india : 20.56 — Eine Libelle gegen den Abend zu, marineblau, die sich nahe meiner Nase in die Luft setze. Bald eine Viertelstunde betrachtete sie mich oder schlief, während ich einen Roman beobachtete und doch zugleich an entfernte Dinge dachte, an eine Mondlandung vor vierzig Jahren zum Beispiel, und an die Nachricht, das durchschnittliche Alter der Besatzung des Flugzeugträgers USS Harry S. Truman, dessen Cruise-Missiles Bagdad bombardierten, habe 19 Jahre betragen. Und da war noch ein anderes, ein wärmendes Bild in meinem lesenden Kopf, von dem ich gestern noch während eines Spazierganges in einer Weise erzählte, als wäre ich leibhaftig in nächster Nähe gewesen, als auf hoher See der Rüssel eines Tiefseeelefanten den Schrei einer Möwe derart lustvoll imitierte, dass tatsächliche Möwen, ein Schwarm, aus dem heiterem Himmel stürzten. — Ein lachender Mund, der sich langsam näherte. — Ein Raumschiff. — Wie alle Geschichten plötzlich endeten und auch die Zeit. — stop
Aus der Wörtersammlung: stunde
sleeping
sierra : 0.02 — Kurz nach Mitternacht, das Ende eines federleichten Tages, an dem ich, gegen den Morgen zu, eine feine Geschichte erlebte. Das war nämlich so gewesen, dass meine Hand, meine rechte Hand, während ich schlief, das Bett verlassen hatte. Sie schwebte, indem ich träumte, von einem Gewitter angerufen worden zu sein, fast bewegungslos über dem Boden und wurde in dieser Haltung nach einer Erinnerung zärtlich fotografiert, weil ich vor einigen Monaten notiert hatte, dass ich, wenn ich sage: meine schlafenden Hände, von Händen spreche, die ich nie gesehen habe. Dieser Satz ist nun natürlich nicht ganz unwahr geworden, weil ich immerhin noch keine Ahnung habe, wie meine linke Hand aussehen könnte, während sie schläft. Außerdem habe ich meine schlummernde Hand nicht selbst gesehen, mit eigenen Augen, wahrhaftig, in echter Zeit, sondern verzögert und durch das Auge einer Kamera gebändigt. — stop
zeichentiere
ulysses : 5.15 — Das suchende Lernen chinesischer Schrift. Wie ich gestern in Gewitterstunden lächelnd beobachtet wurde, weil ich sagte: Die Zeichen Deiner Sprache erinnern mich an Darstellungen der anatomischen Welt, an Skelette, an Wesen, die ich leichter Hand erfinde, um das eine Zeichen, von dem anderen Zeichen unterscheiden zu können. Habe in dieser Weise eine Säbelzahntigerschnecke in meinen Kopf aufgenommen, einen achtarmigen Klammeraffen, eine Doppelkopfameise. Das Formulieren bald ganzer Sätze, jubelnde Zoologie. Guten Morgen! — stop
von der hölle von der hoffnung
tango : 1.17 — Ein Freund erzählt von Nächten, die er vor 30 Jahren in den gefährlich gewordenen Straßen und auf den Dächern über der Stadt Isfahan verbrachte. Das Rufen tausender Stimmen: Allah-o-Akbar. Wir haben das erfunden, um den Schah zu vertreiben, auch ältere Menschen konnten sich in dieser Weise bemerkbar machen. Wir kämpften für Demokratie, hörten BBC, um herauszufinden, ob irgendjemand wahrnimmt, was mit uns geschieht. Kannst Du verstehen, wie ich mich jetzt fühle? — Furchtbar wurden sie betrogen, eine Generation im Exil. – Kurz nach Mitternacht. Fereshteh Ghazi, junge Journalistin, notiert: Tonight, like past nights, the chants of “Allah-o-Akbar” were heard on roof tops of Tehran & other cities. Seit Tagen schreibt sie sich die Finger wund. Persiankiwi aber, dessen Zeichen ich viele Stunden lang auf dem Bildschirm erwartete, ist verstummt. Vorgestern noch Zeilen auf Twitter folgende: > just in from Baharestan Sq — situation today is terrible — they beat the ppls like animals 3:34 PM Jun 24th I see many ppl with broken arms/legs/heads — blood everywhere — pepper gas like war 3:35 PM Jun 24th
they were waiting for us — they all have guns and riot uniforms — it was like a mouse trap — ppl being shot like animals 3:53 PM Jun 24th saw 7/8 militia beating one woman with baton on ground — she had no defense nothing — sure that she is dead 3:55 PM Jun 24th so many ppl arrested — young & old — they take ppl away — we lose our group 3:59 PM Jun 24th ppl run into alleys and militia standing there waiting — from 2 sides they attack ppl in middle of alleys 4:01 PM Jun 24th all shops was closed — nowhere to go — they follow ppls with helicopters — smoke and fire is everywhere 4:03 PM Jun 24th phone line was cut and we lost internet — getting more difficult to log into net 5:05 PM Jun rumour they are tracking high use of phone lines to find internet users — must move from here now 5:09 PM Jun 24th reports of street fighting in Vanak Sq, Tajrish sq, Azadi Sq — now — Sea of Green — Allah Akbar 5:14 PM Jun 24th in Baharestan we saw militia with axe choping ppl like meat — blood everywhere — like butcher — Allah Akbar — 5:16 PM Jun 24th they catch ppl with mobile — so many killed today — so many injured — Allah Akbar — they take one of us — 5:18 PM Jun 24th Lalezar Sq is same as Baharestan — unbelevable — ppls murdered everywhere — 5:19 PM Jun 24th they pull away the dead into trucks — like factory — no human can do this — we beg Allah for save us — 5:23 PM Jun 24th Everybody is under arrest & cant move — Mousavi — Karroubi even rumour Khatami is in house guard — 5:28 PM Jun 24th we must go — dont know when we can get internet — they take 1 of us, they will torture and get names — now we must move fast — 5:34 PM Jun 24th thank you ppls 4 supporting Sea of Green — pls remember always our martyrs — Allah Akbar — Allah Akbar — Allah Akbar 5:36 PM Jun 24th Allah — you are the creator of all and all must return to you — Allah Akbar 5:39 PM Jun 24th — stop
absent
romeo : 3.15 — Kühle Luft, leichter Regen, herbstliche Stimmung. Wie immer, wenn ich zerstreut bin, in einem Abenteuerbuch gelesen. Folgende Stelle in H.G. Wells’ Roman Die Insel des Dr. Moreau: Mein Onkel verschwand auf etwa 5° südlicher Breite und 105° westlicher Länge aus den Augen der Menschen, und er erschien nach elf Monaten in derselben Gegend des Ozeans wieder. Während der Zwischenzeit muss er auf irgendeine Weise gelebt haben. In dem Moment, als ich diese Zeilen passierte, wie aus heiterem Himmel ein merkwürdiges Gefühl der Unwirklichkeit, als ob ich diese Nacht, das Buch, den Stuhl, auf dem ich saß, nur träumte, auch mich selbst träumte, wie ich las, die Bilder Menschen jagender Motorradfahrer und die Nachricht im Kopf, ein Rat mächtiger, religiöser Wächter habe gestern noch, am Ende einer anderen Nacht, bestätigt, im Iran seien drei Millionen Stimmzettel nicht existierender Wähler zu verzeichnen. — Wohin ist diese Nachricht geflohen? — Wann wird sie wieder zu uns kommen? — Wo hält sie sich auf in den Zeiten der Abwesenheit? — Wie viele Menschen sind in den vergangenen Stunden kühlen Regens spurlos aus ihren Häusern oder aus Hospitälern der Stadt Teheran verschwunden? — stop
sahara/ahorn
himalaya : 1.28 — 1 halbe Stunde im Googleflugzeug über die Sahara auf dem Bildschirm. Leuchtende, türkisfarbene Flächen, ausgedehnte, sandfarbene Ebenen, und Berge, die rot sind, als würden an ihren Hängen Ahornhaine blühen. Da und dort Spuren menschlicher Siedlungen, gewürfelte Kerne. Pisten der Automobile erscheinen in der Stärke eines Haares. Etwas Wüstensand, von glühenden Winden himmelwärts getragen. Korallenstäube. Vipernhaut. Kamelknochengesteine. Zeitfermente. So sichtbar wie denkbar. — Was sehe ich noch in diesen Stunden? — stop
Persiankiwi
romeo : 6.15 — Atemlos auf Twitterchannel stundenlang PersianKiwi’s <140 Zeichenbotschaften aus Teheran beobachtet: I am online for few minutes. total communication blackout here. gov panicking. very dangerous. mobile phones down. sms, outage, facebook and all news channels out. / unconfirmed but people saying may killed last night. / country is at standstill. like war time. people confused, frightened. reports that militia carrying live ammunition to kill. / have seen my inbox. thank you all for support. please help us by pressure. keep us in news please dont forget. / people trying to gather for march. roads blocked everwhere. / have no news of tehran uni dorm. rumours that many killed and remainder arrested. / i am now at a friends house. trying to get in to uni dorm area. all roads blocked, / gov spreading rumous that mach cancelled. that is not true. WE MARCH AT 4pm. / almost no mobile phone coverage in city. landlines working but cannot access mobiles. they are frightened. / please tell all — march is NOT CANCELLED today. Mousavi is in danger of being killed. / people saying that army is split. people talking of coup. unconfirmed. we need army on our side. / I am being told that many gathering at haram Imam Khomeini for march. gov cannot kill us there. but roads closed. / internet connection v/bad. just heard that tehran uni dorm under seige. students barricaded inside. »>
murmansk
romeo : 0.15 — Ich war im Zug gestern Abend in Murmansk gewesen. Am Hafen saß ich, und das Eis auf dem sich sanft bewegendem Meer schindelte zu meinen Füßen. Ein rostiges U‑Boot war da noch und junge Matrosen, sie spielten mit Äpfeln und winkten. Indem ich so wartete und die Geräusche des Eises und die Stimmen der Seeleute bewunderte, flatterten Kolibris um meinen Kopf herum. Sie trugen winzige Pelzmützen und Pelzjacken und ihre Flügel brummten in der glasklaren Luft nordischer Mittagsstunde. Dann wachte ich auf, fuhr in einer Straßenbahn spazieren, öffnete meinen Koffer und schon ist Mitternacht geworden. Ob ich vielleicht noch immer schlafe, noch immer träume? — stop
siatista
ulysses : 15.02 — Nördliches Griechenland. Karge Landschaft. Man erzählte mir von Siatista, dort sollen Wölfe leben in den Bergen, aus welchen die Steine der Häuser der kleinen Stadt geschlagen sind. Im Winter fällt Schnee und bleibt liegen. Dann kommen die Wölfe näher heran, sind zu hören in den Nächten, ihr heulendes Gespräch. Alt sind sie, uralt wie die Menschen in dieser Gegend, die sich widersetzen, wenn ihre letzte Stunde gekommen ist, leben sie einfach weiter. Sobald ein Winter endet und die Berge blühen für eine kurze Zeit in allen Farben, die man sich nur vorstellen kann, liegt eine junge Frau auf einer Wiese herum. Diese Wiese ist weiß von den Körben der Kamille, eine Wiese, die die Gestalt der jungen Frau erinnert, wie sie auf dem Rücken liegt, immer an derselben Stelle in den Himmel schaut und glaubt über ein Eismeer zu fliegen. Wenn man sie besuchen, wenn man sich neben sie legen würde, könnte man Geschichten hören, die sie mit tiefer Stimme sogleich erzählen wird. Dass sie blau war zum Beispiel, ein blau häutiges Kind, dass sie nicht atmen konnte in der ersten Stunde ihres Lebens, dass man sie mit Luft, anstatt mit Wasser taufte, weil man glaubte, sie werde ihre zweite Lebensstunde nicht betreten. Dass sie sich im Alter von vier Jahren im Schnee verirrte, dass zwei Wölfinnen sie wärmten für eine Nacht, bis man sie fand. Dass sie eine Partisanentochter sei, dass sie mit den Schildkröten sprechen könne und den Schlangen, den Faltern, den Fliegen. Dann wird sie ein wenig schweigen und eine Handvoll Akazienblüten reichen, sie schmeckten vorzüglich, man müsse sie sich auf die Zunge legen und warten, bis sie schmelzen. Jetzt liegt die junge Frau wieder auf dem Rücken zum Eismeer hin, erzählt weiter, erzählt von den langen Wegen im Winter zur Schule und dass sie ein Jahr zurück das erste Mal das Meer gesehen habe. Ein großer Frieden. Ihre Stimme, die so seltsam tief ist. Das Brummen dreihundert Jahre alter Insekten. Auch Wölfe fressen weiße Blüten. — stop
licht
india : 10.02 — Da war ein Buch vor langer Zeit, ein Buch, das Thomas Alva Edisons Leben erzählte. In diesem Buch, ich seh das noch genau vor mir, wurde das elektrische Licht erfunden. Zunächst machte man einen gläsernen Behälter, der glühte und flüssig war und heiß, denn die Männer, die an ihm arbeiteten, trugen kräftige Handschuhe, auch ihre Gesichter waren mit Tüchern verbunden. Man konnte das Glas, so flüssig war es unter dem Feuer geworden, wie heiße Schokolade von einer Tasse in eine andere gießen. Ich habe diese Zeichnung als Junge stundenlang betrachtet und erzählt, was dort für mich zu sehen war. Seither ist alles Licht, vor allem dann, wenn es warm, goldfarben, ja, wenn es sichtbar ist, flüssig und von Schokolade.