tango : 3.56 — An einem Sommertag gehe ich mit Tom spazieren. Er ist ein ziemlich großer, junger Mann, schlaksig, der, während er von seinen Erlebnissen im Präpariersaal erzählt, immer wieder einmal einen Stein oder ein Stück Holz vom Boden hebt, um es in den Fluss zu werfen. Da ist nämlich ein Fluss, Tom wollte am Fluss spazieren, ich ahne weshalb. Er scheint, indem er Steine wirft, genauer denken zu können. Hin und wieder läuft er in den Wald, der unseren Weg begleitet und bleibt für einige Minuten verschwunden. Er spricht sehr schnell, ich kann kaum folgen, er will mir deshalb noch einige Gedanken notieren, damit ich sie ausdrucken kann. Wenige Tage nach unserem Spaziergang kommt tatsächlich eine E‑Mail, eine sehr präzise Form der Beobachtung. Tom: > Ich versuche jetzt näher heranzugehen. Noch haben wir den 1. Tag. Wir haben mit der Präparation des Körpers begonnen. Wir haben die Körper auf den Tischen inspiziert, wir haben ein Leichenprotokoll angefertigt, Hautschnitte gesetzt. Sie sehen, wie wir uns über unsere Arbeitstische beugen. Vier von uns befinden sich auf der einen, vier auf der anderen Seite des Tisches. Jedem von uns wurde eine Position am Präparat zugeordnet. Ich habe die Nummer 6. Also arbeite ich zu diesem Zeitpunkt in der Höhe der Brust. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich Katharina. Von den Leichen steigt ein Dunst auf, den man nicht sehen kann, aber zu spüren bekommt. Unsere Augen sind gerötet. Das ist eine Situation, an die wir uns zunächst noch zu gewöhnen haben. Skalpelle, Pinzetten, Hände sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Wir könnten uns verletzen, deshalb halten wir unsere Werkzeuge, als würden wir Bleistifte führen. Wir zeichnen auf sehr engen Bahnen. Wir beginnen in der regio praesternalis. Dort haben die Hautschnitte des Assistenten Zugang erzeugt, dort können wir die Haut mit unseren Pinzetten aufnehmen und etwas vom Körper heben. Eine erste unsichere Bewegung. Wir spannen die Haut. Wir schneiden von der subcutis in Richtung der gespannten Haut, arbeiten von innen nach außen, arbeiten von medial nach lateral. Haben wir gesprochen? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich sehe, dass ich meine Hand bereits auf die Brust des Toten gestützt habe. Ich spüre die Erschütterungen, die durch die Bewegungen meiner Freunde in dem Körper hervorgerufen werden. Wenn ich mich aufrichte, um meinen Rücken zu entspannen, erkenne ich die Fortschritte meiner Arbeit. Ich habe ein Stück der Haut so weit vom Körper gelöst, dass ich es zurückklappen kann. Woran habe ich gedacht, in dieser ersten Stunde der Arbeit? Habe ich daran gedacht, dass ich begonnen habe, einen Leichnam zu zergliedern? Ich weiß es nicht! Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht leicht ist, ein Skalpell zu führen, als würde man damit schreiben. Ich kann Ihnen versichern, man geht nicht in die Tiefe, wenn man Haut präpariert. Man packt einen Körper aus. Eine wahre Geduldsprobe. Zentimeter um Zentimeter arbeitet man sich über die Oberfläche des Körpers voran. Erstaunlich, wie nah wir dem Leichnam nach zwei Stunden bereits gekommen sind. — stop
Aus der Wörtersammlung: stift
=
echo : 6.45 — h i r n b e c k e n
von den eisbriefen
kilimandscharo : 6.28 — Für ein oder zwei Minuten war ich wild entschlossen gewesen, ein Gründer zu werden, und zwar gestern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Briefkasten gelaufen, der nicht weit entfernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befestigt ist. Ein Eichhörnchen, natürlich, begleitete mich. Es war sehr kalt, und plötzlich habe ich wahrgenommen, dass ich, wenn es mir möglich wäre, gern Briefe von Eis verschicken würde, hauchdünne Blätter gefrorenen Wassers, die man in kühlende Kuverts stecken und in alle Welt verschicken könnte. Eine wunderbare Vorstellung nachgerade, wie ein Mensch, dem ich einen Eisbrief gesendet habe, in der Küche vor seinem Eisschrank sitzt und meinen Brief für Sekunden studiert, um ihn dann rasch wieder in die Kälte zurückzulegen, damit er nicht verschwindet in der warmen Luft. Ich sollte also bald einmal jene besonderen Eispapiere, ihre Fabriken und Läden erfinden, und Kuverts, und Briefkästen, die wie Kühlschränke funktionieren. Wo man die Briefe sortiert, in einem Postamt, würde man in tiefgekühlten Räumen arbeiten, und alle diese Automobile, nicht wahr, die vereiste Briefware über das Land befördern. Ein Unternehmen dieser Art, wäre eine wirkliche Herausforderung, eine gute und sehr verrückte Sache, so dachte ich am gestrigen Abend. Kaum war ich wieder in meine Wohnung zurückgekehrt, war aus der Gründerzeit bereits eine Erfinderzeit geworden. Und wie ich in diesem Augenblick voller Freude im polaren Zimmer vor meinem Schreibtisch sitze, dampfender Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hörbaren Pfeifen Zeichen in schimmernde Eispapierbögen fräst. Ich schreibe: Mein lieber Theodor, ich wollte Dir schon lange einmal einen Eisbrief notieren. Hier nun, wie versprochen, ist er endlich bei Dir angekommen. Ich hoffe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir aufgeschrieben habe, dass ich nämlich den Wunsch habe, bald einmal zwei oder drei Tage zu schweigen, um den Kopfstimmen stummer Menschen nachzuspüren. Ich könnte mich kurz vor Beginn meiner Stille verabschieden von Freunden: Bin telefonisch nicht erreichbar! Oder einen Notizblock besorgen, um Fragen für den Alltag zu verzeichnen, sagen wir so: Führen sie in ihrem Sortiment Hörgeräte für Engelwesen fingergroß? Eine Kärtchensammlung zu erwartender Wiederholungssätze weiterhin: Habe vorübergehend mein Tonvermögen verloren! – Es ist eine angenehme Nacht, lieber Theodor. Ich erinnerte einen Satz René Chars, den er in seiner Gedichtsammlung »Lob einer Verdächtigen” notierte. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangsarten mit dem Leben: entweder man träume es oder man erfülle es. In beiden Fällen sei man richtungslos unter dem Sturz des Tages, und grob behandelt, Seidenherz mit Herz ohne Sturmglocke. Dein Louis, ganz herzlich! — stop
lufträume
bamako : 6.30 — Der Stuhl meines Vaters im Zimmer vor den Bäumen. Sobald ich mich setze, spüre ich seine Gegenwart, als wäre er gerade erst aufgestanden, um kurz in ein anderes Zimmer zu gehen. Genau dieser Ort, ja, dieser Raum, so viele Jahre, so viele Stunden lang hatte mein Vater an dieser Stelle verbracht, dass er nur sehr langsam weichen kann in der Wahrnehmung seines Sohnes. Da ist seine Schublade, sein Lichtmessgerät, sein Brieföffner, sein Radiergummi, sein Bleistift, seine Lupe, sein Fotoapparat. Und das hier ist seine Aussicht auf den winterlichen Garten, auf den Computerbildschirm, auf die Tastatur seiner Schreibmaschine, auf seine Lampe, die noch immer warmes Licht ins Zimmer sendet, Licht, das mein Vater sich wünschte. Es ist eine seltsame Erfahrung, dass sich mit den Spuren eines Menschen spürbare Gegenwart verbindet. Das Geräusch einer Zeitung, die raschelt. Eine Tür, die sich öffnet. Vor wenigen Tagen noch hörte ich meine Mutter davon erzählen, wie sehr ihr mein Vater fehle. Und weil die Worte nicht ausreichten, dieses Fehlen zu beschreiben, machte sie eine sehnende Geste, als würde sie einen unsichtbaren Mann umarmen, einen Raum, der nur noch Erinnerung ist, einen Raum, der weder mit Händen noch Lippen berührt werden kann. — stop
die schrift meines vaters
nordpol : 7.05 — Dass mein Vater älter wurde und müde, war seiner Schrift deutlich anzusehen. Die Buchstaben wurden kleiner, manche standen senkrecht, andere neigten sich einer unsichtbaren Linie zu, auf der sie sich wortweise vorwärts bewegten. Ich könnte sagen, die Schrift meines Vaters wirkte so, als wäre ein Sturm seitwärts über sie hinweggefahren, zerzaust, und doch waren alle notwendigen Buchstaben für jedes der Wörter, die mein Vater geschrieben hatte, gesetzt. Er notierte zuletzt gerne mithilfe der Tastatur seiner Computermaschine, das war nicht so anstrengend, er vermochte die Größe der Zeichen zu variieren, sodass er sehen konnte, was er gerade auf den Bildschirm brachte. Einmal musste mein Vater einen Brief unterzeichnen, es war ein Oktobertag, mein Vater wartete lange Zeit vor dem Papier, das auf dem Tisch vor ihm ruhte, hielt den Stift, den man ihm gereicht hatte, in der Hand, betrachtete diesen Stift, drehte ihn zwischen den Fingern, er zögerte den Moment hinaus, da er mit der Aufzeichnung seines Namens beginnen würde. In diesem Moment ahnte ich, dass mein Vater seinen Namen malen würde, dass seine nicht bewusste Signatur, die ein Leben lang gültig gewesen war, nicht länger zu existieren schien, oder dass er unter den Augen eines Beobachters sich nicht länger traute, seine ureigene Signatur auszuführen. Ja, mein Vater fürchtete sich, weil der Wind der vergehenden Zeit seine Schrift erfasste. Sie war einmal eine akkurate Schrift gewesen, eine Schrift wie gedruckt, sie notierte komplizierte mathematische Formeln, ohne je ihre Fassung auf den Papieren zu verlieren. Als Junge beschloss ich, diese Geheimschrift der Zahlen und Wörter zu entschlüsseln, bis sie noch vor meinem Vater selbst zu verschwinden begann. Zurückgeblieben sind nun seine Stifte in einer Schublade: Kugelschreiber, Füllfederhalter, Bleistifte, Buntstifte, auch ein Werkzeug, mit dem man in weißer Farbe notieren kann, vielleicht um zu korrigieren, vielleicht um Nichtsichtbares auf das Papier zu setzen. — stop
luftholen
tango : 3.55 — Aus guten Gründen wieder einen Selbstversuch im Atmen oder Nichtatmen unternommen. Ich saß zur Vorsicht auf meinem Sofa, in der linken Hand eine Uhr mit Sekundenzeiger, in der rechten Hand ein Bleistift, mit welchem ich Striche auf ein Blatt Papier zeichnete, je einen Strich für 60 Sekunden Zeit, ohne Atem geholt zu haben. Von 2 Uhr bis 2 Uhr 30 habe ich mir nun die Berechtigung für 16 Strichzeichen dieser Bedeutung erarbeitet. Demzufolge habe ich innerhalb eines Zeitraumes von 30 Minuten 16 Minuten nicht geatmet, also von Luftreserven gelebt. Folgende Erfahrung: Zu Beginn jeder Atempause konnte ich denken, was ich wollte. Aber bereits nach 30 Sekunden willentlichen Atemstillstandes wurde aus der Weite ein Flaschenhals. — Das Wort Luftholen ist ein faszinierendes Geräusch. — stop
westbengalen luftpostbrief
ginkgo : 2.25 — Gestern habe ich einen seltsamen Brief von einem Freund erhalten, der sich gerade in Indien befindet. Der Brief war von seiner äußeren Gestalt her ein Standardluftpostbrief, fühlte sich allerdings weich an, als würde ein dünnes Tuch in ihm enthalten sein. Er war zudem etwas schwerer als üblich. Als ich ihn öffnete, fand ich ein handschriftliches Schreiben vor, eine Fotografie und einen weiteren Brief von kleinerem Format, mit einer Art Ventil in seiner Mitte. Mein Freund notierte am 25. Juni mit einem Bleistift: Lieber Louis, seit zwei Wochen befinde ich mich in Westbengalen nahe Sonada in einem kleinen Haus, das vollständig von Holz gemacht ist. Ich gehe hauptsächlich spazieren und wenn ich einmal nicht spazieren gehe, fahre ich mit dem Zug zwischen Jalpaiguri und Darjeeling hin und her. Eine wunderbare Zeit. Ich kenne inzwischen alle Zugführer persönlich und so darf ich bei Dampfbespannung vorn auf der Lokomotive reisen. Du siehst mich anbei auf der Fotografie vor dem Kessel stehen, ja, ich bin unter den drei kleinen Männern mit den Rußgesichtern der in der Mitte. Ich habe Dir, lieber Louis, etwas indische Eisenbahnluft eingefangen. Sie ruht in den Umschlag gefüllt, der vermutlich vor Dir auf dem Tisch liegt. Es wäre vielleicht am besten, wenn Du einen Strohhalm verwenden würdest, den Du mit dem Ventil verbindest, um dann einen tiefen Atemzug durch ein Nasenloch zu nehmen. Allerbeste Grüße Dein L. — Es ist jetzt 2 Uhr und 30 Minuten mitteleuropäischer Sommerszeit. John Coltrane LIVE: The Green Dolphin Street. — stop
vom rechnen
echo : 6.57 — Als Kind beobachtete ich meinen Vater manchmal, wenn er schlief. Aber eigentlich schlief mein Vater damals nie, weil ich glaubte, dass mein Vater, sobald er seine Augen schloss, zu rechnen begann. Das waren komplizierte Prozeduren der Algebra, weswegen mein Vater für viele Stunden seine Augen nicht wieder öffnen konnte. Er lag ganz still rechnend auf dem Sofa im Wohnzimmer, vor allem an Sonntagnachmittagen oder an Wochentagen abends. Meistens hatte er zum Rechnen seine Schuhe ausgezogen. Ich erinnere mich an graue oder schwarze Strümpfe, die sich ein wenig bewegten. Natürlich rechnete mein Vater auch dann, wenn er wieder wach geworden war. Er besaß eine Handcomputermaschine von Texas Instruments, die über Leuchtschrift verfügte in roter Farbe, kleine Zeichen, die sich arbeitend so schnell bewegten, dass sie unbewegten Kreisen ähnlich wurden. Wenn mein Vater mit dieser Maschine rechnete, machte er sich Notizen mittels eines Bleistiftes auf kariertes Papier. Das schien sehr viel mühsamer zu sein, als mit geschlossenen Augen auf dem Sofa zu liegen, weil man sich in dieser Weise Notizen machen musste. Wenn ich wie mein Vater sein wollte, legte ich mich auf mein Bett und machte die Augen zu. Damals war bereits deutlich geworden, dass ich kein guter Mathematiker werden würde. Anstatt zu rechnen, träumte ich. Ich träumte vielleicht davon, dass ich nicht rechnen konnte. Gestern habe ich von etwas anderem geträumt. Ich habe geträumt, wie ich die Augenlider meines Vaters wenige Minuten nachdem er gestorben war mit zitternden Händen berührte. — stop
eine geschichte die mein vater einmal las
nordpol : 6.46 — An einem Sonntag neulich habe ich in Texten gelesen, die ich während der vergangenen Jahre an genau dieser Stelle sendete. Manche dieser Texte waren mir vertraut, andere wirkten, als wären sie von einem Fremden geschrieben. Gemein war ihnen, dass mein Vater sie noch mit eigenen Augen gelesen haben könnte. Wie der alte Mann zu seinem Computer wandert. Wie er auf einer Treppe steht, Rede an sein linkes Bein: Beweg Dich! Einmal rief mein Vater mich an. Ein Text hatte ihm gefallen. Es ist eigenartig, der Text, der meinem Vater gefallen hatte, erzählt heute noch immer dieselbe Geschichte und doch ist alles ganz anders geworden. Ich hatte Folgendes notiert: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht sind oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, so dass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist sehr gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf. — stop
handohren
~ : oe som
to : louis
subject : HANDOHREN
date : may 27 12 3.05 a.m.
Lieber Louis, Mitternacht ist längst vorüber. Ich bin ruhig, aber ich kann nicht schlafen. Seit Tagen geht das so mit mir, dass ich die Augen schließe und doch wach liege, zumindest nicht wirklich auf die andere Seite gelange. Ich spüre wie sich das Schiff auf und ab bewegt, manchmal erhebe ich mich und gehe spazieren an Deck, oder ich besuche Lin, die sich für den Monat Mai in Nachtschicht befindet. Seit drei Tragen sitzt sie in der Werkstatt an der Übertragung des Romans Molloy von Samuel Beckett. Ich darf ihr zusehen, wie sie Zeichen für Zeichen aus dem papierenen Buch kopiert, eine geschmeidige Bewegung, sie schreibt, ohne ihren Blick auf den Stift zu richten. Jedes Wort, das sie in Angriff nimmt, wird zunächst in den Raum geflüstert: Wachtelkönig. Als ob sie eine Anweisung geben würde, als ob ihre schreibende Hand über geheime Ohren verfügte. Ich wünschte mir, ich könnte ihre Hände einmal eingehend untersuchen, einen Bericht schreiben über die Entdeckung der Handohren kurz nach Mitternacht auf einem Schiff vor Neufundland. Eigentlich, lieber Louis, wollte ich Dir von meinem ersten Besuch bei Noe in der Tiefe berichten, was ich dort gesehen habe, seine Augen wie sie meine Augen betrachteten durch das Panzerglas. Ich denke, ich bin noch nicht so weit. Ich werde Dir ausführlich notieren, sobald ich einmal eine Nacht durchgeschlafen habe. Es ist möglich, dass ich das Tauchen nicht vertrage oder Noe’s hellen Blick vielleicht, der mich verfolgt, ich gebe das zu, Noe’s Blick verfolgt mich. Manchmal denke ich, dass nicht richtig ist, was wir tun. Gute Nacht! Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
27.05.2012
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