sierra : 5.12 UTC — Es ist Samstag und ich habe gerade eine Meldung gelesen, die mir ein Programm meines Particles-Servers sendete, es habe nämlich irgendein Mensch, der nahe oder in Washington D.C. leben soll, einen Text besucht, der von Raymond Carver erzählt. Ich las meinen Text nach längerer Zeit wieder einmal mit älter gewordenen Augen. Und ich dachte mir, dass ich im Grunde nicht sicher sein könne, ob ein menschliches Wesen meinen Text in der Weite des World Wide Web entdeckte, oder ob eine Maschine mein Particles besuchte, die einer Spur von Schlüsselwörtern folgte. Der Text, der am 12. Dezember 2014 notiert wurde, geht so: Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von sehr kleinen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincolntunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
Aus der Wörtersammlung: rete
nachts
romeo : 5.22 — Es war Nacht und ich hockte in meiner Küche und schälte sehr langsam einen Apfel. Kurz darauf hörte ich ein raschelndes Geräusch, dessen Ursache sich in meinem Kühlschrank aufzuhalten schien. Ich wartete einige Minuten. Zunächst wieder Stille, dann erneut ein raschelndes Geräusch. Unverzüglich öffnete ich die Tür zum kühlen Raum, der sehr schön hell beleuchtet war. Wie ich so auf einem Stuhl im Licht meines Kühlschrankes saß und wartete, dass sich dort irgendetwas ereignen möge, das Geräusche verursacht, begann ich damit, das sichtbare Gut im Schrank zu befragen, die Marmelade zum Beispiel, ein Gläschen voll Aprikosengelee, ob es denn möglich wäre? Oder der Senf, die Feigen in ihrer Feigenbox, Butterwaren. Aber auch das italienische Brot rührte sich nicht. Ich erinnerte mich in diesem Augenblick der Kühlschrankbeobachtung an ein Kind, das immer wieder einmal die Tür eines längst verschwundenen Eisschranks aufriss, um nach der Dunkelheit zu sehen, die angeblich verlässlich eintreten sollte, sobald die Tür des Kühlschranks geschlossen wurde. Ich legte mich dann wieder ins Bett. — stop
apfel
echo : 0.10 UTC — Ich hatte an einem Abend der vergangenen Woche mein Fernsehgerät ausgeschaltet, war in die Küche getreten, um Schnecke Esmeralda zu beobachten, wie sie einen Apfel zunächst umrundete, sich dann aufrichtete samt ihres Gehäuses und auf den Apfel kletterte. Eine Bewegung, die geradezu waghalsig anmutete. Es regnete. Ich wurde schläfrig. Um kurz vor Mitternacht klingelte das Telefon. Jemand war in der Leitung, sprach aber nicht, atmete nur. Ich hörte eine Weile zu, und ich dachte, dass Atem eine schöne Sprache ist, aber auch etwas unheimlich. Also kehrte ich zu Esmeralda zurück, die nun auf dem Apfel hockte als wäre der Apfel ein Stuhl oder ein Sofa. Wie so häufig nachts, las ich Esmeralda einen verschlüsselten Nachrichtentext vor. Ich habe nämlich bemerkt, dass Esmeralda sehr aufmerksam wird, sobald ich ihr kryptische Texte vortrage, erstaunlich, da Schnecken doch gehörlos sein sollen. In diesem Fall, es war nicht leicht gewesen, las ich T.C.Boyle: Nfjof muvoh jtu tfis foutdijfefo- bcfs xbt oýu{u ft@ Jdi cjo gýs Gsbvfosfdiuf/ Jdi cjo gýs Vnxfmutdivu{/ Jdi cjo gýs Nvmujlvmuvsbmjtnvt/ Jdi cjo gýs Cjmevoh/ Ejf wjfmfo Nfotdifo bvt efs Bscfjufslmbttf- ejf jdi lfoof- tjoe qpmjujtdi sbejlbm boefsfs Botjdiu bmt jdi/ Ejf VTB tjoe fjo hftqbmufoft Mboe/ Jdi lpnnf tfmctu bvt efs Bscfjufslmbttf- voe jdi mfcf fjofo hspàfo Ufjm nfjofs [fju jo efo lbmjgpsojtdifo Cfshfo- xp wjfmf tphfoboouf Sfeofdlt mfcfo/ Jdi mjfcf ejftf Nfotdifo- wjfmf wpo jiofo tjoe joufmmjhfou voe fjogýimtbn/ Bcfs jo qpmjujtdifo Gsbhfo ibcfo tjf tjdi usbvsjhfsxfjtf hbo{ voe hbs nbojqvmjfsfo mbttfo/ Ebcfj xfsefo hfsbef tjf ejf Pqgfs wpo Usvnqt Qpmjujl tfjo voe bn nfjtufo voufs jis {v mfjefo ibcfo/ Xfoo qsjwjmfhjfsuf Bnfsjlbofs xjf jdi ovs hfnåà jisfo xjsutdibgumjdifo Joufsfttfo hfxåimu iåuufo- eboo iåuufo xjs Usvnq hfxåimu- xfjm fs ejf Tufvfso tfolfo xjmm voe ebgýs tpshu- ebtt xjs votfs Hfme cfibmufo/ Bcfs jdi xåimf efo Lboejebufo- efttfo Ibmuvoh jdi gýs sjdiujh ibmuf- voe ojdiu efo- efs njs Qspgju csjohu/ Jdi cjo Qbusjpu/ — stop
ABOUT ESMERLADA / ENDE
nahe warrenstreet
alpha : 22.28 UTC — Louis erzählte mir eine heitere Geschichte, die er nicht erfunden, vielmehr von Monroe erzählt bekommen haben will, Monroe, die in Brooklyn in der Baltic Street seit fünf Jahren lebt. Sie habe, erzählte Monroe, ihre Freundin Lilly besucht in der Warrenstreet an einem fürchterlich heißen Tag im August. Sie habe Lillys Wohnung betreten und sofort gespürt, dass etwas seltsam ist. Das linke Augenlid Lillys flatterte nämlich wie ein wild gewordener Falter über ihrem Augapfel herum. Dieses Flattern habe nicht aufgehört, sagte Lilly, seit in der Nacht vor drei Tagen über ihrem Bett ein Feueralarmmelder angesprungen sei, ein äusserst strenger heller Ton, der so komponiert worden sei, dass man unbedingt wach werden müsse, weswegen sie sogleich senkrecht im Bett hockte und nach Feuer suchte, aber keinerlei Feuer gefunden habe. Sie habe dann etwas abgewartet, aber das Wesen an der Decke wollte sich nicht beruhigen, da sei sie dann auf einen Stuhl gestiegen und habe das pfeifende, blinkende Tier flugs abgeschraubt, habe versucht das Tier zu beruhigen, habe Schalter und Knöpfe gedrückt, dann das Tier in einen Pullover gewickelt, eine Decke darüber gelegt, und noch eine Decke, schließlich habe sie ihre Handtasche geöffnet, sei auf die Straße getreten, um zu Fuß in Richtung der Brooklyn Bridge zu marschieren. Indessen flatterte ihr Augenlid noch immer herum wie ein gefangener Falter, weswegen sie sich sehr konzentrieren musste im wilden Straßenverkehr. Das Tier, das in einer Weise in der Handtasche pfiff, dass Seemöven Lillys Gegenwart flüchteten, habe sie dann in den East River geworfen, was ihrem Auge ganz offensichtlich nicht sofort geholfen habe. — stop
im aufzug
sierra : 22.01 UTC — Stellen Sie sich vor, ich war in einem Aufzug gewesen, der nicht weiterfuhr, weder nach oben noch nach unten, keinerlei Bewegung, eine eigentlich harmlose Geschichte, aber ich war nicht allein in dem Aufzug, wir waren zu fünft, zum Glück nur zu fünft, nicht etwa zu siebt oder zu acht, dann wäre wirklich Ernst geworden. Da waren also ich und vier weitere Personen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, Personen von der Art, von welchen man sagen könnte, dass sie nicht gerade freundliche Menschen sind. Ich würde sogar sagen, sie waren in ihrem Auftreten unhöfliche Wesen, ich kann das beurteilen, ich war der erste in dem Aufzug gewesen, alle weiteren vier Personen kamen etwas später hinzu, traten in die Aufzugkabine herein, ohne zu grüßen. Den ersten Herrn grüßte ich noch, aber bei dem zweiten Herrn war ich schon vorsichtig gewesen, ich grüßte ihn nicht, vielleicht wird der vierte Besucher des Aufzuges demzufolge gedacht haben, was sind das nur für unfreundliche Menschen an diesem Ort, weil wir drei, die vor ihm im Aufzug gewesen waren, uns bereits ärgerten, deshalb entsprechende Gesichter zeigten. Wir hatten kein Glück, so könnte man das vielleicht sagen, auch die Besucher vier und fünf waren keine Frohnaturen, sie traten herein, beobachteten, was da für Menschen sich im Aufzug befanden, und sagten sich vermutlich, wir werden schweigen, weil alle schweigen. Dann blieb der Aufzug also stehen, ohne dass sich eine Tür geöffnet haben würde, das Licht ging aus, auch die Anzeigen der Stockwerke, wir standen im Dunkeln. Unverzüglich holten wir unsere Diensttelefone aus den Taschen, es wurde Licht, fünf Gesichter, die beleuchtet waren, ängstliche Gesichter, weil wir ahnten, dass wir uns nicht mochten, dass wir unfreundliche Menschen waren, die vermuteten, dass sofort oder in Kürze etwas Schreckliches geschehen könnte. — stop
lions writers inc.
alpha : 17.25 UTC — Eine Notiz der Lions Writers Support Services. Inc., die ich an dieser Stelle mit großer Freude übersetzt wiedergebe, berichtet von Mr. und Mrs. Shapiro: > AUF NACH CONEY ISLAND. Als Mr. Sini Shapiro, wohnhaft zu New York ( Park Avenue 720 ), im vergangenen Jahr den dringenden Wunsch äußerste, endlich einmal seine Wohnung verlassen zu dürfen, um sich in der Stadt seiner Geburt umzusehen, waren wir mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Wie könnte es möglich werden, fragten wir, einen Kiemenmenschen, der zeit seines Lebens ein hochspezialisiertes Wasserhabitat in Manhattan bewohnt, einen Zugang zur Stadt zu ermöglichen, ohne ihn umzubringen. Sehr bald folgten wir einer konkreten Spur. Aus der nautischen Sammlung der Familie Landau, die auf Long Island lebt, erwarben wir einen Tiefseetaucheranzug, welcher zuletzt in den 40er Jahren der unterseeischen Minenräumung diente. Der Anzug selbst wog 240, Mr. Shapiro, ein zartes Wesen, 32 Kilogramm, die Maße stimmten, und der Anzug, wenn man ihn mit Wasser füllte, erwies sich als vollständig dicht über viele Tage hin. Am 5. Juni des Jahres 2016 unternahmen wir mit Mr. Shapiro einen ersten Versuch unter wirklichkeitsnahen Bedingungen. Getestet wurde in der Wohnung der Shapiros zunächst unter Wasser, ob Mr. Shapiros Leib sich in den Anzug fügte und ob er sich geborgen fühlen konnte. In einer zweiten Phase des Testes versuchten wir einen Eindruck von der Beweglichkeit des Anzugs zu gewinnen, immerhin war das Gefäß nun vollständig mit Wasser gefüllt. Der Taucheranzug, Mr. Shapiro plus Wasserfüllung, sowie angeschlossene technische Weiterungen, Filter und Pumpen, eine Fotokamera sowie zwei Funkkommunikationsmodule, wogen insgesamt 352 Kilogramm. Am 22. Juli dann in den frühen Morgenstunden von sorgenvollen Blicken seiner Frau begleitet, wagte Mr. Shapiro sich zum ersten Mal in das Leben jenseits der Schleusentüren seiner Wohnung hinaus. Der alte Mann wurde in sitzender Position über Aufzüge des Hauses vorsichtig zu einem Subaru — Sambar — Automobil transportiert, das sich, von einem Polizeifahrzeug eskortiert, bald langsam über die Manhattanbridge, kurz darauf über die Coney Island Avenue südwärts bewegte. Mr. Shapiro wollte das Meer mit eigenen Augen betrachten. Brooklyn, äusserte er später, gefalle ihm. / — stop New York City. May 3 2017 by Miu Gallane
kaktusblüte
nordpol : 18.52 UTC — Ein Zufall führte mich in einem Moment zu Herrn K., als er gerade zum ersten Mal sein neues Bürozimmer betrat. Er führte einen Karton mit sich, nicht größer als eine Schuhschachtel. Aus diesem Behältnis hob er eine Notebookschreibmaschine, ein Mäppchen mit Bleistiften, eine farbige Fotografie, sowie einen fingerhohen Kaktus, der blühte. Herr K. prüfte die Schubladen des Schreibtisches, der zu dem kleinen Zimmer mit Ausblick auf einen Park gehörte, sie waren leer. Seinen Kaktus stellte er auf die Fensterbank, die Fotografie neben ein Telefon, das sich bereits im Zimmer befunden hatte, ehe Herr K. eingetreten war. Er setzte sich auf einen Stuhl und sagte: Wissen Sie, mehr brauche ich nicht. Das sollten Sie immer bedenken, nur niemals heimisch werden, nur nicht glauben, dass Ihnen dieses Büro gehört. Im Gegenteil, Sie selbst gehören diesem Zimmer wie jeder andere, der nach Ihnen an dieser Stelle arbeiten wird. Wer in und von diesem Zimmer aus operiert, muss sich bewusst sein, dass er jederzeit ebenso plötzlich wie er gekommen ist, auch wieder gehen wird. In dieser Postion, die Sie hier oben bekleiden, haben Sie Erfolg oder sie haben keinen Erfolg. Binden sie sich also nicht, arbeiten Sie konzentriert und genießen Sie die Aussicht, aber, um Himmels Willen, fühlen Sie hier niemals zu Hause! — Diese Geschichte ereignete tatsächlich an einem Freitag im Juli des vergangenen Jahres. — stop
von stimmen
delta : 18.12 UTC — Ich habe lange Zeit über das Bild der Kehlköpfe nachgedacht, wie sie in einem anatomischen Präpariersaal durch die Luft fliegen als wären sie Vögel. Wann dieses Bild zum ersten Mal auftauchte, weiß ich nicht. Vielleicht während eines Spazierganges über den alten Münchner Friedhof St. Georg. Ich stand vor Liesl Karlstadts Grab, plötzlich hörte ich ihre Stimme, die von irgendwo her aus den Kastanienbäumen in nächster Nähe zu kommen schien. Orangenfarbene Blüten, Fuchsköpfen ähnlich, lungerten auf dem kleinen Karlstadthügel. Blaue Fühlerkäfer hetzten über sandigen Boden. Waldbienen, Mooshummeln, Raupenfliegen, es sirrte und brummte in allen möglichen Tönen. Auf dem Gedenkstein für Rainer Werner Fassbinder hockte ein Marienkäfer von Holz, der Schirm eines Fächerahorns spendete Schatten. Auch an Fassbinders Stimme konnte ich mich sofort erinnern, ohne einen konkreten Satz aus seinem Munde zu vernehmen. Es war ganz so, als würden die Stimme in meinem Kopf eine Stimme simulieren. Erich Kästner allerdings war mir entweder abhanden gekommen oder ich habe seine Stimme tatsächlich noch nie in meinem Leben gehört. Aber den Sedlmayr, Walter, erinnerte ich unverzüglich und auch die angenehm warme Stimme Bernd Eichingers, der so plötzlich gestorben war. Sommerfäden schwebten durch die Luft. Das Rascheln der Eichhörnchen unterm Efeu. Über mir ein blaugrauer, blitzender Himmel. Es duftete nach Zimt, warum? — stop / koffertext
minutenminiatur : schlaflos
nordpol : 8.16 UTC — Um kurz nach sechs Uhr in der Früh berichtet Katharina in einem Laden unter dem Flughafenterminal 1 vor einer Kasse stehend, sie fliege nun seit bald zwei Jahren Langstrecke nach New York und wieder zurück. Eine anstrengende Pendelbewegung, gerade eben vor einer halben Stunde erst sei sie gelandet, sie liebe die Beobachtung des Sonnenlichts, das in großer Höhe über dem Atlantik während eines Nachtfluges zurück nach Europa im orangefarbenen Zwielicht stets sichtbar am Horizont verweile. An diesem Morgen ist Katharina sehr aufgeregt, sie habe, sagt sie, in den vergangenen zwei Jahren die Stadt New York selbst nie betreten, gestern aber, vor wenigen Stunden, mit einer Kollegin, mit Muriel, vom Flughafen John F. Kennedy aus ein Taxi genommen, um über die Williamsburg Bridge zum ersten Mal in ihrem Leben nach Manhattan zu fahren, drei Stunden Zeit. Sie seien am Times Square gewesen, vor der New York Public Library, im Grand Central Terminal und im Central Park, noch immer spüre sie Spannung, vermutlich könne sie nicht schlafen. — stop
brooklyn : zur zeit der fliederblüte
sierra : 2.10 — Man stelle sich das einmal vor, wie man an einem warmen Frühlingstag in Brooklyn durch den Prospect Park spaziert. Gerade ist die Zeit der Fliederblüte angebrochen, die Bäume duften weit in die Straßen hinein, Möwen fliegen im Park herum, obwohl sie eigentlich niemals die Innenseite der Stadt besuchen, es ist eben ein besonderer Tag in einem nächsten Jahr. Und wie wir so im Park spazieren, meinen wir zu bemerken, dass das Licht ein anderes Licht ist, als noch vor Monaten, als wir zuletzt an diesem wunderbaren Ort ein paar Stunden Zeit verbrachten, um Waschbären zu zählen vielleicht, oder Eichhörnchen, Tauben, Menschen, diese Freude, jawohl, an der Zählung der Welt, an der Beobachtung der Farben. Heut aber ist das Licht ein anderes Licht geworden, noch immer oder wieder Sonne, aber auch ein seltsamer Schatten, keiner der Wolkenschatten, die immerzu von Licht durchsetzt gewesen sind, sondern ein Schatten, der energisch ist, der das Gleichgewicht des Lichtes in der Weite des Parks zu verändern scheint. Noch haben wir nicht zum Himmel geschaut, sondern uns nur gewundert, dass das Licht ein anderes Licht ist, ein Lichtgefühl, das sich grundsätzlich änderte, das könnte sein, ein merkwürdig blaues Licht, das auf den Blättern der Bäume flimmert, auf den Fellen der Eichhörnchen, im Gefieder der Tauben. Und da sehen wir, dass den Bäumen, den Eichhörnchentieren, den Tauben ihre Schatten fehlen, als wäre so etwas wie eine Sonnenfinsternis am Himmel aufgetreten. Höhe Caroll Street entdecken wir ein Tau, nein, ein metallenes Seil, das im Gestein fest verankert wurde, ein kräftiges Seil, das senkrecht aus dem Boden steigt, ein Seil, um welches sich weitere Seile aus dem Boden erheben. Gerade in dem Moment als wir dort am Ort der im Wiesenboden verankerten Seilstränge angekommen sind, beobachten wir eine metallene Seilbahnkabine, in welcher ein Mensch steht, der langsam himmelwärts schwebt. Wir folgen ihm mit unseren Blicken hinauf zu einem riesigen Fesselballon, an welchem statt eines Korbes, Gebäude von Holz befestigt sind. Das sind wunderbare, kleine Häuser, sie sind in den Farben der Nordländer gestrichen, in blau und gelb und grün und rot, eine Traube bunter Häuser, die über Fenster verfügen, dort, wo sich an Häusern Fenster immer befinden. Aber die Türen, die Türen sind in den Boden der Häuser eingelassen, das ist schon seltsam, diese Türen, die sich dort befinden, wo man die Häuser niemals sieht, weil sie auf dem Boden ruhen. Wir stehen ganz still und schauen hinauf, und wir wundern uns wie weit es da doch hinaufgeht, Menschen winken aus geöffneten Fenstern, sie sind sehr klein, ja, diese winkenden Wesen müssen unbedingt Menschen sein, an diesem wunderbar warmen Frühlingstag in Brooklyn im kommenden Jahr, einem Tag an dem Silbermöwen in fürchterlichen Rudeln vom Meer her in die Stadt gekommen sind. — stop