echo : 5.26 — Kurz nach Mitternacht europäischer Zeit führte ich ein Gespräch mit Herrn Hiko Aoi, dessen Telefonnummer ich nicht bekannt geben darf, weil er andernfalls jede weitere Unterredung mit mir für immer vermeiden würde. Es dauerte nicht lange, bis im Haus 818, Lexington Avenue, mein Anruf entgegengenommen wurde. Eine verzerrt klingende Stimme meldete sich, es war die Stimme einer Frau, die sich erkundigte, wer ich sei und was ich von Herrn Aoi wissen wolle. Ich gab meinen Namen zu Protokoll, weiterhin, dass ich dringend eine Frage an Herrn Aoi richten müsse, deren Beantwortung für mich dringend sei, und zwar noch in dieser Nacht. Ich ahnte, dass ich zunächst lange warten würde, es handelt sich bei Herrn Aoi um einen hochbetagten Mann, der sich sehr vorsichtig durch seine Wohnung bewegt. Wie er sich dem Telefonapparat näherte, hörte ich seinen Atem, ein feuchtes, rasselndes Geräusch, um mich dann freundlich zu begrüßen. Ich stellte mir vor, dass er vielleicht lächelte. Was gibt’s, Louis? fragte er. Ich erkundigte mich zunächst nach dem Wetter: Wie ist das Wetter bei Euch drüben? Nun, lassen wir das, ich erklärte, dass ich eine Frage haben würde, eine quälende Frage, dass ich nämlich dringend in Erfahrung bringen müsse, ob er, Mr. Hiko Aoi, sich für Fliegentiere interessiere, für die Art und Weise wie sie sich durch die Luft bewegen, wie sie landen, und wie sie schlafen. Ist es denkbar, dass Sie sich vielleicht für fliegende Tiere erwärmen könnten? Herr Aoi lachte. Ich hörte ihn tatsächlich lachen, ein gleichfalls feuchtes, heulendes Geräusch. Der alte Mann bat mich um die Möglichkeit eines Rückrufes. Ich wartete drei Stunden, machte nichts in dieser Zeit als einmal einen Kopfstand. Gegen vier Uhr mitteleuropäischer Zeit klingelte das Telefon. — stop
Aus der Wörtersammlung: nichts
vögel
~ : oe som
to : louis
subject : VOEGEL
date : april 24 13 2.05 p.m.
Ich hörte, wie Noe mit Vögeln sprach. Eine Stunde lang war seine knisternde Stimme zu vernehmen. Er flüsterte: Hallo, hier ist Noe, seht ihr mich? Schaut her, was für ein Wunder! Aber dann, sobald sich die Vögel von ihm entfernten, wurde seine Stimme laut, sein Ausdruck nachdrücklich. Er versuchte sich bemerkbar zu machen, als ob er hoffte, sie würden ihn mit sich nehmen. Niemand kann seine Stimme hören, nur wir können Noes Stimme hören! Gegen drei Uhr habe ich Taucher Noe angesprochen, um ihn festzuhalten, um ihn daran zu erinnern, dass wir noch bei ihm sind. Noe, sagte ich, Noe, hör zu! Ich erwarte, dass Du mir erzählst, was Du siehst! — Da sind Vögel, antwortete Noe, sehr große Vögel, Vögel, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Wir wollen davon schweigen! — Der Morgen kam glücklicherweise rasch, Martin machte sich unverzüglich auf den Weg in die Tiefe, noch drei oder vier Stunden und er wird Noe erreichen. Unser Taucher indessen war eingeschlafen. Mehrfach habe ich versucht, ihn zu wecken. Ich sagte: Noe, wie geht es Dir? Erzähl mir, was sind das für Vögel, die Du siehst? Keine Antwort. Stille von der Tiefe her, nichts als Noes langsam schlagendes Herz. Gegen den Mittag zu vermerkte Noe plötzlich, wir hätten ihm schon lange Zeit eine Brille versprochen. Ich meine, fuhr Noe fort, dass ich ein Recht auf eine Brille habe, wenn ich schon lese, stundenlang aus Büchern lese, die ich weder wählte noch wünschte. Meine Augen schmerzen, Ihr solltet mich heraufholen und mir eine Brille verpassen. Das sagte Noe noch vor wenigen Minuten. Es klang wie eine Drohung. — stop. — Mittwoch, 24. April 2013. Taucher Noe seit 781 Tagen unter Wasser. — stop. Tiefe 828 Fuß. — stop. Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
24.04.2013
1852 zeichen
mr. charles brown
sierra : 6.28 — Mitten in der Nacht entdecke ich, dass Charles Brown tatsächlich existierte. Er war Engländer gewesen, sammelte Uhren und trug diese Uhren am eigenen Körper. Nicht etwa eine Uhr nach der anderen Uhr, wie man meinen möchte, vielmehr einige Uhren oder sehr viele Uhren zur gleichen Zeit. Ich bin natürlich äußerst begeistert, öffne zunächst das Fenster, lass frische Luft in die Wohnung, kehre vor den Bildschirm zurück, er ist immer doch da, Mr. Charles Brown oder ein Mann, der vorgab, Mr. Charles Brown gewesen zu sein, ein Mann, der Uhren sammelte, der Uhren beobachtete. Er soll Uhren an seinen Fingern getragen haben, Uhren am Revers, Uhren in der Gestalt von Manschettenknöpfen. Ich stelle mir vor, dass ein feines Zeitrauschen von ihm ausgegangen sein muss. Ist es nicht wunderbar, stundenlang an ein Geräusch wie dieses Rauschen der Zeit zu denken? — 3 Uhr und 10 Minuten. Ich habe heute nichts weiter zu tun, als wach zu bleiben, bis es hell werden wird. — stop / ps. Bemerkt zunächst bei Peter Glaser
i love you
romeo : 15.18 — Am See im Palmengarten. Erste milde Stunden. Abendsegler jagen durch die Dämmerung. Für einen Moment der Eindruck, es könnte sich bei den Schatten der Fliegenjäger um kleine, spielende Engel handeln. Auf der Bank neben mir ruht mein Filmtelefon, soeben erscheint der Feuerball einer detonierenden Bombe in der Stadt Boston nahe einer Marathonstrecke. Wenn ich den Kanal wechsele, Skateboardfahrer, die über Hausdächer springen auf der Insel Santorin, ein Mädchen mit Zahnspange trällert: I love you, i love you! Bald dunkle Rauchpilze über der Stadt Aleppo. Auf einer Straße liegt der Körper einer Frau, der sich noch bewegt, obwohl sie unbedingt tot sein müsste, so furchtbar die Verletzungen, die ihr zugefügt worden sind. Ich spiele den Film immer wieder ab, warum? Als es dunkel wird über dem Wasser, Stille. Man hört in der Lichtlosigkeit nichts vom Jagen der Tiere, wenn man sie nicht sieht. Wenige Stunden später wird Wladimir Putin sagen, bei dem Anschlag in Boston handele es sich um ein barbarisches Verbrechen. — stop
amsterdam
sierra : 7.05 — Immer wieder wundere ich mich darüber, wie ein Bild, eine Vorstellung, eine Idee, ohne mein Zutun, ohne dass ich also den Eindruck haben würde, Arbeit verrichtet zu haben, weitere Bilder erzeugt, Geschichten, Filme, Zeiträume von Abwesenheit. Ich erinnere mich, in einem dieser Räume kürzlich in Amsterdam gewesen zu sein, während ich zur selben Zeit im Zug durch südliche Landschaft reiste. Ich hatte das Bild eines Lädchens vor Augen, in welchem in einer Pfanne menschliche Ohren geröstet wurden. Es roch gut nach gebratenem Fleisch und natürlich frage ich mich, woher ich diese Vorstellung genommen habe. Menschen standen bis auf die Straße hinaus, warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren, eine Portion der gerösteten Ohren in einer Papiertüte entgegenzunehmen. 100 Gramm kosteten 72 englische Pfund, vielleicht war es deshalb, in Anbetracht des Preises, so still im Laden, man hörte nur ein Zischen, sobald aus einem Schäufelchen eine weitere Portion Ohren in die Pfanne fiel. Aber draußen auf der Straße war Tumult entstanden. Während die einen sich über den enormen Preis der Ohren beschwerten, waren andere sehr deutlich gegen den Verkauf menschlicher Ohren überhaupt eingestellt. Das sind gezüchtete Organe, sagten sie, sie waren nie an einem menschlichen Kopf befestigt. Andere hingegen empörten sich darüber, dass es doch verrückt sei, für etwas, das niemals echt gewesen war, eine derart exzellente Summe Geldes pro Gramm bezahlen zu müssen. Die einen wie die anderen schienen mir recht zu haben. Fenster gingen zu Bruch, berittene Polizei fegte über eine Brücke. Und wie ich in dieser Weise in einem Zug sitzend einen Film erlebte aus dem Nichts, beobachtete mich ein Freund. Ich bemerkte ihn nicht. Als ich ihm später erzählte, was ich erlebt hatte, sagte er, er habe indessen, in der Beobachtung meiner Person, nicht den geringsten Laut gehört. — stop
ameisengeschichte
india : 6.15 — Die müde Stimme eines Freundes gestern Abend auf dem Anrufbeantworter. Ich hatte um einen Rückruf gebeten, der Rückruf kam bald. Er meldete, er sei gerade auf dem Land in seinem Haus und kämpfe mit Ameisen. In den darauffolgenden Minuten hatten wir mehrfach kürzere Verbindungen, die je nur Sekundenzeit dauerten. Das waren Verbindungen einer Art gewesen, die man vielleicht von früher her kennt, Störgeräusche, Wortfetzen, Stimmen von sehr weit her, geheimnisvoll. Nach einigen Minuten war dann endlich eine stabile Verbindung erreicht. Ich hörte einen Bericht jener Vorgänge, die sich fern, im Rheingau, in einem kleinen Haus, das sich in der Nähe eines Waldes befindet, abspielten. Möbel wurden verrückt, in Mauerspalten geleuchtet, Dielen angehoben, um das Nest der Ameisentiere, die wieder einmal in das Haus eingewandert waren, aufzuspüren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch immer die Vorstellung eines Kampfes, der mit den Werkzeugen der Uhrmacher gefochten wurde, Lupen, Pinzetten, dazu feinste Netze, Nadeln, Honigtropfen. Rasch wurde deutlich, dass ich mich in Dimensionen der Vorstellung bewegte, die mit der Wirklichkeit meines Freundes nichts zu tun hatten, mein Freund kämpfte mit Schaufeln, mit Besen, mit Giften, mit Feuer, mit Wasser. Er sagte, er habe einzelne Tiere bereits vor Wochen wahrgenommen, sie aber zunächst nicht ernst genommen. Ich stellte mir vor, wie sie nun überall sind, ein Haus, das von Ameisen geflutet wird, ein Haus, das eine Haut von Ameisenkörpern trägt. Sie sollen als Staatswesen ohne besondere Intelligenz sein. Sie bemerken nicht, dass man sie bekämpft, sie werden weniger, aber sie hören nicht auf, sie flüchten nicht, gerade deshalb sind sie vielleicht nicht zu bezwingen. Und wieder die Frage, nehmen wir einmal an, ein Volk von Wanderameisen näherte sich, was würde ich hören? Vielleicht ein gut sichtbares Geräusch? — stop
ryūnosuke akutagawa
charlie : 5.05 — Nach der möglichen Existenz von Drohnen im New Yorker Luftraum gefragt, soll der Bürgermeister der Stadt geantwortet haben, dass man solche Entwicklungen nicht aufhalten könne. „Wir werden mehr Sichtbarkeit und weniger Privatsphäre haben”. Es sei keine Frage, ob er selbst das gut oder schlecht finde. Das sei beängstigend, aber er sehe letztlich kaum einen Unterschied zwischen einer Drohne in der Luft und einer Kamera auf einem Gebäude.“ — In diesem Moment, es ist kurz nach drei Uhr, verlässt die Vorstellung eines Posaunisten, der frühmorgens an Bord der Fähre MS John F. Kennedy spielend einen neuen Morgen begrüßt, während er von einem summenden Flugobjekt in der Größe einer Mandarine umrundet wird, ihren poetischen Raum. — stop. — Minus 5 Grad Celsius. — stop. — Weit unter mir, auf einer Straßenlaterne, sitzt eine Amsel. Ich nehme an, dass sie mich sehen kann. Aber es ist noch zu kalt oder zu früh, um zu singen. Ich habe eine halbe Stunde lang in der Beobachtung des kleinen dunklen Vogelschattens mein Gedächtnis trainiert, indem ich versuchte, den Namen eines japanischen Dichters zu lernen, der seit dem 24. Juli 1927 nicht mehr am Leben ist. Er heißt Ryūnosuke Akutagawa. Jetzt ist es kurz vor vier. Nichts weiter. — stop
von nachthüten
echo : 6.48 — Es war das erste Mal, dass ich ein Hutgeschäft betreten habe. Es roch sehr gut, es roch nach feinen Stoffen und nach Leder, es roch eigentlich eher nach einem Schuhgeschäft als nach einem Geschäft für Hüte. Der Mann hinter dem Tresen trug natürlich selbst einen Hut auf dem Kopf. Als ich mich näherte, war er gerade in ein Gespräch vertieft mit einem Herrn, der sich Hüte vorführen ließ. Er schien über sehr viel Geld zu verfügen, weil er jeden Hut, der ihm gefiel, unverzüglich kaufte. Ein Turm von Hutschachteln, so hoch wie der Mann selbst, hatte sich neben ihm gebildet. Der Turm wurde von einem Angestellten des Ladens festgehalten, damit er nicht stürzte. Ein weiterer junger Mann kletterte auf einer Leiter hinter dem Tresen vor einem Regal herum, das aus einem früheren Jahrhundert zu kommen schien, das heißt, das Regal war übrig geblieben, während andere Gegenstände derselben Zeit längst verschwunden waren. Einige Minuten nahm keiner der Menschen, die sich in dem Laden befanden, Notiz von mir, und so konnte ich diese kleine Geschichte beobachten, auch den Ausführungen lauschen, mit welchen der Mann, der Hüte kaufte, sein Verhalten begründete. Obwohl auf seinem Kopf noch sehr viel Haar zu entdecken war, schien der Mann sich bereits jetzt Gedanken darüber zu machen, wie lang er über sein Haar noch verfügen würde. Er schien damit zu rechnen, dass er bald kein einziges oder nur räudiges Haar auf dem Kopf tragen würde, darunter bloße Haut, nichts also als seinen Kopf, was für ihn inakzeptabel sein konnte. Er wollte nun vorsorglich Hüte wie Frisuren besitzen, wollte nichts anderes, als mächtig sein über seine Zukunft, vorbereitet, sagen wir. Selbst noch nachts, stellte er sich vor, sollte ein Hut seinen Kopf bedecken, weswegen er nach Nachthüten fragte, aber so etwas gibt es nicht, oder bisher nicht, Mützen ja, aber nicht Hüte, nicht Nachthüte, was seltsam ist, nicht wahr, dass es alles Mögliche gibt auf dieser Welt, aber keine Hüte, die reine Nachthüte sind. Seit ich das Hutgeschäft vor Stunden verlassen habe, denke ich darüber nach, was einen Nachthut genau genommen ausmachen würde, was ihn von anderen Hüten unterscheiden würde. Es müsste vermutlich sehr weich sein, das könnte sein. Sehr viel weiter bin ich in meinen Überlegungen bislang nicht gekommen. Es ist jetzt kurz nach drei Uhr. Schneewolken nähern sich von Nordosten her. – stop
nachtameise
~ : sam
to : Mr. louis
subject : WANDERAMEISE
Mein lieber Freund Louis, es gibt Neues zu berichten. Ich bin nämlich umgezogen, von einer Wohnung in eine andere Wohnung, beide befinden sich in demselben Haus. Jahrelang, wie Du weißt, lebte ich im 3. Stock, jetzt schaue ich vom 25. Stockwerk auf die Straße hinunter. Die Menschen sind noch kleiner geworden, ihre Stimmen nicht länger zu hören. Ich wohne unter dem Dach. Manchmal liege ich rücklings auf dem Boden und denke, dass es hier ganz wunderbar ist, weil ich nie wieder von Schritten geweckt werde, wenn ich schlafe. Natürlich ist der Aufstieg beschwerlich, kein Lift nach wie vor, aber die Luft scheint hell zu sein, auch nachts, weil sie so gut riecht, nach Seeluft, ja, nach Seeluft. Vor wenigen Stunden öffnete ich das Fenster nach Süden hin und fütterte Möwen mit Brot, seither umkreisen sie lauernd das Haus. Die Wohnung nebenan scheint leer zu stehen, von unten ist leise Klaviermusik zu hören, nichts weiter. Es ist überhaupt sehr still hier oben. Während ich nachts, eine Wanderameise, meine Bücher und Papiere nach oben schleppte, war ich keiner Menschenseele begegnet. Aber ich hörte Stimmen, nicht von den Türen, von irgendwo her, als wären Menschen in den Stufen, dem Holz des Treppengeländers, den Wänden des alten Hauses gefangen. In den höheren Stockwerken befinden sich Briefkästen mit schweren, eisernen Deckeln, in welche man Botschaften abwerfen kann. Natürlich bin ich nicht sicher, ob sie noch funktionieren. Ich habe zur Probe eine Nachricht folgenden Inhaltes an mich selbst abgeschickt: Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend eingeschlafen, obwohl ich in einem äußerst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht war’s die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlummerte ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandelnden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Dein Sam. Guten Morgen! — stop
gesendet am
17.03.2013
8.15 pm
2253 zeichen
erzählende physik eines fallendes radios
sierra : 6.32 — Von der Berechnung des Luftwiderstandes, dem ein Körper begegnet, wenn er sich im freien Fall befindet, wusste ich bis kurz nach Mitternacht nichts. Auch die Berechnung der wachsenden Geschwindigkeit, mit der sich ein stürzender Körper dem Erdmittelpunkt nähert, war mir bisher nicht möglich, weil ich noch nie gut gewesen bin in der Mathematik der Physik. Ich habe also nachgelesen und bin in dieser Lektüre auf einen wunderbaren Text gestoßen, den der Philosoph Lukrez bereits im Jahr 55 vor Christus notiert haben soll. Er schreibt: Wer nun etwa vermeint, die schwereren Körper, die senkrecht rascher im Leeren versinken, vermöchten von oben zu fallen auf die leichteren Körper und dadurch die Stöße bewirken, die zu erregen vermögen die schöpferisch tätigen Kräfte: Der entfernt sich gar weit von dem richtigen Wege der Wahrheit. Denn was immer im Wasser herabfällt oder im Luftreich, muss, je schwerer es ist, umso mehr sein Fallen beeilen, deshalb, weil die Natur des Gewässers und leichteren Luftreichs nicht in der nämlichen Weise den Fall zu verzögern imstand ist, sondern im Kampfe besiegt vor dem Schwereren schneller zurückweicht: Dahingegen vermöchte das Leere sich niemals und nirgends wider irgendein Ding als Halt entgegenzustellen, sondern es weicht ihm beständig, wie seine Natur es erfordert. Deshalb müssen die Körper mit gleicher Geschwindigkeit alle trotz ungleichem Gewicht durch das ruhende Leere sich stürzen. — Eine weitere Stunde später hatte ich eine recht präzise Vorstellung von der Beschleunigung, die ein Transistorradio erfährt, wenn es aus 1,60 Meter Höhe von einem Bartisch aus zu Boden fällt. Das ist eine wichtige Erfahrung, um eine Geschichte erzählen zu können, die sich dem Verhalten eines fallenden Radios gemäß entwickeln könnte. Weil sich das Radio zunächst langsam, dann schneller werdend durch die Luft bewegt, würden sich auch die Wörter der Geschichte zunächst langsamer ereignen, eine geringe Menge Wörter für ein erzähltes Particle der Geschichte, wohingegen zuletzt, kurz vor dem Aufprall des Radios sich sehr viele Wörter ereignen werden, um ein erzähltes Particle zu erzeugen. Eine interessante Vorstellung, die ich paradoxerweise in meinem Gehirn herumzudrehen vermag. Weil sich das Radio zunächst langsam bewegt, ist viel Zeit, um viele Wörter zu notieren. Stetig werden die Wörter weniger, weil sich die Zeit ihrer Aufführung verkürzt. Alles das ist für eine extreme Zeitlupe ausgedacht. Und jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. Guten Morgen. — stop