papa : 02.08 — Ich beobachtete, dass ein kleiner Affe, sobald ich mich mit der linken Hand stoßartig von oben kommend näherte, diese linke Hand als einen Raubvogel betrachtete, vor dem er hupend und fauchend mit geblecktem Gebiss rückwärts über den Tisch gehend die Flucht ergriff, ohne sich an meiner rechten Hand zu stören, die in nächster Nähe mit seinen Sultaninen spielte. Derart gründlich habe ich mit meinen Händen auf dem Tisch das Jagen und Sammeln geübt, dass ich sie bisweilen als zwei separate Lebewesen betrachten kann. Wenn ich meine linke Hand mit meiner rechten Hand berühre, durchbreche ich einen Spiegel. Wenn ich sage, meine Hand ohne Haut, habe ich in meinem Kopf ein Bild zur Verfügung, das sich bewegen lässt. Wenn ich sage, meine schlafenden Hände, spreche ich von Händen, die ich nie gesehen habe. Gerade eben noch habe ich eine Apfelsine geschält. Während ich meine Hände beobachtete, wie sie geschickt die Kerne der Frucht voneinander trennten, ohne dass ich ihnen genauere Anweisungen geben musste, dachte ich darüber nach, wie viele Apfelsinen diese Hände in ihrem Leben bereits geschält haben könnten. — Drei Uhr zwölf in Kobani, Syria. — stop
Aus der Wörtersammlung: gerade
überall liegen Bücher herum
echo : 2.26 — Früher einmal existierten Bücher, deren Seiten miteinander verbunden waren. Bevor man die Seiten dieser Bücher lesen konnte, musste man sie voneinander trennen. Seltsamerweise hatte ich ihre Existenz vergessen, bis ich soeben solche Bücher in einem Text von Nathalie Sarraute bemerkte. Aber vielleicht ist das Wort vergessen, in diesem Zusammenhang nicht richtig gewählt, ich hatte jahrelang nicht an sie gedacht, im Geheimen waren sie vermutlich immer anwesend gewesen. Sofort begann ich damit, die Umgebung meiner Erinnerung zu erkunden. Ich entdeckte eine Tante. Wenn die Tante zu Besuch kam, küsste sie mich auf die Stirn. Es gab dann immer Lauchsuppe, weil sie einen Gemüsehändler kannte, der ihr Lauchstangen schenkte. Diese Tante also, deren Gesicht zerfurcht war von unzähligen Falten, schenkte mir einmal ein Buch genau dieser erwähnten Art, ein Buch, dessen Seiten miteinander verbunden waren, sodass ich jede Seite mit einer Schere zunächst von der nächsten trennen musste. Das Buch war kein Kinderbuch gewesen, ich hatte noch nicht sehr viel mit Büchern zu tun zu diesem Zeitpunkt, aber Nathalie Sarraute, die damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein könnte, in einem Alter, als mich die Tante mit den Lauchstangen noch besuchte. Sie notierte: Es liegen überall Bücher herum, in allen Zimmern, auf den Möbeln und sogar auf dem Boden, Bücher, die Mama und Kola gebracht haben oder die mit der Post gekommen sind … kleinere, mittlere und große … Ich nehme die Neuankömmlinge in Augenschein, ich schätze die Mühe, die jedes erfordern wird, die Zeit, die es mich kosten wird … Ich wähle eins aus und setze mich mit dem aufgeschlagenen Buch auf den Knien hin, ich umklammere das breite Papiermesser aus grau aussehendem Horn, und ich fange an … zuerst zertrennt das waagerecht gehaltene Papiermesser den oberen Falz der vier zusammenhängenden Doppelseiten, dann senkt es sich, richtet sich wieder auf und gleitet zwischen die beiden Seiten, die nur noch längsseits miteinander verbunden sind … dann kommen die „leichten“ Seiten, sie sind an ihrem langen Rand offen und brachen nur noch oben getrennt werden. Und wieder die vier „schwierigen“ Seiten … und dann vier „leichte“, und dann vier „schwierige“, und so weiter, immer schneller, meine Hand wird müde, mein Kopf wird schwer, er brummt, mir wird ein wenig schwindlig … „Hör jetzt auf, mein Liebling, das reicht, hast du wirklich nichts Interessanteres zu tun? Ich werde beim Lesen selbst aufschneiden, das stört mich nicht, ich mache das ganz automatisch …“ Es kommt jedoch nicht infrage, dass ich aufgebe. — stop / Nathalie Sarraute Kindheit — aus der französischen Sprache übersetzt von Erika und Elmar Tophoven
krim : lichtbild No 2
ulysses : 6.55 — Associated Press veröffentlichte vor einigen Monaten eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend, vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen, ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, es sind vier Personen, vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, außerdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder. Sie tragen keine Hoheitszeichen, aber sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. Jeder Blick hinter eine Maske hervor ist ein seltsamer Blick. Einer anderer der Männer hält seinen Geldbeutel geöffnet. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, das Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, Luhansk, Mariupol. — stop / koffertest : updated — ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.
zehn sekunden parrini
sierra : 0.28 — Vor wenigen Tagen, am Donnerstag, erreichte mich eine E‑Mail von Herrn Parrini. Ich kenne ihn nicht persönlich, er soll gerade 50 Jahre alt geworden sein. Er habe meine Geschichte Shanghai gelesen, die ich vor zwei Wochen sendete, sie habe ihm gut gefallen, sie habe ihn berührt, persönlich, obwohl er kaum zum Lesen komme, weil er einer sei, der von morgens bis abends gerne erzählen würde, er habe das so gelernt, er wiederhole sich oft, erzähle nur damit es nicht still wird, das war schon immer so, er spreche sogar zu sich selbst stundenlang, auch im Schlaf gebe er keine Ruhe, er wollte gerne ein schweigender Mensch sein, das Schweigen lernen, aber er wüsste nicht wie das jemals möglich sein könnte, nachdem er nun seit bald 45 Jahren unaufhörlich gesprochen habe, ganze Abende habe er seine Freunde unterhalten, bis sie flüchteten, und in der Schule, musste er in der Ecke sitzen, weil er den Mund nicht halten mochte, dort habe er selbstverständlich weitergesprochen, mit der Wand oder mit dem Echo seiner eigenen Stimme bis er vor die Tür geschickt worden sei, wo er im Flur auf und ab spazierte immer weiter sprechend, bis er heiratete, bis er wieder allein gewesen war, bis er die Berge entdeckte, da konnte ihn keiner hören, oder nur selten, oder nur Kühe, weswegen er sehr gerne in den Bergen wandere, er höre sich nicht, wenn er spreche, als ob seine Ohren sich wie die Ohren der Seehunde verschlössen, sobald sie tauchten, ja, sprechen, wie tauchen, er würde nicht bemerken, wenn er spreche, er könne entweder sprechen oder schweigen, kein einziges Wort, sonst geht es wieder los, kein einziges Wort, nicht einmal einen Gedanken, nichts, aber das Schweigen müsste erst einmal möglich geworden sein, eine Sekunde wirkliches Schweigen, nicht Schweigen, nur um Luft zu holen, sondern wirklich nicht sprechen, atmen, schauen, hören. — stop
wanda
delta : 0.18 — Wie Wanda gerade wieder einmal glücklich ist, weil ihm sein Freund Joseph ein Buch Peter Nadas’ schenkte, 1305 Seiten: Das Buch der Erinnerung. Wenn man das Buch in die Hand nimmt, wird man vermutlich sagen: Das ist ein schweres Buch. Das Papier scheint dünn zu sein, auch die Schatten der Buchstaben sind gut zu erkennen, so dünn sind die Seiten des Buches, dass das Licht sie zu durchdringen vermag. Wanda hat das sofort bemerkt. Seither nimmt er jede Seite, ehe er zu lesen beginnt, zärtlich zwischen seine Finger, fährt ihre Ränder entlang, legt kurz darauf ein Blatt Papier auf einen Tisch, der sein persönlicher Tisch ist, spitzt einen Bleistift und notiert einen weiteren Satz des Buches der Erinnerung. Winzige, wunderbare Schriftzeichen, akkurat gesetzt. Sobald Wanda am Ende des Satzes angekommen ist, hält er inne, um jedes niedergelegte Wort Zeichen für Zeichen zu prüfen: … hatte ich schon Budaörs erreicht, der Weg dorthin war lang, kurvenreich und dunkel gewesen, eine Art Steilpfad führte hinunter in die Ebene ein umgepflasterter Graben mit gefrorenen Wagenspuren, auf beiden Seiten das dichte Spalier hoch aufgeschossenen Gestrüpps … So arbeitet Wanda Stunde um Stunde voran, er beginnt am Morgen um kurz nach Acht, mittags schläft er von Eins bis Drei, Punkt sechs Uhr abends schließt er das Buch und löscht das Licht über dem Tisch. Vorsichtig verlässt er den Saal, er kann kaum noch sehen. Er sagt, er mache noch dieses eine Buch, aber das hat er schon oft gesagt, seinem letzten Buch folgte ein weiteres letztes Buch, das ihm Joseph schenkte. Joseph ist ein Guter unter den Menschen. Joseph sagt: Solange Du Bücher notierst, solange Du arbeitest, wird Dich niemand fragen ... — stop
ohne radioradar
nordpol : 1.55 — Eine stille Arbeitsnacht. Auf dem Tisch in der hölzernen Küche unter dem Dach stapeln sich Tonspulen, die ich nach Zeitpunkt der Aufnahme oder den Namen der Personen, die ich befragte, sortierte: Katinka 1 — 3. Vor wenigen Minuten war ich kurz eingeschlafen, ohne vom Stuhl zu fallen. Balance scheint möglich zu sein, oder ich habe nicht sehr tief geschlafen. Als ich erwachte, saß Esmeralda vor mir auf dem Tisch. Sie betrachtete mich. Ihre Fühleraugen bewegten sich äußerst langsam auf und ab. Dann setzte sie sich in Bewegung, wendete sich einer Banane zu, die auf dem Teller lag, dort schien sie bald eingeschlafen zu sein. Ich kann sie derzeit berühren, ihren schimmernden Leib, sie flüchtet nicht, sie ist kühl und sie riecht nach Eisen und Regen und etwas nach Salz. Gestern hatte ich mich wieder einmal gefragt, ob Esmeralda vielleicht in der Lage sei, zu hören. Ich machte mich sofort auf den Weg zum Computer, um nachzuforschen, ob Schnecken über ein Gehör verfügen. Dann klingelte das Telefon, eine Stunde später erinnerte ich mich, dass ich nach den Ohren der Schnecken fragen wollte. Heute aber ist eine solche Nacht, da ich nichts wissen will, auch nicht ob Esmeralda hören kann, wenn ich pfeife oder spreche. In meiner Nähe, sie schlafen vermutlich gerade, existieren Personen, die nichts ahnen vom Morden in der Ukraine, von Viren, die in Afrika Menschen befallen, von Flüchtlingen, die durch das Singschar — Gebirge irren. Sie lesen keine Zeitung, sie besitzen weder Radio noch Fernsehgerät, aber sie lesen Bücher, die sich immer sehr weit hinter der Jetztzeit bewegen. — stop
herzgeschichte
tango : 5.12 — In der vergangenen Nacht hörte ich eine Tonaufnahme, die vor einigen Jahren während eines Spazierganges an der Isar in München aufgezeichnet wurde. Ein herbstlicher Tag. Das Rauschen des Flusses, bisweilen tosende Geräusche, wie ein weiteres Gespräch im Hintergrund. Und Hunde, und Gitarrenmusik immer wieder, und Schritte, nicht die Schritte der zwei Gehenden vor dem Mikrofon, sondern Schritte entgegenkommender Passanten. Wir unterhalten uns über Arme und Beine, Muskeln, Sehnen, Nervenstränge. Einmal beginnt es zu regnen, aufschlagende Tropfen sind auf Schirmen deutlich zu hören. Aber wir verlieren kein Wort über den Regen. Die junge Frau, die an meiner Seite wandert, spricht sehr langsam, macht lange Pausen, manchmal scheint sie nicht mir, sondern dem Wasser zuzuhören. Immer wieder erkundigt sie sich, ob das gut so sei, was sie sage, ob ich eine Geschichte daraus machen könne. Sie will nicht, dass ich ihren Namen wiedergebe: Nenn mich ‚junge Frau‘ oder nenn mich ‚Studentin‘. Manchmal sei sie müde, sagt sie, weil sie bis spät in der Nacht als Platzanweiserin in einem Kino arbeite. Sie sei so müde, dass sie einmal im Präpariersaal am Tisch beinahe eingeschlafen wäre. Das Skalpell sei ihr aus der Hand gerutscht und zu Boden gefallen, da sei sie gerade noch rechtzeitig wieder ganz wach geworden. Der Job wäre aber sehr praktisch, weil sie in den Zeiten der laufenden Filme, manchmal lernen könne, sie führe ihren Taschenatlas immer in ihrer Handtasche mit sich, Notizen und das Skript. Als Kind habe sie ihren Eltern gesagt, dass ihr Herz nicht dort schlagen würde, wo es bei den anderen Kindern üblich wäre. Sie fühlte ihr Herz immer auf der rechten Seite schlagen. Niemand habe sie ernst genommen. Nicht einmal ihr erster liebster Freund habe ihr zugehört, und auch nicht ihr zweiter Freund, der immer an der falschen Stelle sein Ohr an ihre Brust gelegt habe. Der dritte Freund war ein Mediziner gewesen, ein Student, der habe endlich nicht nur nach ihr, sondern auch nach ihrem Herzen an der richtigen Stelle gesucht. Er habe gesagt: Ein Situs inversus, eine Normabweichung. In dieser Sekunde habe sie beschlossen, Ärztin zu werden. — stop
kollibry
echo : 5.55 — Im vergangenen November verlegte ich eine Nachricht, die mir per E‑Mail zugestellt worden war. Vermutlich hatte ich ihre Existenz bereits nach wenigen Stunden vergessen, sodass ihr Sender vergeblich auf eine Antwort wartete. Heute Nacht habe ich sie glücklicherweise wieder entdeckt. Es war damals etwas Bedeutendes geschehen. L. hatte ein Notebook geschenkt bekommen, das erste Notebook seines Lebens. Es war kein neues, es war ein gebrauchtes Gerät, aber noch in einem guten Zustand, kaum ein Kratzer am silbergrauen Gehäuse, seine Tasten funktionierten tadellos, und die Programme des Betriebssystems waren hervorragend sortiert. Ein ernstes Problem stellte allerdings eine Buchstabenmaschine dar, präzise die Korrekturroutine eines Textverarbeitungsprogramms, welches vom Vorbesitzer des Notebooks jahrelang intensiv verwendet worden sein musste. Das kleine Zusatzprogramm konnte nicht ausgeschalt werden, was angenehm gewesen wäre. Zahlreiche fehlerhafte Wörter waren in seine tiefen Speicher gewandert, und so webte das Programm, während L. mit seiner Hilfe notierte, Vorschläge in gerade eben entstehende Texte, beispielsweise anstatt des Wortes Kolibri das Wort Kollibry, was schließlich zu äußerst erstaunlichen Befunden führte. L. glaubte bald, sehr ernsthaft krank geworden zu sein. Er bat mich um Unterstützung, er wolle den Speicher der Wortmissbildungen unverzüglich ausradieren. – Es ist kurz vor drei Uhr. Vermutlich komme ich mit meinen Hinweisen viel zu spät, das ist denkbar, sogar wahrscheinlich, dass ich viel zu spät sein werde. Machen wir uns trotzdem sofort auf die Suche nach einer Lösung. Gewitterstimmung vor den Fenstern, Fliegen, Blitze, aber kein Donner, vielleicht eine Art Wetterleuchten, grandiose, aus dem Himmel stürzende Bäume von Licht. – stop
nachtjäger
ulysses : 3.55 — Ich bemerkte wieder einmal, dass ich beide Arme hebe, also von mir abwende, also Flügel mache, sobald ich durch die Wohnung laufe und darüber nachdenke, wie es wäre, ohne jedes Gewicht zu sein. Das war gegen drei Uhr in der Nacht gewesen. Ich spielte sehr leise etwas von Gene Krupa auf dem Radio. In dem Moment, da ich die Küche verließ und über den Flur spazierte, überholte mich eine Fliege. Sie flog in der Höhe meiner Schultern, und zwar sehr langsam geradeaus. Sie war nicht viel schneller als ich selbst gewesen. Ich hatte den Eindruck, sie würde mir folgen, sie würde mit mir das Zimmer wechseln, nicht einem Reflex folgend, sondern überlegt und mit Genuss. Sie war so langsam, dass man sie auf einer Fotografie meiner Zimmerwanderung gut hätte erkennen können. In diesen Minuten sitzt die Fliege direkt über mir an der Decke, während ich auf dem Sofa auf dem Rücken liege und notiere. Die Fliege beobachtet mich vielleicht genauso, wie ich sie beobachte. Von Westen her nähert sich eine Spinne da oben, die so klein ist, dass wir sie nicht ernst nehmen wollen. Bald Dämmerung. — stop
frau blum
delta : 5.08 — In der Bibliothek entdeckte ich vor einiger Zeit einen Zettel. Der Zettel steckte in einem Buch, das ich entliehen hatte, um nach einer Geschichte zu suchen, die ich vielleicht schon einmal gelesen haben könnte vor vielen Jahren. Es war eine Geschichte, die von einem Gespräch erzählt, welches Frau Blum mit ihrem Milchmann führte, in dem sie dem Milchmann Botschaften sendete, ein Verhalten, das notwendig gewesen war, weil Frau Blum üblicherweise schlief, wenn der Milchmann frühmorgens das Haus besuchte, in dem sie wohnte. Diese Geschichte, ein wunderbares Stück, hat Peter Bichsel geschrieben, eine ganze Welt scheint in ihr enthalten zu sein, obwohl sie so kurz ist, drei Seiten, dass man sie von einer Station zur nächsten Station in einer Straßenbahn reisend Wort für Wort zu Ende lesen könnte. Ich erinnere mich, das Buch lag weich in meiner Hand, es war etwas schmutzig, zerlesen, auf seiner Rückseite waren einige dutzend Stempelaufträge zu finden, so wie man das früher noch machte, Bücher mit Rückgabeterminen zu versehen, so dass jeder sehen konnte, wie oft das Buch bereits gelesen worden war. Dieses Buch, von dem ich gerade erzähle, war seit über zwanzig Jahren nicht mehr ausgeliehen worden. Ich stellte mir vor, dass das Bändchen vielleicht hinter eine der Bücherreihen gerutscht sein könnte, weswegen es lange Zeit nicht gefunden werden konnte. Vermutlich war das Buch längst verloren gemeldet, so dass ich ein Buchexemplar in Händen hielt, das in den Verzeichnissen der Bibliothek nicht länger existierte. Anderseits scheint es möglich zu sein, dass das Buch versteckt worden sein könnte. Vielleicht war es von genau jener Person versteckt worden, die den Zettel in das Buch gelegt hatte, eine Person, die möglicherweise bereits gestorben ist. Das alles ist natürlich reine Spekulation, allein die Existenz des Zettels ist sicher. Dort war in blauer, akkurater Schrift zu lesen: Wie man einen Vermerk schreibt, um sich an gelesene Geschichten erinnern zu können. – stop