Aus der Wörtersammlung: stunden

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time

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tan­go : 22.01 — Ein­mal, viel­leicht auf Papie­ren, eine Stadt äußerst lang­sa­mer Men­schen besu­chen, eine Stadt, deren Bür­ger sich unter rasen­den Vögeln, rasen­den Wol­ken, rasen­den Stra­ßen­bah­nen, wie in Zeit­lu­pe bewe­gen. Jeder Gedan­ke dort ein Stun­den­ge­dan­ke, die Stim­men der Men­schen, sono­re Lini­en, ich selbst kaum noch sicht­bar, Augen, Arme, Mund, Unschär­fen der Luft. — stop

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PRÄPARIERSAAL : nachtzeit

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india : 20.18 — Regen. Schnü­re von Regen. Däm­me­rung heu­te bereits gegen 18 Uhr. Seit drei Stun­den höre ich Ton­band­auf­nah­men ab, Stim­men, die prä­zi­se for­mu­lie­rend vom Prä­pa­rier­saal und sei­ner Umge­bung erzäh­len. Immer wie­der hal­te ich die Maschi­ne an, schrei­be auf, was ich hör­te, stemp­le Zeit­an­ga­ben. Chris­to­pher kurz vor acht Uhr über sei­ne Erfah­rung jen­seits der Tage: > Was ich nachts gemacht habe? Mei­ne Freun­din sagt, ich wür­de in latei­ni­scher Spra­che mit ihr gespro­chen haben : pau­se 2 sec : Viel­leicht habe ich etwas mimi­sche Mus­ku­la­tur repe­tiert. Mus­cu­lus fron­ta­lis. Mus­cu­lus cor­ru­ga­tor super­ci­lii. Mus­cu­lus orbicu­la­ris ocu­li. Das war eine sehr wich­ti­ge Nacht­ar­beit, die ich da ver­rich­tet habe, ver­ste­hen Sie? Ich hat­te Schwie­rig­kei­ten die­se fremd­ar­ti­gen Wör­ter aus­zu­spre­chen. Wie soll­te ich sie im Kopf behal­ten, wenn ich sie nicht spre­chen konn­te! : pau­se 3 sec : Ich habe also nachts nicht wirk­lich geträumt, son­dern nur Sprech­übun­gen gemacht. : pau­se 5 sec : Auch dann, wenn ich wach war, das kön­nen Sie mir glau­ben, habe ich Wör­ter geübt. : pau­se 4 sec : Das Wort Lei­che woll­te ich nicht aus­spre­chen. Ich habe immer von Kör­pern gespro­chen. : pau­se 3 sec : In den ers­ten Tagen manch­mal, sobald ich den Prä­pa­rier­saal betre­ten habe, hat­te ich den Ein­druck einer gewis­sen Unwirk­lich­keit der Situa­ti­on. Ich hat­te den Ein­druck, jene toten Men­schen ver­kör­per­ten nur eine Vor­stel­lung, als hät­te man sie für uns her­ge­stellt, orga­ni­sche Aus­stel­lungs­räu­me, mit Erde bezeich­ne­te Lehm­kör­per. Auch wenn das viel­leicht selt­sam klin­gen mag, die ers­te Berüh­rung des Kör­pers auf dem Tisch war eine Bewe­gung, die der Ver­ge­wis­se­rung dien­te, dass der Kör­per vor mir auf dem Tisch wirk­lich anwe­send war. : pau­se 2 sec : Kör­per also. Sie boten mei­nen Hän­den Wider­stand. Sie waren kühl und sie wirk­ten zeit­los. — stop
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segelohren

14

 

 

india

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : SEGELOHREN

Lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let! Kühl ist die Luft gewor­den in den ver­gan­ge­nen Tagen. Als ob Herbst gewor­den sei, eine Luft vol­ler Regen und Wind. Auf der Stra­ße lau­fen Men­schen her­um, die haben sich Trop­fen­fän­ger unter ihre Nasen gebun­den, die wund sind und geschwol­len. Ich selbst noch wohl­auf, was viel­leicht dar­in begrün­det sein könn­te, dass ich bereits jetzt schon kräf­ti­ge Wan­der­schu­he tra­ge für den kom­men­den Win­ter in New York. Will Euch eine Geschich­te notie­ren, an die­sem schö­nen, nas­sen Sonn­tag, die ich tat­säch­lich genau­so erlebt habe, wie ich sie erzäh­le, ob Ihr mir nun glau­ben wer­det oder nicht. Stellt Euch ein geräu­mi­ges Zim­mer vor. Ein gutes Dut­zend Ohren pro­pel­ler­ten dort durch die Luft, sie waren Gäs­ten ent­kom­men, die in nächs­ter Nähe eines Rund­funk­emp­fän­gers Platz genom­men hat­ten, um Ella Fitz­ge­rald zu lau­schen: It Don’t Mean a Thing If It Ain’t Got That Swing. Ein merk­wür­di­ger Anblick war das gewe­sen, bald lagen kämp­fen­de Ohren in Schich­ten über zwei Laut­spre­chern des Radi­os, wie Foot­ball­spie­ler, sagen wir, eine ran­geln­de Ban­de zwit­schern­der Ohren, sodass in dem Zim­mer der Ver­samm­lung vom Kon­zert kaum noch etwas zu hören gewe­sen war, als die­se Geräu­sche des Kamp­fes. Man kämpf­te auch dann noch ver­bis­sen wei­ter, als das Radio längst aus­ge­schal­tet wor­den war, ver­mut­lich des­halb, weil man mein­te, die nun auf­tre­ten­de Stil­le sei nicht wirk­lich vor­han­den. Ich habe drei Stun­den in der Beob­ach­tung des Tumul­tes zuge­bracht. Dann bin ich nach Hau­se zurück ohne mei­ne Ohren. Seit­her war­te ich gera­de­zu taub gewor­den auf ihre Rück­kehr. Bis bald ein­mal wie­der. Cuc­cur­ru­cu! – Euer Louis

gesen­det am
03.07.2011
20.05 MESZ
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lou­is to dai­sy and violet »

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schneebrille

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alpha : 22.03 — Aus der Luft, aus dem Nichts her­aus, Gedan­ken, von Sekun­den­räu­men her, die sich unmit­tel­bar vor dem Zeit­punkt ihrer Wahr­neh­mung befin­den. Ob es über­haupt mög­lich sein kann, einen Gedan­ken erfin­dend zu kon­stru­ie­ren? Das Wort S c h n e e b r i l l e in die­sem Moment, viel­leicht des­halb, weil ich vor Stun­den notier­te: Win­ter­pen­del­fahrt auf Sta­ten Island Fer­ry. stop. Obe­res Deck. stop. Fes­te Schu­he. stop. Penn­sta­ti­on ab: 7.49 am. stop. Montauk an: 10.52 am. stop. Strand­spa­zier­gang. - stop
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zimmer 202

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sier­ra : 18.15 — Ich kann ohne Geräu­sche nicht schla­fen. Ich ver­ste­he die Leu­te nicht, die ein ruhi­ges Zim­mer wol­len. Ich will ja nicht ster­ben, ich will ja nur schla­fen. Ich mag mensch­li­che Geräu­sche. Lie­ber Press­luft­häm­mer, als tota­le Stil­le. Ich kann auch zu Hau­se stun­den­lang auf Kurz­wel­le irgend­ei­ne Fremd­spra­che hören, so als Back­ground. Das ist mit auch ein Grund dafür, dass ich viel in Eisen­bah­nen geschrie­ben habe, weil ich Geräu­sche brau­che. Ich muss einen Rhyth­mus hören. — Peter Bich­sel in der 58. Minu­te des Doku­men­tar­films Zim­mer 202 : Peter Bich­sel in Paris — stop
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lampion

pic

marim­ba : 2.27 — Man könn­te viel­leicht sagen, dass es sich bei der Gat­tung der Lam­pion­kä­fer um Geschöp­fe han­delt, die bevor­zugt nach innen aus­ge­dacht wor­den sind, wes­halb man an ihrer äuße­ren Gestalt spar­sam zu wir­ken wünsch­te. Man mach­te ihnen Flü­gel, sehr klei­ne, kaum noch sicht­ba­re Flü­gel, die kur­ze Stre­cken des Luft­rei­sens gestat­ten, spar­te dage­gen an Bei­nen, ver­gaß Augen und Füh­ler, auch Ohren sind an ihrem voll­kom­men run­den Kör­per bis­lang nicht zu ent­de­cken gewe­sen. Nie­mand könn­te zu die­sem Zeit­punkt also ernst­haft behaup­ten, an wel­cher Stel­le nun genau der Kopf, also das Vorn des Käfer­we­sens zu fin­den sein könn­te. Meis­tens lie­gen sie dem­zu­fol­ge bewe­gungs­los auf dem Boden her­um, schla­fen viel­leicht oder träu­men. Man kann sie dann leicht über­se­hen, weil sie sehr klein sind und fast licht­los auf den ers­ten Blick. Uner­kannt haben sie in die­ser beschei­de­nen Wei­se bis vor Kur­zem in den Wäl­dern des Kar­wen­del­ge­bir­ges nahe der Baum­gren­ze gelebt, bis ein Stein­samm­ler ihr Geheim­nis unlängst ent­deck­te, in dem er sich mit einem sehr fei­nen Boh­rer ins Inne­re eines der Käfer­kör­per vor­ar­bei­te­te. Lan­ge Stun­den des War­tens, des Küh­lens, des Ban­gens, dann späh­te der jun­ge For­scher in eine voll­stän­dig unbe­kann­te Welt. Seit­her fehlt ihm jede Spra­che. Die Augen weit geöff­net, scheint er zu suchen, nach Sät­zen viel­leicht, nach Wör­tern, nach ange­mes­se­nen Geräu­schen der Bewun­de­rung, der Aner­ken­nung. — Was bleibt noch zu bemer­ken? — Sie sum­men wie die Bie­nen, sobald sie fliegen.

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ohren gebraten

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tan­go

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : OHREN

In der ver­gan­ge­nen Nacht hab ich von Euch geträumt. Hört zu! Wir spa­zier­ten am Atlan­tik an einem frü­hen Abend in der Däm­me­rung. Schnee war gefal­len. Eis schin­del­te in der Bucht vor Coney Island, ein ver­rück­tes Geräusch, eines, das ich nicht beschrei­ben kann, viel­leicht weil das Geräusch so flüch­tig gewe­sen war, dass ich nichts fest­hal­ten konn­te von sei­ner Sub­stanz in mei­ner Erin­ne­rung, obwohl uns das Geräusch über Stun­den beglei­te­te. Ihr hat­tet rote Stie­fel an den Füßen und wart in Pel­ze gewi­ckelt, viel zu groß, sodass man Euch kaum noch sehen konn­te. Ein­mal wach­te ich auf, sah mich im Zim­mer um, schlief dann sofort wei­ter, weil ich Eue­re hel­len Stim­men noch hören konn­te. Ihr hat­tet Euch in der Nähe einer fahr­ba­ren Bude in den Schnee gesetzt. Feu­er fla­cker­ten in Fäs­sern. Unweit lag ein Wal­fisch im Was­ser ohne Haut. Über den Flam­men schau­kel­ten Pfan­nen, in wel­chen mensch­li­che Ohr­mu­scheln in der Hit­ze saus­ten. Das Kra­chen, das Knis­tern des knusp­ri­gen Flei­sches zwi­schen unse­ren Zäh­nen beglei­te­te mich durch den ver­gan­ge­nen Tag, der ein Tag gewe­sen war, da ich bald stünd­lich die Gegen­wart mei­ner Wach­oh­ren prüf­te. Nie zuvor habe ich mir vor­zu­stel­len ver­sucht, wie ich selbst oder mei­ne Ohren, – nein, das ist schon eine ganz ande­re Geschich­te, die ich Euch nur dann erzäh­len wer­de, wenn Ihr mir schrei­ben soll­tet, dass ihr sie unbe­dingt hören wollt. Euer Lou­is, gute Nacht!

gesen­det am
27.05.2011
8.48 MESZ
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lou­is to dai­sy and violet »

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unter apfelbäumen

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sier­ra : 5.12 — Wir ste­hen auf einem Bahn­steig und war­ten auf einen Zug. D. ist Leh­rer für Geo­gra­fie und Eng­lisch. Er spricht schnell, ich höre, wie er sagt, dass man ihn ein­mal im Alter von 17 Jah­ren an der Gren­ze zu Öster­reich fest­ge­hal­ten und wie­der nach Mün­chen zurück-geschickt habe. Das war im Jahr 1994 gewe­sen, er hat­te sich auf den Weg gemacht, sei­ne kroa­ti­sche Hei­mat zu ver­tei­di­gen. Er woll­te kämp­fen an der Sei­te sei­ner Schul­ka­me­ra­den, kämp­fen für die Frei­heit. Wäh­rend eines frü­he­ren Besu­ches hat­te er im Gar­ten sei­nes Eltern­hau­ses unter blü­hen­den Apfel­bäu­men Lei­chen gefun­den. Er habe die toten Men­schen, die kürz­lich noch gelebt hat­ten, sodass sie nicht tot sein konn­ten, alle per­sön­lich gekannt. Eine furcht­ba­re Erfah­rung. Das Prin­zip sei ein­fach gewe­sen. Zunächst habe die eine Sei­te Spe­zi­al­kräf­te in ein Dorf geschickt. Man habe im Hand­streich alle mensch­li­chen Lebe­we­sen, auch Rin­der und Vögel, umge­bracht. Weni­ge Stun­den oder Tage spä­ter habe die ande­re Sei­te Spe­zi­al­kräf­te in ein wei­te­res Dorf geschickt und man habe im Hand­streich Men­schen und Rin­der und Vögel umge­bracht. So war das gewe­sen, des­halb habe er, als er noch Schü­ler gewe­sen war, kämp­fen wol­len, mit einem Gewehr. Glück habe er gehabt, ver­damm­tes Glück. Er hät­te ums Leben kom­men kön­nen oder Schlim­me­res. — stop
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sarajevokoffer

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lima : 3.43 — Ein­mal für Stun­den nur, das gehei­me, schmer­zen­de Gepäck der Men­schen, die mir begeg­nen, wahr­neh­men zu kön­nen. Hoch auf­ra­gen­de Kopf­ge­fä­ße, stei­ner­ne Taschen, Ruck­sä­cke, Beu­tel, Fla­schen­gür­tel, Tru­hen, Hand­kar­ren. All das, gefüllt mit der Last der Erin­ne­rung. — stop

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eisfischer

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echo : 3.28 — Ein Film, der von einer Rei­se nach Nord­ko­rea erzähl­te. Dort für Stun­den geblie­ben, in kurio­sen Geschich­ten wei­te­rer Fil­me, Geschich­ten, die von schnee­kal­ten Biblio­the­ken erzähl­ten, von hung­ri­gen Eis­fi­schern, von Men­schen, die ihre Rei­sen durchs Land zu Fuß unter­neh­men, nachts sol­len die Städ­te Nord­ko­re­as stock­dun­kel sein. Da waren, kurz nach Mit­ter­nacht mei­ner euro­päi­schen Zeit, drei Arbei­ter, die an einem Fluss­ufer sich mit Schau­feln in die Erde gru­ben. Gleich neben ihnen war­te­te eine Frau, die sich kaum beweg­te, sie bewach­te die gra­ben­den Män­ner mit ihren Augen, wie ande­re Augen­paa­re Schnee räu­men­de Men­schen­ko­lon­nen beauf­sich­tig­ten, die eine Auto­bahn, auf der kei­ne Autos fuh­ren, vom Tages­eis befrei­ten. In einer Woh­nung saß eine älte­re Frau von äußerst freund­li­cher Erschei­nung, die vom Gas­krieg erzähl­te, den die Ame­ri­ka­ner ins Land tra­gen könn­ten, und dass sie selbst dafür zustän­dig sei, sobald sie das Gas ent­de­cken wür­de, Mas­ken an ihre Nach­barn im Haus aus­zu­tei­len. Der gro­ße Füh­rer. Das Land der Mor­gen­stil­le. Dampf­lo­ko­mo­ti­ven wer­den mit Rei­fen­res­ten beheizt. Unter der Haupt­stadt Pjöng­jang fah­ren Züge der Ber­li­ner Ver­kehrs­be­trie­be. In einer Vitri­ne im Muse­um im Inne­ren eines Ber­ges, der Kopf eines Bären, den noch Ceau­ses­cu geschos­sen haben soll. — stop
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