echo : 20.55 UTC — Eine wunderbare Geschichte habe ich vor vielen Jahren entdeckt, eine Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda. Ich möchte sie an dieser Stelle an diesem schönen Samstagabend wiederbeleben. Mercè Rodoreda schreibt: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: – Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
Aus der Wörtersammlung: blick
ein mann
delta : 22.15 UTC — Ich beobachtete einen Mann, der auf einer Rolltreppe entgegen ihrer Fahrrichtung spazierte. Kurz darauf besuchte ich einen Supermarkt. Während ich Äpfel und Birnen wog, dachte ich an diesen Mann auf der Rolltreppe. Ich überlegte, der Mann könnte vielleicht den Versuch unternehmen, mehrere Tage und Nächte auf einer Rolltreppe zu spazieren, ohne je das eine oder andere Ende der Rolltreppe zu erreichen. Kurz darauf kam ich wieder an derselben Rolltreppe vorüber. Der Mann lief noch immer gegen die Laufrichtung der Treppe. Passanten waren stehen geblieben. Ich selbst hatte für einen Augenblick ein seltsames Gefühl der Verantwortlichkeit für das Handeln des Mannes. — stop
im garten. winter
echo : 22.18 UTC — In einem Garten sehen wir an diesem Nachmittag in der warmen Novembersonne eine ältere Dame knien. Mittels einer handlichen Schaufel gräbt sie zunächst einen schmalen Schacht, kurz darauf legt sie in den schmalen Schacht einen leblosen Vogel ab, dann verschließt sie den Schacht und markiert das Gebiet, in welchem das Vögelchen zu finden ist, mit einer Ziffer, die sie aus feinen Steinen bildet. Jetzt erhebt sie sich. Steht für einen Moment still, wir folgen ihrem Blick, der über zahllose Gräber der vergangenen Jahre wandert. Reise und Leben der Vögel endete an einem Wohnzimmerfenster des Hauses der alten Dame, das noch nie zerbrochen ist. In der Küche, in einer Schublade, ruht ein Notizbuch. Dort sind sorgfältig Nummer der Gräber mit innewohnenden Vogelgattungen verzeichnet: Sperling, Meise, Schwalbe, Dompfaff, Grünling, Rotkehlchen. Amseln fehlen. Aber zwei Igel sind da noch, sie sind nicht am Fenster zugrunde gegangen, beerdigt wurden sie trotzdem. — stop
unter freiem himmel
sierra : 15.08 — Ich spazierte im Park. Und wie ich so spazierte, dachte ich, vielleicht bist Du schon 5105 Male durch diesen Park spaziert, warum nicht. Da entdeckte ich plötzlich, dass jeder der Bäume des Parks zwei Meter über dem Boden ein Schildchen trug an seinem Stamm. Zunächst entdeckte ich ein Schildchen am rauen Stamm einer Spottnuss. Auf dem Schildchen waren zwei Buchstaben und fünf Zahlen verzeichnet, das könnte ein Code sein, dachte ich, dann ging ich weiter, um an dem Stamm einer Eibe ein ähnliches Schildchen zu bemerken. Wieder waren zwei Buchstaben und fünf Zahlen auf grünem Hintergrund aufgetragen. Eine Stunde lang betrachtete ich Stämme der Bäume des Parks, Stämme der Rotbuchen, Birken, Zwergnusskastanien, Erlen, Eichen und eines gewöhnlichen Trompetenbaums, sie alle waren mit einem Schildchen von Metall versehen, Ziffern, einem Schatten demzufolge, einem besonderen Blick. Vermutlich, dachte ich, wird irgendwo ein Buch oder ein digitales Verzeichnis existieren, in dem die Existenz der Bäume festgehalten ist, ihre Namen möglicherweise und ihr Alter, vielleicht auch, wie sich die Bäume benehmen im Winter und im Sommer. Zuletzt dachte ich, dass ich eventuell durch ein Museum spaziere. Das denke ich noch immer. Winter ist geworden. — stop
mercato
echo : 22.08 UTC — Immer der Nase entlang spazierte ich zum Markt, wo nachmittags Seemöwen stolzierten über den Boden, den sie längst so gründlich durchsucht hatten, dass Fisch gerade noch als Erinnerung feinster Moleküle in der Luft zu finden war. Da lag noch etwas Eis auf dem Boden, erstaunlich. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an einen frühen Morgen vor vielen Jahren. Ich trat damals zur Zeit der Dämmerung auf den Markusplatz. So dicht ruhte Nebel über der Lagune, dass ich nur wenige Meter weit sehen konnte. Ich ging sehr vorsichtig voran. Vor einem Kaffeehaus hielt ich an, setzte mich auf einen Stuhl und wartete. Im Luftwasserzimmer, in dem ich Platz genommen hatte, hörte ich Stimmen von Männern, die miteinander sprachen. Auch waren immer wieder Pfiffe zu hören, wie Radare oder Signaltöne. Es waren Männer mit vermutlich Reisigbesen, die den riesigen Platz kraft ihrer Arme und Hände fegten. Auch Melodien waren zu hören gewesen. Ich wartete ungefähr eine Stunde und lauschte. Nie habe ich einen dieser Männer gesehen, aber ich habe von ihnen vielfach erzählt. Es scheint überhaupt die Zeit, da man sich in Venedig noch verlaufen konnte, vorüber zu sein für alle Menschen, die über eine Schreibmaschine mit GPS-Verbindung verfügen. Es ist, glaubt mir, ein Vergnügen, diese Radarschreibmaschine auszuschalten und loszugehen und nach da und dort zu laufen, stets in dem Glauben, man wüsste, wo man sich befindet. Es bleibt dann nichts weiter zu tun, als nach einer halben Stunde die Schreibmaschine hervorzuholen und nachzusehen und sich zu wundern und zu freuen. — stop
san marco
echo : 8.15 UTC — In der vergangenen Nacht habe ich geträumt, wunderbare 5 Jahre lang geschlafen zu haben. Als ich erwachte, fühlte ich mich wohl, dann bemerkte ich, dass ich im Wasser stand bis zum Bauch. Das Wasser war warm, es roch nach Tang und nach Salz und nach Öl in diesem Augenblick des Erwachens. Ich hörte vor dem Fenster die Stimmen spielender Kinder. Ich sah mich um und dachte: Was für ein schöner Anblick, all diese Lichter, es muss Nacht sein, Schiffe fahren herum, die von Vögeln gezogen werden, als wären sie Pferde. Dann erwachte ich erneut. Es war früher Morgen, anstatt Kinderstimmen, hörte ich die hell pfeifenden Stimmen einiger Seemöwen. Ich trat an ein Fenster, sah auf den Hof. Da waren tatsächlich Möwen. Sie versuchten, Mülltüten zu öffnen. Manche der Mülltüten lagen auf dem Boden, andere hingen in den Bäumen. Ich fand, die Möwen waren nicht sehr geschickt im Öffnen der Mülltüten. Plötzlich hüpften Kinder auf der Gasse herum. Sie trugen Schulranzen auf dem Rücken und Telefone mit Bildschirmen in ihren Händen. Immer wieder blieben sie stehen und steckten die Köpfe zusammen und lachten. Ich bemerkte, dass der Oleander vor dem Westfenster im Hof zu blühen begann. Es waren rote Blüten. Gestern Abend habe ich Menschen beobachtet, die auf dem Markusplatz um eine Öffnung im Boden standen, aus welcher Wasser sickerte. Sie fotografierten, aber das Wasser war sehr wenig, weswegen sie heranzoomen mussten. Auch waren da Menschen, die Tango tanzten nach Melodien eines Kaffeehaus-Orchesters. — stop
alberoni
india : 22.06 UTC — Regenwindtücher wandern in der Ferne vor Bergen, die sich am Horizont deutlich abbilden. Vom Lido aus, an der Meerenge zur Inselzunge Palestrina, öffnet sich ein weiter Blick nordwärts über die Lagune hin. Das Meer noch beruhigt, Muschelfangstationen setzen wie gezeichnet feine Akzente, hölzerne Finger, zu Reihen gruppiert, jenseits der Wasserbahnen, die mittels mächtiger Bohlen markiert worden sind. In Alberoni steige ich aus, spaziere an Leuchttürmen vorbei, eine Mole entlang, mächtige Steine. Da sind ein wilder Wald und sumpfige Mulden, in welchen Fischchen blitzen, Wolkenstrukturen, die des Himmels und die der Schuppenhautschwärme. Ich nähere mich Schritt für Schritt, irgendwo da unten in der Tiefe der Wasserstraße hin zum offenen Meer soll sich M.O.S.E. befinden. Eine junge Venezianerin erklärte noch: Bad Projekt! Und wie sich ihre Augen angesichts des Bösen verdunkelten, meinte ich meinen Wunsch, M.O.S.E zu besuchen, verteidigen zu müssen. Die Sonne geht langsam unter. Rötlich glimmende Stäbe nahe dem schmalen Mund zur Lagune erscheinen, als würden sie in der Nacht auf die Existenz des schlafenden Schutzriesen unter der Wasseroberfläche verweisen. Da liegt ein verlassener Kinderspielplatz in Meeresnähe unter Oleanderbäumen. Ein sandiger Strand, Muscheln, hölzernes Treibgut, drei Möwen, ein Angler, Fußspuren im feuchten Sand, die die aufkommende Flut bald verschlingen wird. Im Wasser selbst drei menschliche Köpfe, die lachen, und ein weiterer Kopf, der sich parallel zur Küste schwimmend hin und her bewegt, nur nicht die tiefere Zone dieses Meeres berühren, in dem so viele Menschen bereits ertrunken sind. In einem Regal des Kinderspielplatzes entdecke ich heimwärts gehend einige Bücher, kurz darauf einen Fußabdruck, den ich selbst hinterlassen haben könnte. — stop
lido santa maria elisabetta
tango : 22.06 UTC — Eine Welt ohne Automobile kenne ich nicht. Auch eine Welt ohne Strom ist mir nicht bekannt. Nach Stunden der Fahrt mittels Wasserbussen hin und her und herum, muss ich deshalb an Land gehen, muss meine Schreibmaschine mit Strom versorgen, um arbeiten zu können. Ich stellte mir einmal vor, wie ich unter Venezianerinnen und Venezianern sitze mit einer klappernden Olympiaschreibmaschine auf den Knien. Oder das Notieren von Hand in ein Notizbuch auf schwankenden Sitzgelegenheiten der Dampfschiffchen reisend. Man kann niemals erahnen, in welche Richtung sich die Welt bewegen wird. Plötzlich fährt die Stiftspitze unter der Hand sprunghaft vorwärts oder rückwärts, zieht eine Linie jenseits geplanter Schriftzeichen, bildet die Bewegung des Meeres auf Notizpapieren nach. In der digitalen Zeit werden verrückte Zeichen, Folge der Meeresbewegung von dem Korrekturgedächtnis der elektrischen Schreibmaschine unverzüglich korrigiert. Eine wunderbare Beobachtung ist, wie ich sicherer werde im Stehen auf dem Wasser im Bus. Beobachtete hunderte Male Knotenbindung in dem Moment, da sich das Batello dem Lande nähert, da es anzulegen wünscht, sodass es für einen kurzen Moment selbst zu Land wird. Wie wir Menschen dann über Brücken gehen, wie tanzen. Am Abend einmal spürte ich die uralte Stadt selbst unter mir schwanken. Da ich mich in diesem Augenblick dem Lido nähere, bemerke ich, dass ich die Erfindung der Automobile bereits nach wenigen Tagen vergessen habe. — stop
palanca
echo : 22.52 UTC — Abends von der Vaporettostation Palanca her die Küste nach Zitelle spaziert, dann wieder ein kleines Stück zurück. Es ist bald spät geworden, kurz nach 10 Uhr. Langsam, von Schleppern gezogen, bewegt sich in diesem Augenblick das Personenfrachtschiff Queen Mary 2 durch den Giudecca Canal ostwärts in Richtung des offenen Meeres. Da stehen Menschen weit oben an Deck hinter der Reling, die so klein sind, dass man, ohne ein Fernrohr zu verwenden, nicht zu erkennen vermag, ob sie vielleicht winken, man könnte sie für armlose Wesen halten. Weit links, zur Seite gerückt in den Schatten einer Brüstung, hockt auf einer Stufe der Steintreppe zur Chiesa del Santissimo Redentore hinauf, eine junge Frau, die etwas durcheinander zu sein scheint. Da ist ein Koffer, geöffnet. Sie hat den Inhalt des Koffers, Kleider, Schuhe, einen blinkenden Kamm, und Blusen, auch einen Sommerhut, um sich herum ausgebreitet. Sie sitzt dort im Kreis ihrer Besitztümer wie in einem Nest, trinkt aus einer Flasche Wein, und flucht mittels italienischer Sprache zu dem Schiff hinauf, dass es eine wahre Freude ist. Man wird sie dort oben in der Ferne kaum hören, nur ich vermutlich, der in ihrer Nähe hockt und das Wasser beobachtet, das dunkel schimmert. Es die Zeit der Flut bereits. Das Wasser berührt die Kronen der Quais, da und dort geht es an Land, um über das uralte Pflaster zu züngeln. Eine Gruppe von Ameisenschatten passiert mich westwärts, eine halbe Stunde später kommen sie mit ein paar Brosamen zurück. Beständiges Brummen. Gestern war ein sonniger Morgen gewesen, da wurde ich von einem hellen Pfeifen geweckt. Ich öffnete das Fenster, eine Frau grüßte vom gegenüberliegenden Haus herüber, sie brachte an einem Seil, das ein Rädchen an der Fassade meines Hauses bewegte, gerade feuchte Tücher aus, so haben wir Kinder noch Seilbahnen von Haus zu Haus gezogen. — stop
ferrovia
alpha : 18.02 UTC — Ich kam mit dem Zug nach Venedig, trat auf den Vorplatz des Bahnhofsgebäudes, hörte, vertraut, das Brummen der Vaporettomotoren, bemerkte das dunkelblaugraue Wasser, und einen Geruch, auch er vertraut, der von Wörtern noch gefunden werden muss. Und da war die Kuppel der Chiesa di san Simeone Piccolo im Abendlicht, und es regnete leicht, kaum Tauben, aber Koffermenschen, hunderte Koffermenschen hin und her vor Ticketschaltern, hinter welchen geduldige städtische Personen oder Furien warteten, die das ein oder andere Drama bereits erlebt hatten an diesem Tag wie an jedem anderen ihrer Arbeitstage. Und da war mein Blick hin zur Ponte degli Scalzi, einem geschmeidigen Bauwerk linker Hand, das den Canal Grande überquert. Ich will das schnell erzählen, kurz hinter Verona war ich auf den Hinweis gestoßen, es habe sich dort nahe der Brücke, vor den Augen hunderter Beobachter aus aller Welt, ein junger Mann, 22 Jahre alt, der Gambier Pateh Sabally, mittels Ertrinkens das Leben genommen. Ein Mensch war das gewesen, der auf gefährlicher Route das Mittelmeer bezwang. Niemand sei ihm zu Hilfe gekommen, ein Vaporetto habe angehalten, man habe einige Rettungsringe nach ihm geworfen, aber er habe nicht nach ihnen gegriffen, weshalb man eine oder mehrere Filmaufnahmen machte, indessen man den jungen Mann ermutigte: Weiter so, geh nach Hause! Das war im Januar gewesen, das Wasser der Kanäle kalt wie die Betrachterseelen. In diesem Augenblick, als ich aus dem Bahnhof in meinen venezianischen Zeitraum trat, war keine Spur der Tragödie dort unter dem Himmel ohne Tauben zu entdecken, außer der Spur in meinem Kopf. — stop