echo : 16.25 UTC — Ich verfüge über eine weitere, über eine 5. Schreibmaschine. Das ist so, weil ich sie mir gekauft habe. Leicht ist sie und flach. Wenn meine neue Schreibmaschine in der Hitze der Tag- oder Abendluft atmet, um sich zu kühlen, ist von ihren Atemgeräuschen selbst dann, wenn ich ein Ohr an ihr Gehäuse lege, nichts zu hören. Ich könnte sie unter meinem Hemd verbergen, weil sie so flach ist, niemand würde sie bemerken. Einmal notierte ich: Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Schreibmaschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. — Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? S i e r r a. Wie viele Male wird das Wort S i e r r a heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen werden, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort S i e r r a , das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als dasselbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. Samstag. — stop. 12° Celsius bei wolkenlosem Himmel. stop. Wer könnte nun beweisen, dass dieser Text nicht bereits von einer Maschine geschrieben wurde, die über künstliche Intelligenz verfügt? — stop / tags: machine learning . tensorflow . text mining . natural language processing . codepath . turing test.
Aus der Wörtersammlung: kohle
cimitero s. michele
victor : 22.24 UTC — Auf der Insel Giudecca existiert an eine Brücke gelehnt ein Aufzug für Menschen, die nicht in der Lage sind, Treppen zu steigen. Der Aufzug soll nun seit beinahe 3 Jahren außer Dienst genommen sein. Ich hätte davon keine Kenntnis erhalten, wenn ich nicht zufällig hörte, wie ein alter Mann sich wegen dieses kranken Aufzuges empörte. Er saß in einem Rollstuhl auf einem Balkon nur wenige Meter entfernt von der Brücke und warf Brot in die Luft, welches von Möwen im Flug aufgefangen wurde. Der Mann schimpfte in englischer, bald in französischer Sprache, als ob er ganz sichergehen wollte, dass jene Menschen, die die Brücke überquerten, seine Nachricht verstehen würden. An diesem Abend, da der wütende Mann die Administration der Stadt Venedig verdammte, wäre ich sehr gerne sofort in das Wasser zu meinen Füßen gesprungen, um den Reiz der Mückenstiche, die ich während eines Besuches des Friedhofes San Michele hinnehmen musste, durch Kühle zu lindern. Es war am Nachmittag gewesen, ich plante das Grab Joseph Brodsky’s zu besuchen, musste aber bald vor dutzenden Raubtieren flüchten, die sich auf zart schillernden Flügeln kaum hörbar näherten in einer Weise, die mir koordiniert zu sein schien. Polizisten suchten auf dem Friedhof nach zwei Frauen. Ich hatte kurz zuvor beobachtet, wie sie den Friedhof betraten. Sie trugen schwarze Kleider und schwarze Stiefel und schwarze Handschuhe, auch ihr Haar war schwarz gefärbt und ihre Augen wie von Kohle umrandet, sie waren vollständig in Schwarz dargestellt, aber ihre Haut war weiß gepudert. — Vor dem Fenster pfeifen leise Vögel wie Sprechen. — stop
auf hoher see
bamako : 15.08 UTC — Ich hörte von einem adoptierten Jungen, der gerne den Nachnamen seiner Nachbarn annehmen möchte. Seine neuen Eltern heißen nämlich Simbarski — Kohleberg, oder so ähnlich, seine Nachbarn Weber. Er selbst heißt Tobias, mit Vornamen, sein ursprünglicher somalischer Name ist unbekannt, er habe ihn, sagt er, vergessen, er wisse nicht warum, sein Name sei irgendwo auf der Flucht verloren gegangen. Später einmal will er Flussschiffkapitän werden. Der Junge meint eines dieser großen Boote, die Passagiere befördern, er will eine weiße Uniform tragen und auf seinem eigenen Schiff zur See fahren. Zurzeit arbeitet er noch als Briefträger, er ist gerade 20 Jahre alt geworden. Er berichtet, dass er in der ersten Stadt, in der er in Europa wohnte, nicht verstanden habe, was Fahrradwege sind, er habe sie für Flüchtlingswege gehalten, während die Einheimischen auf Bürgersteigen spazieren. — stop
ein millionstel gramm wort
sierra : 15.38 UTC — Ich verfüge jetzt über eine weitere Schreibmaschine. Das ist so, weil ich sie mir gekauft habe. Leicht ist sie und flach. Wenn meine neue Schreibmaschine in der Hitze der Tag- oder Abendluft atmet, um sich zu kühlen, ist von ihren Atemgeräuschen nichts zu hören. Selbst dann, wenn ich ein Ohr an ihr Gehäuse lege: Stille. Ich könnte sie unter meinem Hemd verbergen, weil sie so flach ist, niemand würde sie bemerken. Einmal notierte ich: Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Schreibmaschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. — Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? S i e r r a. Wie viele Male wird das Wort S i e r r a heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen werden, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort S i e r r a , das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als dasselbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. — stop
grand central station. regen
marimba : 0.12 — Grand Central Station an einem regnerischen Tag, viele der reisenden Menschen sind nass geworden. Auch ein paar Tauben haben sich in den Bahnhof geflüchtet, sie gehen zu Fuß, weshalb sie von Kindern gejagt werden, deren Mütter lange Röcke tragen und Schleifen im Haar. Diese Personen wirken so, als wären sie gerade erst aus den Regenwolken früherer Jahrhunderte gefallen. Wie ich mit einer Rolltreppe abwärts fahre, durch die Tunnels unter dem Bahnhof spaziere, treffe ich auf eine Modelleisenbahn, die mit Blaulicht durch einen Postkartenladen funkelt. Ein Feuer ist ausgebrochen, eine Tankstelle brennt, die jederzeit explodieren könnte, und eine Schule. Gelegentlich scheppert ein Zug vorbei, dessen Lokomotive dampft, indessen das Modelleisenbahnfeuer mittels feiner Papiere und künstlichem Wind zur Aufführung kommt. Eine dramatische Szene. In diesem Moment der Beobachtung eines Unglücks, erinnerte ich mich an einen Heizer, der in einem Münchener Bahnhof das Fahrwerk einer riesigen Lokomotive ölte. Es war eine Zeit, da die fahrenden Kohlenbrennwerke starben. Ich könnte damals zum ersten Mal bemerkt haben, dass auch Modelllokomotiven regelmäßig mit Maschinenöl, welches aus handlichen Behältern tropfenweise verteilt wurde, versorgt werden wollen. Der Dampf, der unter der Fahrt kurz darauf aus zierlichen Schloten pfiff, war echt, wie der Dampf der großen Lokomotivenbrüder. Die erste Eisenbahn meines Lebens habe ich von einem Laufstall aus als Gefangener beobachtet. Noch konnte ich, wenn ich mich nicht täusche, nur sitzen oder liegen, aber das war nicht schlimm gewesen, weil der Zug, der meinen Laufstall umkreiste, vom Boden her gut zu sehen war. Ich erinnere mich an Schienen von Metall, die ich später einmal verbiegen werde, an leuchtende Signalanlagen, an dunkelgrüne Krokodile, die je über drei Schheinwerferköpfe verfügten. Spätere, sehr viel kleinere Dampflokomotivenmodelle, waren schwer. Wenn ich sie in meinen kleinen Händen hielt, hatte ich das Gefühl etwas Bedeutendes zu halten. Ihre Farben waren Schwarz und Rot, und sie rochen schön nach Eisen. Seit jener Zeit spüre ich eine kindliche Form der Erregung, sobald ich in einem Modellkatalog blättere. Die erste Spielzeugeisenbahn, die mir selbst gehörte, war von Holz gewesen, hölzerne Schienen, hölzerne Waggons, hölzerne Lokomotiven, auch die Passagiere waren von Holz. Heutzutage werden Lokomotiven hergestellt, die so klein sind, dass man sie verschlucken kann. – Vor wenigen Tagen wurde Radovan Karadžić zu 40 Jahren Haft verurteilt. — stop
josef
echo : 5.01 — Ich weiß nicht, wie oft ich schon die Treppen in Josefs kleine Wohnung gestiegen bin. Vielleicht einhundertmal in den siebten Stock unters Dach, seit er mich mit der Aufsicht seiner Blumen beauftragte. Als ich gestern am späten Abend die Tür hinter mir schloss, entdeckte ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter seines Telefons. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Nachricht vielleicht abhören sollte, ich dachte, eine wichtige Nachricht könnte hinterlegt worden sein. Also drückte ich einen Kopf und die Maschine begann alle bisher nicht gehörten Nachrichten abzuspielen, die auf ihr verzeichnet und von mir bis dahin nicht bemerkt worden waren. Rosie erkundigte sich nach Josefs Verbleib, sie waren verabredet, Josef nicht gekommen. Dr. Tauber ließ ausrichten, dass eine Untersuchung für Oktober geplant werden müsse, reine Routine, es war inzwischen Juni geworden. Im Dezember lud Emilie Josef zum Weihnachtssingen in die Schillerschule ein, es ging um ihren Enkel, der in den Chor berufen worden war. Im Januar wurden zwei Botschaften hinterlassen, je ohne eigentliche Nachricht, einmal waren Menschenstimmen zu hören, die Sirene einer Ambulanz, dann eine Stimme, die in englischer Sprache verkündete, dass der nächste einfahrende Zug in Richtung Coney Island fahren würde. Im März wieder Rosies einerseits ärgerliche, andererseits besorgte Frage: Josef, wie geht es Dir? Anfang Mai eine weitere Botschaft, die nur aus Geräuschen bestand, ich glaube, ich hörte das Dröhnen eines Schiffsmotors. Ende des Monats war ein Onkel Josefs gestorben, man bat ihn zu kommen, er sollte sprechen, weswegen man sich drei Tage später noch einmal erkundigte. Im Juni wieder Stadtgeräusche, ein Gewitter im Hintergrund, Stimmen in einer Sprache, die ich nicht kannte. Die letzte Aufnahme, die ich hörte, war von einer ganz besonderen Art gewesen, Glocken waren zu hören, Glocken, wie sie unter den Hälsen von Kühen baumeln. Es war eine sehr lange Aufnahme, kurz bevor sie endete, Josefs Stimme: Kohleralm, Sandwespengesang. — stop
handtasche rot
sierra : 6.35 — Im Haus, in dem ich manchmal wohne, existierte vor langer Zeit eine alte Frau. Sie war so alt geworden, dass sie von Nächten erzählen konnte, die sie im Keller desselben Hauses verbracht hatte, weil Bomben vom Himmel fielen. Damals, als der Krieg endete, muss sie eine junge Frau gewesen sein, sie heiratete, gebar fünf Kinder, wurde geschieden. Ihr Mann und ihre Kinder waren längst gestorben, bis auf einen Sohn, der in ihrem Leben zuletzt kaum noch eine Rolle spielte, ihr einziger Enkel hatte sie ausgeraubt, sie war eine wirkliche einsame Person. Jedes Jahr zu Silvester stellte sie kleine Marmorkuchen vor die Wohnungstüren ihrer Nachbarn wie zur Erinnerung, dass sie noch lebte. Ich erinnere mich gut, der Kuchen schmeckte nach Nelken. Wenige Monate vor ihrem Tod kaufte sie noch drei Katzen und verursachte einen Wasserschaden. Von diesem Zeitpunkt an wurde offen über ihren Geisteszustand gesprochen, man fürchtete, mit der alten Frau in die Luft zu fliegen, weil sie mit Gas kochte und mit Kohlen heizte. Noch heute scheint der Keller nach der alten Frau zu riechen, nach Öl und nach Eierbriketts. Gestern nun habe ich mich wieder einmal an die alte Frau erinnert. Ich war bei einem jungen Mann eingeladen, in dessen Wohnzimmer auf einem Gestell von Holz eine schwere Stahltür ruhte. Diese Tür hatte sich bis vor Kurzem noch im Keller aufgehalten. Es war die Tür zum Luftschutzbunker. In der Mitte der Tür befand sich ein Spion von gepanzertem Glas, ein winziges Auge, durch das die Frau, von der ich erzählte, als Mädchen noch gesehen haben könnte. Immer wieder an diesem Abend betrachtete ich jenes seltsame Auge in der Tür, das gegen die Zimmerdecke schaute. – Samstag, kurz nach 3 Uhr. Es regnet, die Luft ist hell vom Wasser. Gerade eben habe ich nach einem Text gesucht, den ich notierte an dem Tag als die alte Frau gestorben war. Der Text ging so: Die alte Frau mit der roten Handtasche ist tot. Während des Tages irgendwann muss sie im Hospital gestorben sein. Jetzt, es ist ohne sie wieder Abend geworden, verlässt ihr Fernsehgerät das Haus. Ein Hin und Her auf der Straße, noch nie gesehene, tief fliegende Vögel. Im Haus, vom Flur her, Kampfgeräusche, auch zartes Gezeter, Verwünschungen, Empfehlungen, heisere Stimmen. Der Sohn ist da und der Sohn des Sohnes, betrunken steht der blutjunge Geier auf der Straße herum und regelt den Verkehr. Wohnungsauflösung. Nun, zu vorgerückter Stunde, hat sich mir das Wort erschlossen. Ein Prozess der Entropie, der Verwertung, des Verschwindens. Ich sehe die Verschwundene, eine 89-jährige Frau in bunter Kleidung, Stehlampe in der Hand, das Haus verlassen. Unlängst noch war sie unterwegs gewesen. Sie hatte bereits den Gang der Hochseematrosen. Manchmal rastete sie im Schatten der Bäume. Sie ging spazieren, als melde sie sich an, Tag für Tag, und zurück. Niemand weiß genau wie lange sie in der Gegend, diesem Haus, dieser Wohnung lebte, sie war schon da als Bomben fielen, und noch immer, bis gestern, stolz, einsam und zu langsam für die rasende Stadt. Jawohl, sie war stolz gewesen, ließ sich nicht helfen, niemand durfte ihr Milch oder den Sand für ihre Tiere durch das Treppenhaus in die Wohnung tragen. Manchmal heulte das Fernsehgerät durch die Wand. Jetzt ist es vorbei, jetzt werden Monteure und Maler kommen. Es ist vorbei, auch für die Katzen. — stop
ein Millionstel Gramm Wort
tango : 16.22 — Meine neue Schreibmaschine ist leicht und flach, ihr Atem geht leise. So fein ist sie gebaut, dass ich sie unter meinem Hemd verbergen könnte, niemand würde sie bemerken. Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Maschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. — Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? L i m a. Wie viele Male wird es heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort L i m a, das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als dasselbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. — stop
lichtbilder
tango : 22.55 — Prozession der Holzkohlewagen abends in der Dämmerung auf der Fifth Avenue südwärts. Fäden weißen Rauches, die sich den Luftbewegungen der Seitenstraßen beugen. Im Café, am Nebentisch, eine Frau, die gegen den Himmel fotografiert. Das künstliche Geräusch der Kamera im Moment der Aufnahme, ein wegwerfendes Geräusch, visieren, festhalten, vergessen. Wie viele Bilder sind genommen, ohne je betrachtet worden zu sein? — Zur Mittagszeit ein griechischer Mann auf dem Fährschiff nach Ellis Island. Scheue Blicke der Enkelkinder, die sein uraltes Gesicht betasten, während er schläft. Sie halten Windräder in Händen, die sich schnurrend drehen. Ihre Mutter, die Tochter, lehnt an der Reling. — stop
winde
sierra : 0.02 — Vergangene Nacht ein feiner Traum. Pendelte unter riesiger Stadt in einem U‑Bahnzug. Kostbar geschmückte saßen zwischen zerlumpten Menschen. Ameisen prozessierten, kreisrunde Papiere in ihren Zangen, ein zerteiltes Buch durchs Abteil. Kinder spielten mit Pingpongbällen, federlose Täubchen fackelten über offenen Kohlefeuern. Und da waren Libellen von vornehmer Größe, bitter duftende, blauhäutige Tiere, sie schwebten mit der reisenden Luft. Nie wurde Dunkel im Zug, Jahre fuhren wir so dahin, ohne je einmal anzuhalten. Eine Lautsprecherstimme, scheppernd, pfeifend. Immer wieder derselbe Satz: It was a wrong number that started it. – stop. — Mein Handnotizcomputer, so leise, so leise, dass ich mich zu ihm neige, um seinen Wind wahrnehmen zu können. — stop