ulysses : 20.32 UTC — Jenes einsame Nadelblattgewächs in der Form der Pinienbäume unweit der Ponte agli Incurabili könnte Joseph Brodsky bei Regen noch beschirmen. Von dort soll der Dichter gern über den Kanal nach Giudecca geschaut haben. Ich erwartete eine Bank von Stein oder von Holz, vergeblich. Vielleicht wird Joseph Brodsky sich zur Beobachtung des Wassers einen kleinen Klappstuhl mitgenommen haben oder liess die Beine von der Quaimauer baumeln, sie werden vermutlich bald nass geworden sein. Wenn ich nur lange genug nach Westen schaue zu den Hafenanlagen hin, kann ich Joseph Brodsky sitzen sehen, wie er sich mit den Wellen des Meeres unterhält, ihre Bewegung erforscht. Wie sich in diesem Augenblick, es ist kurz nach 8 Uhr, ein braunrosafarbener feuchter Elefantenrüssel aus dem Wasser erhebt, wie er bebend die Luft sondiert, wie er sich dem Dichter nähert, als wäre er noch immer dort, Fondamenta degli Incurabili. – stop
Aus der Wörtersammlung: genu
papiere
delta : 22.58 UTC — In diesem Moment, da die Temperatur der Luft 38°C erreichte, darf ich einen Text zitieren, den ich vor Jahren bereits notierte. Er handelt von Eispapieren und von einem besonderen Kühlschrank, den ich damals in Empfang genommen hatte, von einem Behälter enormer Größe. ich schrieb, ich wiederhole, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollt ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop
vor dem radio
himalaya : 18.55 UTC – Ich stelle mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen einerseits und an welchen ich drehen kann andererseits. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich kann das Radio öffnen. Als ich es öffne, entdecke ich weitere sehr kleine Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik spielt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — stop
im central park
nordpol : 20.05 UTC — Ich war spazieren an einem windigen Tag. Wie ich unterm Regenschirm westwärts ging, beobachtete ich meine Schuhe, die sich vorwärts bewegten als gehörten sie nicht zu mir. In diesem Moment hatte ich den Eindruck, durch den Central Park zu gehen. Das war nämlich so, dass ich an dem ersten Tag, den ich in der Stadt New York verbrachte, unter einem Regenschirm durch den Central Park wanderte und meine Schuhe beobachtete. Es war damals Mai und recht kalt gewesen. Von Zeit zu Zeit war ich stehen geblieben, um eines der Eichhörnchen zu betrachten, die sehr groß sind in Nordamerika und ungestüm. Ich erinnerte mich noch gut an diesen Augenblick, da ich im Central Park spazierend wiederum eine Panthergeschichte erinnerte, die ich einmal notiert hatte über einen weiteren Park, in dessen Nachbarschaft ich lebe. In der Erinnerung an meinen Spaziergang in New York kehrte die Panthergeschichte zurück, ich drehte um und ging nach Hause, um nach der Geschichte zu suchen. Ich habe sie sofort gefunden. Panthergeschichte: Da ist mir doch tatsächlich ein junger Panther zugelaufen, ein zierliches Wesen, das mühelos vom Boden her auf meine Schulter springen kann, ohne dabei auch nur den geringsten Anlauf nehmen zu müssen. Seine Zunge ist rau, seine Zähne kühl, ich bin stark, auch im Gesicht, gezeichnet von seinen wilden Gefühlen. Der Panther schläft, unterdessen ich arbeite. So glücklich sieht er dort aus auf der Decke unter der Lampe liegend, dass ich selbst ein wenig schläfrig werde, auch wenn ich nur an ihn denke, an das Licht seiner Augen, das gelb ist, wie er zu mir herüber schaut bis in den Kopf. Spätabends, wenn es lange schon dunkel geworden ist, gehn wir spazieren. Ich lege mein Ohr an die Tür und lausche, das ist das Zeichen. Gleich neben mir hat er sich aufgerichtet, schärft an der Wand seine Krallen, dann fegt er hinaus über die Straße, um einen vom Nachtlicht schon müden Vögel zu verspeisen. Daran sind wir gewöhnt, an das leise Krachen der Gebeine, an schaukelnde Federn in der Luft. Dann weiter die heimliche Route unter der Sternwarte hindurch in den Palmengarten. Es ist ein großes Glück, ihm beim Jagen zuhören zu dürfen. Ich sitze, die Beine übereinander geschlagen, auf einer Bank am See, schaue gegen die Sterne, und vernehme Geräusche der Wanderung des kleinen Jägers entlang der Uferstrecke. Ein Rascheln. Ein Krächzen. Ein Schlag ins Wasser. Wenn der Panther genug hat, gehn wir nach Hause. — stop
zylinder
india : 12.01 UTC — Vor einigen Wochen besuchte ich B., der noch immer in einer sehr kleinen Wohnung über einem Jazzcafé wohnt, weswegen sein hölzerner Fussboden manchmal bebt, so dass auch seine Gäste beben und der Kaffee in den Tassen, und im Sommer fliegen die kleinen Sommerfliegen los, weil das Beben dermaßen schrecklich für ihre Beinchen ist, dass sie lieber stundenlang herumfliegen als wären sie Vögel ohne Füße. B. wohnt also in dieser kleinen Wohnung und ist noch immer traurig. Ich kenne ihn seit 15 Jahren, niemals habe ich ihn glücklich wahrgenommen, nicht eine Sekunde lang, oder in einem Zustand, den man als weder glücklich noch unglücklich bezeichnen könnte. B. ist unglücklich, weil er das so will, er hat sich in seiner Traurigkeit eingerichtet, wie in einem unsichtbaren Zelt, in dem er lebt, das er mit sich auf jede Reise nimmt, er reist ja nicht viel, aber er ist ein guter Gastgeber, sehr feinfühlig, ein geduldiger Zuhörer, der niemals lacht. Er schreibt im Übrigen an einem Buch, das rund ist, ich meine, er schreibt an einem Winterbuch von der Gestalt eines Zylinders. Man kann in dem Buch blättern, aber man weiss nicht, wo das Buch anfängt, weil in B.s Buch kein Anfang existiert, man liest, und wenn man lange genug liest, wird man plötzlich meinen, sich zu erinnern, oder man hat eine Markierung in das Buch notiert, was eigentlich nicht gestattet ist. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. — stop
von makis
echo : 3.08 UTC — Gestern Abend habe ich versucht, meine Gedanken zu beobachten. Eigentlich wollte ich eine Liste meiner abendlichen Gedanken verfertigen, Gedanken in der Straßenbahn, Gedanken vor einer Supermarktkasse wartend, Gedanken in der Beobachtung eines Fernsehbildschirmes. Ich war sehr müde gewesen, hatte lang gearbeitet, war, sagen wir, langsam mit dem Kopf, deshalb nicht ausreichend schnell, um sagen zu können, das war nun ein Gedanke, der gerade eben abgeschlossen wurde, nun beginnt gerade eine weiterer Gedanke, dieser Gedanke No 18 ( Herzlich Willkommen! ) beschäftigt sich mit der zentralen Frage wovon Koboldmakis sich eigentlich ernähren? Ich habe bemerkt, dass es möglich zu sein scheint, einen Gedanken festzuhalten, um den Gedanken zu vergrößern, ihn also schwerer ( Gravitation ) zu machen, sagen wir, den Gedanken mit Zeiträumen rückwärts ( erinnernd ) oder vorwärts ( spekulierend ) zu versehen. Je länger ich an einem Gedankenknoten festhalte, desto schläfriger werde ich. Ein Gedanke kann sich in ein Bild verwandeln. Wenn ich in Gedanken die Augen eines Koboldmakis zur Aufführung bringe, schlafe ich ein. — stop
oft habe man tage lang gewartet
nordpol : 2.58 — Von ihrer Zeit, die sie als Flüchtlingskind auf dem Land verbrachte, erzählt Mutter immer wieder gern. Sie hatten genug zu essen, weil sie und ihre Schwestern bei einer Bauernfamilie wohnten. Wenn der Vater am Wochenende zu Besuch kam, ahnte sie nichts von Tieffliegerangriffen auf Züge, mit welchen der Vater reiste, aber an seine staubigen Anzüge, weil er sich auf den Boden werfen musste. Die brennende Stadt München, obwohl in großer Entfernung liegend, war im Schein der Feuer damals am Horizont zu erahnen gewesen, wie Abendrot inmitten der Nächte. Dann das Warten auf eine Nachricht am nächsten Morgen. Oft habe man Tage lang gewartet. Sie selbst habe zweimal einen Bombenangriff auf München erlebt, das war zu Beginn des Luftkrieges. Sie habe sich nicht gefürchtet, es sei vielmehr spannend gewesen mit ihren Nachbarn und anderen Leuten so eng in einem Keller zu sitzen. Es gab Pralinen für die Kinder und einen Geschichtenerzähler. Ein Jahr später sei ihre große Schwester nach einem Angriff lange Zeit verschüttet gewesen und deshalb für Wochen verstummt. In dieser Zeit habe sie gehört, dass die Schollwöcks abgeholt worden seien, sie könne nicht sagen, weshalb sie als Kind schon wusste, dass das Abholen etwas Schreckliches gewesen sein musste für die, die abgeholt wurden. Sie habe beobachtet, dass die Abgeholten niemals wiedergekommen seien, und dass von ihnen bald nicht mehr gesprochen wurde. Das alles habe sie als Kind schon so bemerkt, weil Kinder sehr viel mehr bemerkt haben, als die Erwachsenen vielleicht glaubten. Dass die Eltern in der Wohnung vor dem Krieg das Hitlerbild immer umgedreht haben, davon durfte sie nicht erzählen, in der Schule nicht und auch anderswo nicht. Einmal sei sie vom Land her wieder in die zerstörte Stadt zurückgekommen, es war ein nebliger Tag gewesen, sie habe zunächst gedacht, es sei der Nebel, aber das Haus, in dem sie und ihre Schwestern aufgewachsen waren, existierte nicht mehr. Damals würden sie Bisamratten gegessen haben, die schmeckten sehr gut, und der Vater sei gelb geworden im Gesicht, weil seine letzte Niere langsam versagte. In dieser Zeit habe der Vater ihr viel von der Welt erzählt, wie sie funktioniert, er sei verstört gewesen, dann sei er gestorben. — stop
aleppo
himalaya : 0.02 — Vielleicht darf ich folgenden Bericht in voller Länge wiedergeben. Der junge Journalist Zouhir al Shimle berichtet via E‑Mail für Die Zeit: Seit Aleppo belagert ist, fliegen Assads Truppen und seine Verbündeten jeden Tag Luftschläge auf die Viertel der Rebellen, also auch dort, wo ich lebe. Ununterbrochen dröhnen Kampfjets über uns hinweg, Helikopter kreisen über den Häusern. Jeden Tag sterben hier fast fünfzig Zivilisten. Wir leben in einem nie endenden Getöse von Schießereien, Explosionen, Geschrei. Die meisten von uns trauen sich nicht mehr, nach draußen zu gehen. Manchmal hetzen ein paar Leute die Straßen entlang, um Lebensmittel zu besorgen – und rennen sofort nach dem Einkauf zurück in ihre Wohnungen. Dabei ist es zu Hause nicht sicherer als auf der Straße. Denn die Bomben treffen auch unsere Häuser. Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich das Donnern der Kampfflugzeuge, von irgendwo her dringt Gefechtslärm. Gott sei Dank habe ich bisher alle Angriffe überlebt. Aber vor ein paar Tagen war ich dem Tod so nah wie nie zuvor. Ich war im Viertel Al-Mashhad unterwegs, dort, wo mein Büro ist. Ich stand gerade im Laden in unserer Straße, um mir etwas zu trinken zu kaufen, als die erste Fassbombe einschlug, gerade mal fünf Häuser von uns entfernt. Ich duckte mich für einige Sekunden vor den umherfliegenden Metallteilen. Dann rannte ich raus auf die Straße. Nur wenige Sekunden später schlug in der Straße die zweite Faßbombe ein. Ein Metallsplitter bohrte sich in meinen Rücken, ein anderer in mein Bein. Ich rannte von der Straße wieder zurück zum Laden. Und war vor Schock wie gelähmt: Sieben Menschen, die dort Schutz vor der zweiten Bombe gesucht hatten, waren tot, zerquetscht vom Schutt der eingestürzten Decke. Sie starben nur, weil sie sich in den Sekunden der Explosion anders entschieden hatten: Sie hielten sich zwischen den Regalen versteckt, während ich auf die Straße lief. Nur deswegen habe ich als Einziger von uns überlebt. Die Helfer hatten große Mühe, die verdrehten und durchtrennten Körper aus dem Geröll zu ziehen. Angehörige der Toten lagen am Boden und schrien, Kinder weinten. Aus einigen Körpern quollen Innereien, überall lagen abgetrennte Hände und Beine. Insgesamt starben durch diese Angriffe 15 Menschen, 25 – mit mir – wurden verletzt. Ich kann diese Bilder nicht vergessen. Ich hätte einer dieser Körper sein können. Ich wurde schnell in ein Krankenhaus gebracht, doch helfen konnte mir dort niemand. Zu viele Menschen brauchten Hilfe, unaufhörlich brachten Männer neue Tragen mit Schwerverletzten hinein. Während ich auf den Arzt wartete, sah ich so viel Blut, dass ich zu halluzinieren begann. Ein Freund brachte mich deshalb in ein anderes Krankenhaus, wo sich Schwestern um mich kümmerten. Sie entfernten einen Metallsplitter, der andere steckt noch in meinem Bein. Sie sagen, er könne erst in einiger Zeit entfernt werden. Doch es sind nicht nur die Bomben und Gefechte, die unser Überleben immer schwerer machen. Das Regime hat nun auch die Castello-Straße eingenommen. Sie ist eine Todeszone geworden: Ständig wird geschossen, brennende Autos liegen am Straßenrand. Das Regime kämpft dort mit aller Macht – und schneidet uns damit von der Außenwelt ab. Die Castello-Straße war bislang die einzige Verbindung von Aleppo nach draußen, in die Vororte und in die Türkei. Es war die Lebensader der Stadt, von dort haben wir Lebensmittel, Gas, Brennstoff, Trinkwasser und Medizin bekommen. Die Belagerung ist für uns dramatisch. Denn jetzt gibt es kaum noch Obst und Gemüse zu kaufen, überhaupt sind die Märkte fast leer. Auch haben wir immer weniger Brennstoff, wir verbrauchen gerade die letzten Reserven der Stadt. Bald schon werden wir in kompletter Dunkelheit leben. Das ist es, was das Regime und seine Milizen wollen: dass Aleppo langsam stirbt. Sie setzen dabei allein auf die Zeit. Wir, die noch rund 300.000 Verbliebenen, werden nicht mehr lange versorgt werden können. Ich fürchte, dass unser Untergang schließlich dadurch kommt, dass wir alle um Wasser und Brot kämpfen. Und dass die, die nicht mehr stark genug sind, darum zu kämpfen, einfach verhungern werden. Fakt ist: Wir sitzen fest. Wir haben keine Chance mehr, aus Ost-Aleppo herauszukommen. Ich habe immer mit drei Freunden in einer WG zusammen gewohnt. Jetzt ist nur noch einer von ihnen hier. Malek hat geheiratet und lebt nun mit seiner Frau zusammen, sie erwarten ein Baby. Der andere, Jawad, konnte in die Türkei entkommen. Sein Vater wurde bei einem Angriff schwer verletzt und Jawad konnte mit ihm vor ein paar Wochen in die Türkei fahren, damit er dort medizinische Hilfe bekommt. Jawad versucht, wieder zu studieren. Er wird nicht mehr nach Aleppo zurückkommen. So zynisch es klingt: Er hat Glück gehabt. Denn nur sehr kranke Menschen dürfen mit einer Begleitung den Grenzübergang Bab al-Salameh in die Türkei passieren. Die Türkei ist da sehr strikt. Für mich gilt das also nicht Selbst wenn ich Aleppo verlassen wollte: Ich kann es nicht. Die Bombardierungen in der Stadt sind zu stark, ich würde nicht mehr weit kommen. Ich weiß, dass ich hier nicht mehr wegkommen werde. Die Bomben fallen weiter, jeden Tag, jede Stunde. Sie treffen alles, was sich bewegt. Ich sitze in Aleppo fest. Aber noch bin ich am Leben. — stop
fritz stern
tango : 22.22 — Fritz Stern ist in New York gestorben. In einem Interview mit Kulturzeit erklärte er noch im Februar: Beschäftigt Euch mit der Vergangenheit, um sich an den menschlichen Schicksalen aus der Vergangenheit zu orientieren, sich zu erinnern, und das nicht einfach hinzunehmen und zu glauben, dass die Errungenschaften der Zeit zwischen 1945 und — sagen wir mal — 1970, dass man das nicht einfach als gegeben hinnehmen kann. Und zu glauben, das ist so, das bleibt so. Es bleibt nur so, wenn man es verteidigt. Dieser Appell sollte gerade an die Jugend gestellt werden. Ich weiß nicht, wie weit das im Augenblick geschieht. Ich glaube, nicht genug. — stop
ai : TSCHAD
MENSCHEN IN GEFAHR : “Mahamat Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer und Celine Narmadji werden vor Gericht gestellt, weil sie friedliche Demonstrationen gegen eine erneute Kandidatur von Präsident Idriss Déby geplant hatten. Die drei Männer und eine Frau befinden sich gegenwärtig im Amsinene-Gefängnis in N’Djamena. Ihnen drohen Haftstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Mahamat Nour Ibedou und Younous Mahadjir, zwei Sprecher von Ça suffit (Es reicht), einer Plattform für zivilgesellschaftliche Organisationen, wurden am 21. bzw. 22. März festgenommen. Nadjo Kaina Palmer, Koordinator der Jugendbewegung Iynia (Wir sind’s leid), ist ebenfalls am 22. März festgenommen worden. Celine Narmadji, die Sprecherin der zivilgesellschaftlichen Organisation Trop c’est trop (Genug ist genug), befindet sich seit dem 23. März in Haft. Alle vier Festnahmen erfolgten, nachdem die Aktivist_innen auf Anordnung des Staatsanwalts Alghassim Khamis zum Verhör in der Zentrale der Polizei erschienen waren. Mahamat Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer und Celine Narmadji wurden zunächst in der Polizeizentrale von N’Djamena festgehalten und am 24. März gegen 13 Uhr ins Gefängnis Amsinene verlegt. Die vier Aktivist_innen hatten im Rahmen ihrer Tätigkeit für ihre Organisationen friedliche Demonstrationen für den 22. und 29. März geplant. Dabei sollte gegen den Plan des jetzigen Präsidenten Idriss Déby, für eine fünfte Amtszeit zu kandidieren, protestiert werden. Mahamat Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer und Celine Narmadji stehen wegen “Anstiftung zu einer unbewaffneten Versammlung”, “Störung der öffentlichen Ordnung” und “Missachtung einer gesetzlichen Anordnung” unter Anklage. Das Gerichtsverfahren ist für den 31. März angesetzt. Sollten die Aktivist_innen für schuldig befunden werden, drohen ihnen Haftstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr.”. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 11. Mai 2016 hinaus, unter > ai : urgent action