papa : 0.45 — Als ich gestern Abend den außergewöhnlichen Dokumentarfilm The Look of Silence betrachtete, ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Meine Schnecke Esmeralda stürzte nämlich aus 1 Meter Höhe von der Wand auf den Fußboden, woraufhin ich die Schnecke vorsichtig in die Hände nahm und nach möglichen Schäden suchte. Als ich die Schnecke kurz darauf wieder vor die Wand setzte, als Esmeralda nach weiteren 2 Minuten erneut von der Wand stürzte, stoppte ich den Film und überlegte, ob meine Schnecke möglicherweise krank geworden sein könnte. Indessen kletterte Esmeralda, wie unter einem Zwang, zum dritten Mal die Wand hinauf, dieses Mal jedoch fiel sie nicht auf den Boden zurück. Besorgt verfolgte ich ihre Bewegung mehrere Minuten lang, alles ging so lange gut, bis ich die Betrachtung des Filmes fortsetzte. Nach einigen weiteren Versuchen ist nun Folgendes zu berichten. Esmeralda reagiert scheinbar auf Geräusche, die der Film erzeugt. Ich nehme an, meine Schnecke wird von Rufen der Zikaden, welche im Film immer wieder über längere Zeit zu hören sind, müde, sie schläft ein, sie vergisst sich sozusagen, ihre Lage an der Wand, die gefährliche Tiefe unter ihr. Eine erstaunliche Beobachtung. Ich habe bisher nicht darüber nachgedacht, ob Schnecken über ein Hörvermögen verfügen, es ist denkbar, dass Schnecken über ein Körperhautohr gebieten. — stop
Aus der Wörtersammlung: weise
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kilimandscharo : 0.01 — n i e r e n k e r n s t r ä u ß c h e n
vor schnee
marimba : 6.18 – Ein Zoologe, L., mit dem ich gestern am späten Abend telefonierte, erzählte von einer Reise nach Grönland im vergangenen Frühling. Er sei eingeladen gewesen, an der Besichtigung eines schlafenden Wales teilzunehmen, der in einer tiefen Bucht vor Oqaatsut senkrecht mit dem Kopf nach oben im kalten Wasser schwebte. Ein großartiger Anblick, dieser mächtige Körper, umschwärmt von Seehunden, die unter gleichermaßen neugierigen Fischen wilderten. Von der nautischen Gesellschaft der Universität Oslo seien mehrere Kameras eingesetzt gewesen, die den Wal Zentimeter für Zentimeter untersuchten. Erste Hinweise deuteten auf eine möglicherweise noch unbekannte Spezies hin. Man sei am zweiten Tage der Untersuchung behutsam mittels eines Körper-U-Bootes in das Innere des Wales vorgedrungen, habe in die Dunkelheit des Magens geleuchtet, um dort zwei sehr alte Kämme von Elfenbein vorzufinden, ein Kofferradio, drei Rettungsringe ohne Beschriftung, einen Peilsender, sowie fünf Bücher, die merkwürdigerweise von wasserfester Substanz gewesen seien. Am kommenden Sonntag, so L., reise er nach Oqaatsut zurück, der Wal schlafe noch immer, er habe indessen kaum an Körpermasse verloren, was höchst erstaunlich sei. – Freitag. Früher Morgen. Die Luft duftet nach Schnee. – stop
im zug kürzlich
india : 0.12 – Ein Mädchen, das möglicherweise gerade erst sprechen lernte, in einer Sprache, die ich nicht verstehe, steht im Zug vor mir. Ich notiere auf ein Blatt Papier, als ich die kleine Person bemerke. Ich sage: Hello! Sofort schließt das Mädchen die Augen, bleibt aber wie angewurzelt vor mir stehen. Wenige Meter entfernt sitzen zwei Frauen und vier Männer, sie tragen Anoraks, die zu groß sind, die Frauen außerdem Kopftücher und Handschuhe, obwohl es im Zug warm ist. Sie scheinen müde zu sein, niemand spricht. Einer der Männer beobachtet mich, ein ruhiger, aufmerksamer, freundlicher Blick, ich denke noch, was sieht er in mir, da öffnet das kleine Mädchen seine Augen wieder, schaut mich an, kein Lächeln, als ich eine Hand hebe und winke. Ein Gesicht, blass, fast weiß, tiefe, dunkle Ringe unter den Augen, die glänzen. Was haben diese Augen gesehen in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren, vielleicht Menschen, die tot sind, wie sie auf einer Straße liegen, eine Hand der Mutter, die Augen des Mädchens bedecken im Moment einstürzender Häuser, Luft voller Fliegen unter einem Zeltdach, das nächtliche Meer, schreiende Menschen vor Stacheldraht bewehrten Toren, rasende Schäferhunde, die in Ungarn geboren worden sind? – Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, auch damals fing es so an. Ein Kind wollte sehen. / Julian Barnes Arthur & George – stop
lissabon
zwergdrache
marimba : 2.24 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Sommer 1958. Auf einem Fährschiff, dessen Name ich nicht ermitteln konnte, steht am Heck ein Junge im Alter von ungefähr 12 Jahren. Es ist früher Nachmittag, die Schule vermutlich gerade vorüber, der Junge fährt mit dem Schiff von Manhattan nach Hause. Er trägt Halbschuhe, ein helles Hemd, eine Krawatte und ein dunkles Jackett, seine Schultasche lehnt an einem Pfeiler, der für schwere Schiffstaue vorgesehen ist. Im Hintergrund, am Horizont, sind Kräne zu erkennen, die wie eiserne Vögel auf stelzenartigen Füssen stehend, zu warten scheinen. Einige Meter über dem Jungen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Junge selbst, reglos in einer Schwarz-Weiß-Fotografie gefangen. Zwei ältere Personen, eine Frau in einem hellen Kleid, und ein Mann, der einen dunklen Anzug trägt, lungern auf einer Bank. Sie küssen sich gerade auf den Mund, sind vielleicht eigentliche Ursache der Fotografie, der Junge, der gefährlich nah an der Kante zum Wasser steht, ist also möglicherweise versehentlich mit auf das Bild geraten. Eine Hand des Jungen ist nach vorn hin ausgestreckt, es ist seine linke Hand, während seine rechte Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sichtbar ist, um diese linke ausgestreckte Hand wickelt, als wäre sie eine Spule. Der Junge scheint im Moment der Aufnahme mit seiner Arbeit des Wickelns beinahe fertig geworden zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sichtbar, ein kleiner Drache von Papier ist dort befestigt, ein Drache nicht länger als zehn Zentimeter und nicht breiter als sechs Zentimeter, ein Zwergdrache, in der einfach gekreuzten Form der Kinderdrachen, dessen Körper mit Seidenpapier bespannt gewesen sein könnte, unbekannte Farbe, vielleicht blau, vielleicht gelb. Eine erstaunliche Entdeckung. Zweiter Blick. – stop
propeller
tango : 6.52 – Dieses Wort, Propellerwort, das sich seit einigen Stunden, weiß der Himmel, woher es gekommen ist, in meinem Kopf bewegt, scheint in der wirklichen Welt noch nicht zu existieren. Ich suchte in Wörterbüchern, ich suchte in der digitalen Sphäre, vergeblich. Was also könnte unter einem Propellerwort exakt zu verstehen sein? Ein Wort vielleicht, das in der Lage wäre, weitere Wörter, die vor oder hinter ihm in einem Satzverbund notiert worden sind, im Geiste eines Lesenden zu beschleunigen, oder den Lesenden selbst in seiner Art des Lesens heftig anzuregen. In diesem Augenblick kommt mir kein Wort in den Sinn, das in dieser Weise wirksam werden könnte. Stattdessen dachte ich an das Wort Zwergseerose, welches ich gestern noch notierte, das Wort Zwergseerose könnte für mich zu einem Propellerwort werden, weil es mich leichter werden lässt, weil ich mich freue, sobald ich das Wort denke oder höre, weil ich sofort weitere Zwergwörter bemerke, die mir gefallen, das Wort Zwerglibelle beispielsweise, oder das Wort Zwergameisenpferd, von den Ameisenpferden habe ich bereits erzählt, auch das Wort Ohrfeige, wenn ich das Wort Ohrfeige hinsichtlich der Baumfrüchte betrachte, scheint sich gleichwohl zu einem Propellerwort zu entwickeln. Oh, Du schöner Frühlingsmorgen. – stop
mitado muje
olimambo : 2.02 – In einem Postamt der neuseeländischen Stadt Whakatane arbeite ein Nachtschichtbeamter mittleren Alters, der besondere Namen sammle. Er soll, so ein Gerücht, auf einem Drehstuhl vor einem Fächerregal sitzen und Briefe in zweierlei Hinsicht sorgfältig betrachten, ob sie nämlich einerseits ausreichend frankiert sind, um ihren Bestimmungsort erreichen zu können, anderseits würde er Namen von Adressaten, die sich in aller Welt befinden, ihrem Klang nach inspizieren. Sobald der Nachtmann einen Namen, der ihm gefällt, entdeckt, würde der Name auf einem Zettel notiert: Sakonakis Pina, Emilie Lionel, Pollie Patatas, Josef Thomey, Laily Pina, Clara Lorenz, Phillipe Odil. Es heißt, man könne diese Namen im Internet erwerben, vielleicht, wenn man einen geräuschvollen Namen benötigten würde, weil man eine Person erfinden möchte, die sich in poetischer Weise darzustellen wünscht, 10 Cent. Ich muss das überprüfen. – stop
sarajevo
alpha : 2.12 — In meiner Vorstellung wurde ein dreijähriger Junge von seiner Mutter in einem Kinderwagen über eine Straße geschoben. Die Mutter, die zunächst vorsichtig ging, um das Kind nicht zu wecken, beschleunigte plötzlich ihre Schritte, nach wenigen Sekunden spurtete sie eine Häuserwand entlang, sie hatte das Kind aus dem Kinderwagen gehoben und trug es jetzt in ihren Armen, während sie etwas seitwärts lief, sie war geschickt in dieser Art und Weise zu laufen, sie schützte das Kind mit ihrem Körper vor Projektilen, die von einem Scharfschützen, einem Sniper, auf den Weg gebracht worden waren, um sie und ihr Kind ums Leben zu bringen. Irgendwo, irgendwann muss ich einen Film gesehen haben, der eine Szene wie die vorgestellte Szene zeigte. Unlängst sprach ich mit einem jungen Mann, der sich in meine geschilderte Vorstellung harmonisch einfügen würde, ich kenne ihn seit längerer Zeit, er war tatsächlich Kind gewesen in Sarajevo während der Belagerung der Stadt. Einmal, als etwas Zeit war zu sprechen, fragte ich ihn, wie diese Jahre damals für ihn gewesen waren, ob er sich erinnern könne. Er schaute mich freundlich an und lachte. Als ich meine Frage wiederholte, sagte er, dass er über diese Zeit noch nie gesprochen habe. Ich fragte ihn, ob er vielleicht noch nie mit einer Person wie mir gesprochen habe, die die Belagerung, die Erschießung von Menschen damals, als er noch ein Kind gewesen war, auf einem Fernsehbildschirm beobachtet hatte. Er antwortete, nein, er habe überhaupt noch nie, mit niemandem, mit keinem Mensch also über diese Zeit, deren Geräusche er kenne, gesprochen. Seine Mutter habe den Krieg überlebt, seine Schwester, die ein Jahr älter als er selbst gewesen war, sei gestorben. Und wieder lachte er, und dann klopfte er mir auf die Schulter, und ich stellte keine weitere Frage. — stop