer eines Ohrenvogelpärchens weithin überblicken kann, weil sie vollkommen nackt sind, abgesehen von ihren Flügeln, dort existieren Federn, so feine Federn, dass man sie, wüsste man es nicht besser, für Pelz halten könnte, Federpelze in Gelb und Rot und Blau, kräftige Farben, die eigenartigste Muster bilden, so individuell wie die Fingerabdrücke an den Händen menschlicher Wesen. Ohrenvögel sind von eher kleiner Gestalt, sind etwa so groß wie ein Fingerhut, und verfügen über Schnabelattrappen, die den Schnäbeln der Kolibris ähnlich sind. Überhaupt wird man sich als Betrachter der Ohrenvögel oft an genau diese Gattung kleinster Luftwesen erinnert fühlen. Das sehr Besondere an ihrer Existenz ist jedoch, dass sie den Körpern jener Menschen, die sie bewohnen, eng verbunden sind. Genauer gesagt, würden sie ohne diese Verbindung überhaupt nicht existieren, eine blaue, zarte Nabelschnur, so fein wie ein Faden Zwirn schließt sie an die Ohren der Menschen an, je ein Vogel links und ein Vogel rechts des Halses. Blut fließt von da nach dort, weswegen Ohrenvögel weder trinken noch essen, also auch nicht jagen oder sammeln. Man könnte vielleicht sagen, dass sie nur zum Vergnügen leben, zur Zierde und Freude auch jener Menschen, die sie begleiten. Wenn sie nicht Stunde um Stunde unter den Ohren ihrer Besitzer schaukeln und schlafen, fliegen sie sehr gern in der näheren Umgebung herum. Weit kommen sie selbstverständlich nicht, aber weit genug immerhin, um einander begegnen zu können, der eine Vogel zu Besuch auf der Halsseite des anderen, man sitzt dann gemeinsam auf einer Schulter und schaut auf die große Welt hinaus. Oder man trifft sich heimlich hoch oben auf dem Kopf des bewohnten Menschen, eine vertraute Welt, zur gegenseitigen Pflege und zum Gespräch. Ihre Stimmen sind so hell, dass menschliche Ohren nicht in der Lage sind, sie zu vernehmen. Nichts weiter. – stop
buenos aires
olimambo : 6.42 — Ich stelle mir eine Maschine vor, die fliegen kann, eine kleine Maschine, nicht größer als eine Murmel in Kinderhand. Zarteste Rädchen und Schrauben und Gewinde sind in ihrem Innern zu finden, Batterien von der Größe eines Bergschneckenherzens weiterhin, sowie eine äußerst filigrane Funkantenne, ein Linsenauge und Mikrofone oder Ohren, die in der Nähe des Auges derart montiert worden sind, dass sie in der Lage sein könnten, eben genau jene Geräusche aufzuzeichnen, die sich vor dem Auge des Flugwesens einmal abspielen werden. Vielleicht darf ich verraten, dass es vornehme Aufgabe der Maschine sein wird, zu schauen und eben zu fliegen. Man fliegt mittels Propellern, die sich so schnell bewegen, dass kein menschliches Auge sie wahrnehmen kann. Ein helles Summen oder Pfeifen ist in der Luft, und ich dachte, man könnte sich vielleicht an Moskitofliegen erinnert fühlen, sobald sich eine der kleinen Maschinen näherte, obgleich sie niemals stechen, nur Lichtproben nehmen. Darüber hinaus gehend stellte ich mir Läden vor, die sich wie Stützpunkte für Flugmaschinen benehmen, Magazine, die überall in unserer Welt existieren werden. Für drei oder vier Dollar die Stunde könnte ich mir von meinem Computer aus ein fliegendes Auge leihen, um an einem schönen Sommerabend, im November zum Beispiel, in Buenos Aires durch die Luft zu spazieren. – stop
roosevelt island : lawrence
ulysses : 1.58 — Wolkenloser Himmel. ‑8° Celsius. Ich trage heute zum ersten Mal Lawrence spazieren unter Mantel, Pullover, Hemd unmittelbar auf meiner Haut, ein Schlangenwesen mit einem kleinen Kopf, der in der Nähe meines Halses zu liegen gekommen ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal hervor, man muss sich das einmal vorstellen, Lawrence’s sandfarbenen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrockneten Speckstreifen füttere, während ich durch die knisternde Winterluft stelze. Ich kann Lawrence hören, er ist ein leiser, ein gemächlicher Fresser. Und die Wärme fühlen, wundervoll, die sein feinhäutiger Körper erzeugt, der mich fest umwickelt, meine Brust, meinen Bauch, meine Arme, meine Beine. Speck für sechs Stunden Wanderzeit habe ich in meine Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vormittags, um kurz vor vier Uhr nachmittags sollte ich zurückgekommen sein, dann sehen wir weiter. Sonntag ist geworden. Und so gehen wir an diesem Sonntag also spazieren, Lawrence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Avenue nordwärts und ein wenig durch den Central Park. Tausende heller Wölkchen steigen dort aus den Mündern tausender New Yorker Menschen. Höhe 67. Straße drehen wir wieder um, laufen zurück, folgen der 59. Straße westwärts, bis wir den East River erreichen, Roosevelt Island Tramstation. In der Seilbahn übergesetzt, einmal hin und sofort wieder zurück, Pingpong. In einem Baum, 61. Straße, lungerten Hunderte schlafender Tauben, als wären sie Blüten. — stop
new york — hurricane deck
tango : 22.28 — Von einer Sekunde zur anderen Sekunde. Als wär der Sonntag ohne Augenlicht gewesen. Als hätte ich nur geträumt, über den Atlantik geflogen zu sein, fünftausend Kilometer schlohweißer Wolkendecke bis kurz vor Neufundland. Jamaika-Station. Roosevelt Island. Lexington Avenue. Das helle Zimmer im 22. Stock. Ein kühler Wind bläst über den Balkon. Rauschen von tief unten von der Straße her. Wie ich bald vor das Haus trete, kommt mir eine ältere Frau entgegen, in einen feinen Mantelstoff gehüllt, Hände seitlich gegen den Hals gefaltet. Eigentlich müsste ich ihr unverzüglich folgen, sehen, warum sie das macht, einer Geschichte folgen, und diesem dampfenden, rot und grün und blau blinkenden Diodenhund, der sie begleitet, einem Riesentier, das ich berühren sollte, seine Temperatur zu fühlen. Ich verstehe an diesem Abend kein Wort in meinem Kopf. Ja, dieses Rauschen der Stadt. Südwärts wandern. Aus dem Boden sind die Stimmen der Subwaysprecher zu hören, next station : grand central, das Rumpeln, das Zischen der Züge. Ich könnte ein paar Stunden noch so weitergehen und schlafen. — stop
herzgeschichte
hibiskus : 0.05 — Zu einer Zeit, als meine Mutter noch für mich atmete, bewegte sich zum ersten Mal mein Herz. Bald wurde ich geboren und lernte zu schweigen, zu sitzen, zu stehen und meine Schuhe zu binden, mit Kreide auf eine Tafel zu schreiben und zu lesen, und während ich diese feinen Dinge lernte, schlug immerfort mein Herz. Auch am Tag, als ich sieben Jahre alt wurde, schlug mein Herz so unbemerkt, wie an allen anderen Tagen zuvor, und ich freute mich, weil ich an diesem Tag ein Schachspiel überreicht bekam. Der kleine Junge, der mir dieses Schachspiel schenkte, war nicht zu meinem Fest für Freunde gekommen, stattdessen kam seine Mutter. Sie war blass, nein durchsichtig, sie erzählte, ihr Sohn könne nicht kommen, weil sein Herz sehr schwach geworden sei. Kurze Zeit später starb der Junge, der beinahe mein Freund geworden wäre, an dieser Nachricht. An jenem Abend, am Abend meines kleinen Festes, lebte der kleine Junge noch, und ich dachte an ihn und überlegte, was die Worte ein schwaches Herz vielleicht bedeuteten. Ich lag also auf dem Bett und hatte eine Hand auf die Brust gelegt und spürte den Bewegungen meines Herzens nach. Mit geschlossenen Augen, ich erinnere mich genau, konnte ich Erschütterungen fühlen, eine seltsame Erfahrung. Sehr lange lag ich so rücklings auf dem Bett und dachte, dass mein Herz ein starkes Herz zu sein schien, aber als ich meine Hand zur Seite legte, war mir für einen kurzen Moment, als ob mein Herz stehen geblieben war, weil ich seine Bewegungen nicht länger spüren konnte. Als ich erwachte, wunderte ich mich, dass ich noch immer lebte, obwohl ich mein Herz vergessen hatte während der Nacht. Und jetzt, da ich diese kleine Geschichte notiere, denke ich, dass ich damals vielleicht, an jenem Abend genau, damit begonnen habe, mich zu wundern. Auch heute noch, um viele Jahre älter, wundere ich mich über mein Herz, oder ich wundere mich über Straßenbahnen, dass sie existieren. Ja, sehr gerne wundere ich mich über Straßenbahnen.
moskitoeintagsfliegen no.2
sierra : 5.24 — Bald einmal, ich wiederhole mich, menschliche Wesen von 20000 Jahren Lebenserwartung gestalten, Hüter der Plutoniumwerke, memorierende Beobachter, flüsternde Sprecher durch Räume der Zeit, die bisher nicht vorstellbar sind, weil wir sie weder fühlen noch träumen, weil unsere Herzen durch die Atomzeit rasend schlagen wie die Herzen der Moskitoeintagsfliegen. — stop
tapetum cellulosum lucidum /// IED EXPLOSION IN BAGHDAD (ZONE X) 2004-01-14 18:40:00 ///
sierra : 22.01 — Knisternde Kälte. Dompfaffen, Rotkehlchen, Grünfinken hängen, zwitschernde Trauben, an Futterbällen im Garten über Schnee. Ich hatte, in dem ich sie beobachtete, die Idee, dass mir selbst bald einmal reflektierende Zellschichten in den Augenhöhlen wachsen könnten, tapetum cellulosum lucidum, hinter den Glaskörpern hinter den Pupillen, Katzenaugenhäute, nicht von der Beobachtung der Natur da draußen im Garten, sondern vom Lesen der Wikileaks – Irak — Protokolle : IED EXPLOSION IN BAGHDAD (ZONE X) 2004-01-14 18:40:00 — IP X REPORTED THAT A GREY X EXPLODED IN A RESIDENTIAL AREA. IPS AND X ELEMENTS WENT TO THE SITE AND FOUND THE EXPLODED CAR. X BROTHERS AND THEIR X CLAIMED THAT SOMEONE ELSE MUST HAVE PUT THE EXPLOSIVES IN THEIR CAR. IZ EOD BELIEVES AN IED WENT OFF PREMATURELY. — UPDATE: DETAINED THE X BROTHERS AND HAVE COORDINATED TO HAVE THE BOMB DOGS GO TO THE HOUSE LATER TODAY. IED TRACKING NUMBER IS X. stop. stop. 390136 Dokumente. stop. Nehmen wir einmal an, ich versuchte Tag für Tag 100 dieser Texte zu lesen und nachzufühlen, was sie bedeuten könnten, Particles, die von Bombenanschlägen, Scharfschützen, Enthauptungen, Feuergefechten, Entführungen berichten, dann würde ich längere als zehn Jahre Zeit in dieser Arbeit verbringen. Inwiefern würde sich bald die Gestalt meines Gehirnes verändert haben, meine Sprache, welcherart wären die Geschichten, die ich noch erzählte? — stop
moskitoeintagsfliegen
ulysses : 5.24 — Bald einmal menschliche Wesen von 20000 Jahren Lebenserwartung gestalten, Hüter der Plutoniumwerke, memorierende Beobachter, flüsternde Sprecher durch Räume der Zeit, die bisher nicht vorstellbar sind, weil wir sie weder fühlen noch träumen, weil unsere Herzen durch die Atomzeit rasend schlagen wie die Herzen der Moskitoeintagsfliegen. — stop