nordpol : 15.12 UTC — An diesem heutigen Tag beginne ich zu beobachten, welche und wie viele Informationen meine Schreibmaschine verlassen oder in sie hineingeholt werden, von deren Kommen und Gehen ich nichts bemerke. Das ist nämlich eine sehr seltsame Sache, gestern, während ich im Regen spazierte, wurden von meiner Schreibmaschine 187 Millionen Byte Information lautlos aus der Luft entgegengenommen, ich weiß nicht, woher präzise und warum. Tatsächlich lebe ich in einer beinahe geräuschlosen Schreibmaschinenzeit, auch das Notieren auf gläserner Tastatur ist kaum noch zu hören. Geräusche, zur Erzeugung von Information auf meiner Schreibmaschine notwendig geworden, werden nur in großer Entfernung hörbar gewesen sein, das Rauschen oder Brausen der Server irgendwo an geheimen Orten. Oder das helle Sausen und Heulen der Turbinen in Kraftwerken, die Strom für das Herz meiner Schreibmaschine erzeugen. Das Murmeln einer schlaflosen Arbeiterin nahe Shenzhen. — stop
Aus der Wörtersammlung: ast
nahe warrenstreet
alpha : 22.28 UTC — Louis erzählte mir eine heitere Geschichte, die er nicht erfunden, vielmehr von Monroe erzählt bekommen haben will, Monroe, die in Brooklyn in der Baltic Street seit fünf Jahren lebt. Sie habe, erzählte Monroe, ihre Freundin Lilly besucht in der Warrenstreet an einem fürchterlich heißen Tag im August. Sie habe Lillys Wohnung betreten und sofort gespürt, dass etwas seltsam ist. Das linke Augenlid Lillys flatterte nämlich wie ein wild gewordener Falter über ihrem Augapfel herum. Dieses Flattern habe nicht aufgehört, sagte Lilly, seit in der Nacht vor drei Tagen über ihrem Bett ein Feueralarmmelder angesprungen sei, ein äußerst strenger heller Ton, der so komponiert worden sei, dass man unbedingt wach werden müsse, weswegen sie sogleich senkrecht im Bett hockte und nach Feuer suchte, aber keinerlei Feuer gefunden habe. Sie habe dann etwas abgewartet, aber das Wesen an der Decke wollte sich nicht beruhigen, da sei sie dann auf einen Stuhl gestiegen und habe das pfeifende, blinkende Tier flugs abgeschraubt, habe versucht, das Tier zu beruhigen, habe Schalter und Knöpfe gedrückt, dann das Tier in einen Pullover gewickelt, eine Decke darüber gelegt, und noch eine Decke, schließlich habe sie ihre Handtasche geöffnet, sei auf die Straße getreten, um zu Fuß in Richtung der Brooklyn Bridge zu marschieren. Indessen flatterte ihr Augenlid noch immer herum wie ein gefangener Falter, weswegen sie sich sehr konzentrieren musste im wilden Straßenverkehr. Das Tier, das in einer Weise in der Handtasche pfiff, dass Seemöwen Lillys Gegenwart flüchteten, habe sie dann in den East River geworfen, was ihrem Auge ganz offensichtlich nicht sofort geholfen habe. — stop
regenzeit
alpha : 20.15 UTC — Tiefseetauchbücher, von der NASA zur Prüfung astronautisch Reisender entwickelt, werden ab sofort als Regenbücher gehandelt. Sie sollen sich in tropischen Gegenden gut verkaufen. Haben Sie schon einmal mit E.E.Cummings Selected Poems gebadet, mit Hemingways Fiesta oder Dorothy Parkers The portable? Weitere Werke werden folgen: Homer, Beckett, Carson McCullers. — stop
licht
alpha : 22.01 UTC — Im Freiluftkino abends jagen Fledermäuse durchs Bild, werden für Sekundenbruchteile vom Filmlicht erfasst, federlose Vögel, hellbraun, rosa, aber blitzende Zähnchen, die ich mir hinzudichte, es geht alles so schnell, dass ich allein Erinnerung wahrnehme, die gestaltet werden kann. Auf der Leinwand uralte riesige Eichen, von welchen Louisiana Moose wehen, wie gefroren. Ein Mädchen sitzt auf einem Ast in großer Höhe, sie trägt ein weißes, knöchellanges Kleid. Auf dem Fluss hinter der Leinwand zieht ein Dampfer vorüber, buntes Glühbirnenlicht, Menschen, die Salsa tanzen. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 10, Luftfahrt — 14, Automobile — 102], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 5, 19. Jahrhundert – 26, 20. Jahrhundert – 478, 21. Jahrhundert — 146 ], Trolleykoffer [ blau : 1, rot : 8, gelb : 1, schwarz : 188 ], Seenotrettungswesten [ 5317 ], physical memories [ bespielt — 12, gelöscht : 22 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 355 ], 1 Rollstuhl Westfalia [ Baujahr 1914 ], Brummkreisel : 3, Öle [ 0.33 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 5, Kniegelenke – 215, Hüftkugeln – 12, Brillen – 425 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 105, Größen 38 — 45 : 33 ], Plastiksandalen [ 435 ], Reisedokumente [ 1558 ], Kühlschränke [ 1 ], Telefone [ 658 ], Puppenköpfe [ 2 ] Gasmasken [ 12 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 2, mit Taucher – 5 ], Engelszungen [ 102 ] | stop |
im gebirge
delta : 7.55 UTC — Ich träumte von einer Frau, wie sie in einem Haus im Gebirge, dicht an der Sommerschneegrenze, mit geschlossenen Augen auf einem Fahrrad sitzt. Das Fahrrad kann nicht davonfahren, weil sich sein hinteres Rad in der Luft dreht. Die Frau ist von hohem Alter, sie tritt mit zarter Kraft in die Pedale. Indem ich mich nähere, erkenne ich einen Trafo, der Strom erzeugt. Im Zimmer gleich neben der Fahrradstube ruht ein alter Mann auf einem Sofa. Er notiert auf einer elektrischen Schreibmaschine. Neben seinem Sofa steht eine weitere Maschine, sie ist verschraubt mit uralten Dielen, Bienen fliegen durch Astlöcher der Dielen ein und aus. Die Maschine pumpt Luft in die Lungen des alten Mannes. Diodenlichter blinken in blauer und roter Farbe. Kühe schauen durch Fenster in das kleine Zimmer hinein. Glocken läuten. Der alte Mann winkt, ich solle näherkommen, ich wache auf. — stop
vom schlafen
delta : 4.38 UTC — Ich saß an Deinem Bett, liebe schlafende Mutter, Stunde um Stunde. Immer wieder dachte ich, wie schwer es doch ist, zu einem Menschen zu sprechen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Vielleicht sollte ich summen? Oder doch weiter sprechen? Ich suchte nach einem Text, den ich einmal für Dich geschrieben hatte. Ich dachte, ich werde Dir diesen kleinen Text vorlesen, und wenn ich an seinem Ende angekommen sein werde, werde ich von vorn beginnen. Es geht vermutlich darum, dass Du meine Stimme hörst, nicht darum, was genau ich lese an diesem Morgen, als es noch dunkel war im Haus. Was hörte, was höre ich? Ich höre ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch nähert sich, es kommt über die Treppe abwärts heran. Zunächst ist nichts zu sehen, dann aber eine Deiner drei Brillen, liebe Mutter, die seit dem Vorabend über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen durch die Luft zu bewegen, durch Räume oder den Garten. Deine Brille kommt näher, durchquert das Wohnzimmer, kreist einmal um meinen Kopf, landet schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem Du hoffentlich einmal wieder Platz nehmen wirst. Über drei Brillen verfügst Du, liebe Mutter, und jede dieser Brillen kann nun fliegen. Eine Brille wird im Dachgeschoss stationieren, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte Deiner Brillen, liebe Mutter, zu ebener Erde. Wie sie zu blinken beginnen, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels unhörbarer Funksignale orientieren. Das Suchen hat nun ein Ende, alles wird gut, Du darfst erwachen. – stop
gespräch mit einem seemann
tango : 20.10 UTC — Im Schnellzug heute Morgen beobachtete mich ein Mann von vielleicht achtzig Jahren, wie ich auf meiner flachen Bildschirmschreibmaschine einen Text notierte. Ich hatte die Schreibmaschine quer auf meine Knie abgelegt und schrieb mit fünf oder sechs Fingern recht flink auf einer virtuellen Tastatur. Das war ein fast lautloser Vorgang gewesen, vielleicht deshalb sagte der Mann plötzlich: Früher waren die Schreibmaschinen sehr laut gewesen! Ich hob meinen Blick und lächelte den Mann an. Er fragte sofort weiter: Das ist doch eine Schreibmaschine? Ich nickte. Ja, sagte ich, das ist eine Schreibmaschine und zugleich auch ein Gerät, mit dem ich Texte senden kann und Nachrichten empfangen, sogar morsen könnte ich. — Ich habe früher auch gemorst, sagte der Mann, ich bin auf einem Segelschiff zur See gefahren, da war ich sehr jung gewesen. Er schwieg für einen Moment, dann sagte er: Sie brauchen gar kein Papier, nicht wahr? Ich antwortete: Das ist richtig, im Grunde brauche ich kein Papier. — Was schreiben sie denn? Wollte der Mann wissen. Ich schreibe eine Geschichte, sagte ich. Ist das denn gut, dass sie eine Geschichte ohne Papier schreiben? fragte der Mann. Ich sagte: Darüber muss ich nachdenken. Der Mann lachte: Sie ist wirklich nicht groß, diese Schreibmaschine. Sagen sie, wie viele Geschichten passen denn in diese Schreibmaschine hinein? Ich antwortete: Ich glaube, sehr viele Geschichten, ja, vermutlich unvorstellbar viele Geschichten. — Das ist gut, sagte der Mann, so viele Geschichten, dass sie im Zug sitzen und schreiben können, so lange sie wollen, ohne je aussteigen und eine neue Schreibmaschine kaufen zu müssen. Vorübergehend schaute er zum Fenster hinaus. — stop
von wasserläufern
nordpol : 20.25 UTC — Heute Nachmittag habe ich eine lustige Geschichte mit mir selbst erlebt. Ich sass vor einem See in einem Garten und beobachtete sehr kleine Tiere, wie sie sich nahe oder auf der Oberfläche des Wassers bewegten. Da waren unter anderem Fliegen, die im Wasser des Sees badeten, und Schatten der Libellenlarven, die sich den badenden Fliegen nährten, auch Wasserläufer, die einander jagten im Spiel. Plötzlich fragte ich mich, ob ich eventuell in der Lage wäre, das Verhalten der Wasserläufer vorherzusagen, ob sich ein bestimmter Wasserläufer eher in östliche oder eher in westliche Richtung fortbewegen würde. Eine Weile folgte ich dem von mir gewählten Tier mit meinen Augen, dann zeichnete ich seinen Weg auf ein Blatt Papier. Wolken spiegelten sich im Wasser, der Himmel hier unten war grün, er schimmerte. Eine Unterwasserschnecke passierte mein Beobachtungsfeld sehr langsam, und ich notiere: Schnecke. In diesem Augenblick bemerkte ich fünf Goldfische, die sich in einem Halbkreis im Wasser vor mir versammelt hatten. Sie bewegten sich kaum merklich und ich hatte plötzlich den Eindruck, sie würden mich betrachten. Tatsächlich fühlte ich mich von einer Sekunde zur anderen Sekunde selbst beobachtet. Das war ein merkwürdiger Augenblick gewesen, ein Moment auch von Verlegenheit, weshalb ich mich wieder einem Gespräch auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine zuwendete, das ich mit einem Computerprogramm namens ELIZA in englischer Sprache vor langer Zeit einmal geführt und kurz darauf in die deutsche Sprache übersetzt hatte. Ich, der ich Louis gewesen war, fragte Eliza: guten abend! wie geht es dir, eliza? Eliza : > gut! und dir? Louis : prächtig. Eliza : > schön zu hören. wo liegt dann das problem? Louis : ich habe heute abend kein problem, eliza! Eliza : > wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! Louis : darf ich dir eine frage stellen? Eliza : > sicher! Louis : was bedeutet das wort liebe? Eliza : > hast du schmetterlinge im bauch? Louis : eliza! bitte! was bedeutet das wort liebe! Eliza : > lass uns das eine weile zurückstellen. Louis : warum, eliza? Eliza : > du musst mich nicht mit namen rufen, ich bin immer bei dir. Louis : das ist beruhigend, eliza! Eliza : > erzähl weiter! Louis : eliza! liebe? Eliza : > hast du schon andere gefragt? Louis: aber natürlich! Eliza : > schön zu hören. wo liegt dann dein problem? Louis : ich habe heute abend kein problem, eliza! Eliza : > wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! Louis : warum? Eliza : > ich sehe, du bist ein schwieriger fall. Louis : warum bin ich ein schwieriger fall, eliza? Eliza : > scherz beiseite, kommen wir zur sache. — stop
ein koffer
delta : 16.12 UTC — Ich weiß nicht, wohin die Vögel schlafen gehen, stellt Hilde Domin einmal fest. Sie erzählt, wie sie ihrem geliebten Mann begegnete, dass sie wunderbare Gespräche führten, dass sie sicher ein Jahr brauchten, um sich zum ersten Mal zu küssen. Wir waren sehr förmlich. In der 45. Minute des wundervollen Films Ich will Dich — Begegnungen mit Hilde Domin von Anna Ditges will die junge Filmemacherin wissen, ob Hilde Domin’s Ehemann ein guter Liebhaber gewesen sei. Hilde Domin antwortet mit trockener Stimme: Ich hatte keinen anderen. Ich kann das nicht beurteilen. Ich find, ja. Sie macht eine längere Pause. Dann fährt sie fort: Ich habe auch vor ihm niemanden geküsst. Das war damals nicht üblich, dass man so zurückhaltend war wie ich. Meine Freundinnen waren alle anders. Anna Ditges: Er war der einzige Mann, den Du je gekannt hast? Hilde Domin antwortet: Ja! Anna Ditges: Würdest Du sagen, dass Erwin heute immer noch Deine große Liebe ist? — Hilde Domin: Jedenfalls habe ich keine andere. Weißt Du, der lebendige Mensch ist der lebendige Mensch. Und der Mensch, der nur noch in meiner Vorstellung ist, das ist nicht dasselbe. — In diesem Augenblick erinnere ich mich an eine Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Später wurde mir warm, wenn ich das Bild betrachtete. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit fürchtete. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrte wochenlang zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. Sie geht noch immer, Jahre sind vergangen, so umher. – stop