echo : 12.03 — Sagen wir das so: Tiefseeelefanten, sobald sie geboren werden auf hoher See in großer Tiefe, bleiben ihren Müttern lange Zeit verbunden. Solange Zeit genau wandern sie in nächster Nähe, bis ihre Rüssel ausreichend gewachsen sind, um zur Oberfläche des Meeres gelangen zu können. Wie sie sich küssen von Zeit zu Zeit in ewiger Dunkelheit, wie eine Mutter ihrem kleinen Elefanten Luft einhaucht, wie das taumelnde Wesen im Moment der Übergabe lustvoll seine blinden Augen schließt, eine Ahnung vom berauschenden Duft der Welt weit über ihm, von salzigen Schäumen, von Motorölen, Tang und weiteren angenehmen Substanzen, die ihm bald unmittelbar begegnen werden. Manchmal, eher selten, steigen sie, Miniaturen einer späteren Zeit, langsam aufwärts. Sie haben dann aus dem Munde ihrer Mutter einen Ballon süßer Luft entgegengenommen, der zu groß geworden sein könnte von Sorge und Liebe. Zwei oder drei Tage sind sie nun schwebend unterwegs, bis die Oberfläche des Wassers erreicht sein wird. Das feine Geräusch ihrer ersten Rüsselhupe, mit der sie die lichte Welt begrüßen. – Sonntag. Leichter Schneefall. Viel Jazz im Kopf. — stop
Aus der Wörtersammlung: dunkel
update
romeo : 0.05 — Vor wenigen Minuten hatte ich das Licht über meinem Schreibtisch ausgeschaltet und etwas Lebenszeit in Dunkelheit verbracht. Ich will Ihnen rasch erzählen, warum ich so gehandelt habe. Ich war nämlich spazieren gewesen stadtwärts unter Menschen in Warenhäusern und auf einem Weihnachtsmarkt, weil ich nachsehen wollte, ob sich in dieser Welt, die wir bewohnen, etwas geändert haben könnte, da doch vor wenigen Stunden durch Unterlassung entschieden worden ist, dass Bangladesch, dass das Gangesdelta in den Golf von Bengalen sinken wird. Ich dachte, das eine oder das andere sollte doch spürbar, sichtbar, fühlbar werden, ein wenig Unruhe, ein leises Klappern der Zähne vielleicht. Aber nein, alles Bestens, alles im Lot. Und als ich wieder an meinem Schreibtisch saß, war da plötzlich ein starker Eindruck von Unwirklichkeit, das alles und ich selbst könnte reine Erfindung sein. Ich löschte das Licht über dem Schreibtisch und wartete. Und während ich so wartete, lauschte ich den Stimmen der Tiefseeelefanten, einem Orchester zartester Rüsselblumen, wie sie auf hoher See den Himmel lockten. Und als ich das Licht wieder eingeschaltet hatte, saß ich dann noch immer vor dem Schreibtisch, die Hände gefaltet. — Schnee fällt. stop. Langsam. stop. Leise. stop. – Frohe Weihnachten und ein gutes, ein nachdenkliches, ein glückliches Jahr 2010! — stop
engelgeschichte für geraldine
delta : 0.03 — Vor langer Zeit habe ich eine kleine Geschichte geschrieben, die von Engeln erzählt. Ich kann nicht genau sagen warum, ich habe diese Geschichte bereits zweimal aus dem Licht der Öffentlichkeit zurückgezogen, sie aber nie gelöscht. Als ich gestern nun über die Kindheit eines Mädchens nachdachte, das in einer vornehmen Gegend Manhattans aufgewachsen ist, fiel mir die Geschichte wieder ein und ich habe nach ihr gesucht. Ich werde sie jetzt für Geraldine an dieser Stelle endgültig notieren. Liebe Geraldine, wo auch immer Du sein magst, diese folgende Geschichte gehört Dir. Hör zu: Einmal, immer nur einmal im Jahr, kommen die Engel der Stadt New York in einer Kirche zur großen Versammlung geflogen. Die steinernen Engel kommen von den Friedhöfen her, die hölzernen Engel aus den Gartenlauben, kostbare Porzellanengel öffnen ihre Vitrinen und segeln über den Hudson durch die kühle Abendluft. Auch von den Tapeten steigen Engel auf, verlassen ihre Postkartenzimmer, Bücher und Zeilen, in welchen sie vermerkt worden sind Zeichen für Zeichen. Sie steigen aus den Träumen der Kinder, der Mütter, der Väter, wie Menschen aus Straßenbahnen steigen sie aus. Sobald sie Luft unter ihren Schwingen fühlen, werfen sie ihre Goldstaubmäntel von den Schultern, springen aus Badewannen, stark schon unterm Wasser geschmolzen, löschen das Licht, das auf ihren Köpfen flackert, umflattern noch einmal kurz die Häupter der steinernen Marien, auf deren Händen sie um ein weiteres Jahr gealtert sind. Es ist kaum richtig Nacht geworden, da kann man es in den Kellern schon ächzen hören, wenn sie sich mit vereinten Kräften gegen die schweren Deckel der Truhen stemmen, in denen sie aufgehoben sind von Fest zu Fest. Man muss sich, sofern man ein Mensch ist, nur im Dezember in Manhattan, Queens oder Brooklyn am richtigen Tag zur richtigen Stunde vor einen Engel setzen. Sobald es dunkel geworden ist, setzt man sich hin und wartet. Man wartet nicht lange, man wartet eine Stunde oder zwei und plötzlich ist der Engel fortgeflogen. Nach Süden ist er geflogen, oder nach Norden, auf kürzestem Weg vorbei an bebenden Vögeln zur größten Kirche der Stadt. Dort nimmt der Engel unter Engeln Platz. Überall sitzen sie inzwischen bis unter die Gewölbe, auf der Kanzel, den Betstühlen, den heiligen Figuren, auch auf den Mosaiken des Bodens, den Chören, dem Altar, den Verstrebungen der Kreuze, den Knochenfiguren, ja, auf Christus selbst haben sie Platz genommen. Sie sind alle sehr leicht. Im Grunde wiegen sie nichts. Sie sind von der Schwere eines Wunsches und sprechen in einer von keinem Forscher erschlossenen Sprache. Fröhliche Engelgestalten, jawohl. Sie lachen, das Lachen der Engel, wie tolle Fledermäuse lachen sie, so hell. Dann, kurz nach Mitternacht ist’s geworden, kommt einer der drei großen Engel, immer kommt nur einer von ihnen und immer kommt er zu spät, wurde aufgehalten im Auftrag befindlich, einmal ist es Gabriel, dann Raphael, dann Michael. Sehr langsam, ein Künstler des Fliegens, schwebt er herein, nimmt Platz auf den Stufen, schlägt die Beine übereinander und leuchtet. Ruhig sieht er unter die Versammlung, während er seine gewaltigen Schwingen hinter dem Rücken faltet. Jetzt werden die kleinen Engel andächtig und still. Vereinzelt kommt noch ein vergesslicher Kundschafter durchs Kirchenschiff gerast, da und dort trudelt ein betrunkenes Federwesen von höherer Stelle. Ist dann alles schön geordnet, erhebt der Erzengel seine Stimme. Es ist ein Singen, ein wunderbarer Altsopran, eine unerhört schöne Sprache. Er sagt: Guten Abend, Engel.
napapiin
india : 6.22 — Schaute gegen den Himmel. Bemerkte, dass sich die Dunkelheit wie eine Flüssigkeit verhielt. Vögel hüpften in dieser feuchten Lichtlosigkeit in Kastanienbäumen von Ast zu Ast, ein traumartiges Bild. Vielleicht habe ich etwas gesehen, das ich nur deshalb beobachten konnte, weil ich ohne jeden Grund auf der Straße stand, wie aus einem Versehen heraus, ein Mann, der die falsche Tür genommen hatte. Jetzt, etwas später, ahne ich, dass ich dort vor dem Haus gelandet war, weil ich insgeheim wünschte, mit meinen Gedanken an den gewaltsamen Tod eines Torhüters, unter freiem Himmel zu stehen. Und wie ich so wartete, hörte ich die Stimme seiner mutigen, jungen Frau in meinem Kopf, eine Stimme, die versuchte, von all dem Wahnsinn, dem Wahnsinn des Verheimlichens zu sprechen. Da war einmal ein Mensch gewesen, der nicht weiterleben konnte, der sterben musste, weil er seine Verletzlichkeit, seine Schwäche, seine Menschlichkeit nicht zeigen durfte oder glaubte, sie nicht zeigen zu dürfen. So könnte das gewesen sein. Ein Mensch, der lange Zeit über Wasser hastete. So weit ist er gelaufen, dass kein Land mehr zu sehen, kein Laut mehr zu hören gewesen war. — 2 Uhr und fünfzehn Minuten. Die Welt dreht sich, um einen Atemzug langsamer geworden, weiter, immer weiter. Soeben wurde amtlicherseits die Öffnung folgender Weihnachtspostämter, nördliche Hemisphäre, bekannt gegeben: Nordpol-Grönland Santa Claus Nordpolen, Julemandens Postkontor DK-3900 Nuuk / Finnland Santa’s Main Post Office FIN-96930 Napapiin / USA Santa Claus Indiana 47579.
schneelicht
delta : 0.14 – Von einer Reise himmelwärts geträumt. Suchte auf Bildschirm nach Fährschiffverbindungen Athen – Santorini und stieß auf eine seltsame Offerte. Der Text zu einer Fotografie, die eine Formation wilder Gewitterwolken zeigte, lautete in etwa so: Tagesreise ins Jenseits. Buchen Sie noch heute. Flüge ab London, Madrid, München, auch an Sonntagen, stündlich. Unverzüglich flog ich los. Eine äußerst kurze Reise, ein Wimpernschlag nur und das Flugzeug landete in einem schneeweißen Raum ohne jede Begrenzung. Ich erinnere mich, dass ich eine Flugbegleiterin, die nahe der Gangway wartete, fragte, ob es an diesem Ort jemals dunkel werden würde, ich könne im Hellen nicht schlafen. Sie antwortete lächelnd: Wenn Sie hier einmal für immer angekommen sein werden, müssen sie nie wieder schlafen. – Kurz nach Mitternacht. Ein Buch Julio Llamazares’ liegt vor mir auf dem Schreibtisch. Ich habe das Buch geöffnet, um nach einem zärtlichen Satz zu sehen. Der Satz ist auf Seite 4 einer feinen Sammlung erzählender Stummfilmszenen zu finden. Er geht so: Für meine Mutter, die schon Schnee ist. — stop
djuna barnes
tango : 6.38 – Mit Blitzen, die Himmel und Erde verbinden, ist das so eine Sache. Man hört sie nicht kommen. Sie sind immer Erinnerung, nie Ereignis, haarfeine Dampfluftröhren, die Erscheinung erzeugen. Unlängst, während ich im Regen spazierte, muss ich von einem Blitz dieser Art getroffen worden sein, weil ich kurz darauf auf einer Rolltreppe Djuna Barnes gesichtet habe. Sie fuhr nach unten, ich nach oben. Ein faszinierender Anblick. Da waren ein Paar heller, eleganter Schuhe, ein dunkelgrünes, verwegen geschnittenes Kleid, weiterhin ein blauer Sommerhut. Dieser Hut nun brannte lichterloh auf ihrem Kopf. Eine Art Feuer war das gewesen, das ölig rußte, und als sie nahe herangekommen war, auf gleiche Höhe ungefähr, Ruß auch auf ihrer Nase. Dann wachte ich auf und hörte noch, wie ich zu mir sagte: Es regnet. – Diese kleine Geschichte ereignete sich vor etwa einer Stunde. Gerade eben wird es hell und es regnet tatsächlich, weshalb ich im Moment nicht ganz sicher bin, wo ich mich eigentlich befinde. — stop
lichtpelz
lima : 0.02 – In einer frühzeitigen Erinnerung, die ich gestern, während ich eine filmische Erzählung der Stadt Istanbul beobachtete, erreichen konnte, sind keine menschlichen Wesen zu entdecken, doch Körper von Licht. Ich liege in einem schwankenden Schiff, das durch eine Straßenbahn fährt. Über mir die Wärme der Glühbirnen, Glaskolben, in welchen wirkliches Feuer enthalten ist. Draußen, im Dunkeln, Schneeflocken, die aus sich selbst heraus zu leuchten scheinen, Lichtpelzfetzen. — Ich frage mich gerade, ob diese Erinnerung nicht eine ausgemalte Erinnerung sein könnte, Filmbildern nachgezeichnet. Aber da sind der Duft von gebrannten Mandeln und das Schrillen einer Klingel und das Geräusch einer Stimme, die später einmal sagen wird: Max-Weber-Platz. — stop
abendsegeln
echo : 0.01 — Der Versuch, im Garten die Dämmerung des Abends mit meinen Augen, also mit meinem Gehirn zu begreifen. Es ist wieder einmal sonderbar, ich habe einen Knoten in meinem Kopf. Immer genau dann, wenn ich sagen wollte: Schau her, vor einer Sekunde ist es ein wenig dunkler geworden, war ich mir nicht sicher, ob ich nicht irrte, weil ich das Dunkelwerden nicht eigentlich gesehen, sondern vielmehr gefühlt oder angenommen hatte. Einmal schloss ich meine Augen für zwei Minuten und hoffte vergeblich, mir das Lichtbild merken zu können, das ich zuletzt gesehen hatte. Und doch habe ich eine feine Entdeckung gemacht. Sobald ich im Dunkeln mein Gehirn mit meinen Lidern bedecke, wird das Dunkel heller. Ich muss das im Auge behalten! — stop
loop
sierra : 0.08 — Geschichten, die sich gut begründet wiederholen, vertraut gewordene Geschichten. Diese hier, zum Beispiel, im Februar 2008 aus der Luft gefischt: Da war mir doch in den Zeiten der Vogelgrippe, bei kleineren Turbulenzen, im Gang eines Flugzeuges eine uralte Lady entgegengekommen, deren Gesichtszüge mich sofort an Coco Chanel erinnerten. Von zierlicher Gestalt trug sie einen dunklen Mantel, leichte, flache Schuhe und machte Schritte wie ein Matrose auf hoher See. Vor allem ihr schlohweißes Haar und ihr äußerst willensstarker Blick sind nah geblieben, auch ihr hellrot geschminkter Mund, der mindestens achtzig Jahre alt gewesen sein musste, und doch beinahe wirkte wie der Mund einer jungen Frau. Eines Abends, während ich einer Nachrichtensendung folgte, erinnerte ich mich an diese seltsame Frau, und ich stellte mir vor, wie sie aus der dritten Etage eines Mietshauses in den Keller steigt, um ein Rollwägelchen zu suchen, das sie dort für immer abgestellt hatte, nachdem sie beim Einkaufen um ein Haar gestürzt war. Es ist also früher Morgen, es ist Winter und noch dunkel, als die alte Dame das Haus verlässt. Ich sehe sie mit vorsichtigen Schritten in ihrem Mantel und Pelzstiefelchen über die Straße gehen. An der ersten Ampel biegt sie nach links ab, überquert einen Platz, folgt einer weiteren schmalen Straße, jetzt ist sie vor einem Supermarkt angekommen. Sie stellt ihr Rollwägelchen in der Nähe der Kasse ab, geht in die Getränkeabteilung und nimmt eine Flasche Wasser aus dem Regal. Sie trägt die Flasche zu ihrem Wägelchen, kehrt zurück, nimmt sich die nächste Wasserflasche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägelchen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heimweg über die Straße gezogen wird. — Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hauses angekommen. — Jetzt stellt sie das Wägelchen neben die Treppe, die zur Haustüre führt. — Jetzt ist sie mit einer der Flaschen im Haus verschwunden. — Zehn Minuten vergehen. Dann erscheint sie wieder auf der Straße. Sie hat ihren Mantel ausgezogen, trägt eine graue Jacke und Sportschuhe. Kurz, für zwei oder drei Sekunden, hält sie sich am Geländer der Treppe fest. — stop
im albtraum
tango : 0.05 — Ich hatte ein Museum geträumt, ein Albtraum, ein Museum, dessen Säle für Besucher zur Nachtzeit nur geöffnet waren. Folgendes: Eine Spielzeugmaschine erhebt sich dort, Saal 107, von einem Tisch, eine Stadt ohne Staub. Da sind Häuser, Baracken, geschotterte Wege, Mauern, ein Platz. Und Bäume sind da noch. Und Schienen. Und Türme. Hölzerne Türme. Gusseiserne Lampen. Scharfes Licht, weißes Licht, Gewitterlicht. Kein Laut, kein Schatten, keine Bewegung. Aber in den Kronen der Bäume, Unruhe, bebendes Warten. Es ist wieder die sechste Sekunde, dann die siebte, dann die achte. Jetzt geht alles sehr schnell vonstatten. Ein heller Ton, ein Pfiff, kaum hörbar. Eine Lokomotive, weißer Dampf, rast auf Schienen aus dem Halbdunkel jenseits der Umzäunung heran, ein Zug, ein langer Zug. Auch in die Stadt ist nun Bewegung gekommen. Personen. Vögel. Hunde. All das so voran, als wäre es aufgezogen, würde sich entladen, ruckartig, als habe man einem Film Sekunde für Sekunde Bilder entnommen. Der Zug stoppt. Figuren, Menschenfiguren, Hunderte, auch Kinderfiguren, fließen aus Waggons, formieren sich zu einer Linie, die sich bald teilt. Wispern und Zwitschern. Dann Rauch. Nadeln von schwarzem Rauch. Rauch bis zur Himmelsdecke. Und Geruch. Ein seltsamer Geruch, sehr senkrecht, seltsam, Geruch von geschmolzenem Metall, von Zinn, süß, von Gebäck. Alles ist wie von Sand beworfen, so eingefärbt, auch jene Menschen, die klein sind und schnell und bald schon verschwunden, waren von der Farbe hellen Sandes. Dann wieder Stille. Keine Bewegung. Nur die Bäume, das Blattwerk, unruhig. — stop