Aus der Wörtersammlung: eiche

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staten island ferry : blizzard

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papil­le : 16.28 — Eigen­ar­tig, das Ver­hal­ten der Papie­re, das Ver­hal­ten mei­ner Hän­de, mei­ner Blei­stif­te. Seit ich wie­der stun­den­wei­se mit ein­fachs­ten Werk­zeu­gen notie­re, mit Werk­zeu­gen, die ohne Elek­tri­zi­tät funk­tio­nie­ren, der Ver­dacht, dass von eigen­sin­ni­ger Natur ist, was ich auf klei­ne­re oder grö­ße­re Zet­tel schrei­be. Mei­ne Wör­ter wol­len sich nicht auf Lini­en legen, sie wol­len flie­gen, wes­halb sie über den Zei­len auf­wärts stei­gen. An einem ande­ren Tag, wie­der einem Tag ohn­mäch­ti­ger Hori­zon­te, sin­ken sie, ohne dass ich prä­zi­se sagen könn­te, war­um es an dem einen Tag auf­wärts und an dem ande­ren Tag abwärts­ge­hen will, immer­hin war jeweils nur ein wenig Schlaf zwi­schen da und dort zu ver­zeich­nen gewe­sen. Auch mit den Buch­sta­ben habe ich Mühe, mal bricht die Blei­stift­spit­ze, dann wie­der ist ein Zei­chen gemalt, das man doch eher für ein ganz ande­res hal­ten möch­te. Die Buch­sta­ben Z und G sind beson­ders wider­spens­ti­ge Gestal­ten, und das S und das A machen schon immer, was sie wol­len. Dage­gen sind das I und das M an jedem mei­ner Arbeits­ta­ge zuver­läs­si­ge Erschei­nun­gen, Wel­le und Giraf­fen­hals, schlicht und weich. Ich neh­me das jetzt, gera­de wie es kommt, in aller Ruhe. — stop

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staten island ferry : prozession

9

nord­pol : 5.55 – Eine Geschich­te ist zu erzäh­len an die­sem Mor­gen küh­ler Luft kurz vor Sep­tem­ber. Die­se Geschich­te ereig­ne­te sich bereits vor­ges­tern, nachts, bei mir zu Hau­se, weil ich mich nicht ent­schei­den konn­te, was ich unter vie­len Din­gen, die zu tun gewe­sen waren, zunächst erle­di­gen soll­te, also mach­te ich alles zur glei­chen Zeit. Ich hat­te eine Enten­brust zu Mor­cheln und Pflau­men gelegt. Außer­dem hat­te ich mir vor­ge­nom­men, ein wei­te­res ana­to­mi­sches Ton­band abzu­hö­ren, eine jugend­li­che Stim­me berich­te­te vom Dach des Kühl­schran­kes aus lei­se vor sich, wäh­rend ich kochend Fern­seh­bil­der eines Hur­ri­kans beob­ach­te­te, der sich auf die Stadt New York zube­weg­te. > Wenn ich von mei­nen Wochen im Prä­pa­rier­saal spre­che, dann spre­che ich ger­ne von mei­ner Traum­zeit. stop > Zu die­sem Zeit­punkt, das ist fest­zu­hal­ten, war ich nicht ganz bei der Sache gewe­sen, nicht wirk­lich in der Nähe der Gedan­ken, die ein jun­ger Mann für mich aus­ge­spro­chen hat­te, ande­rer­seits auch nicht aus­rei­chend kon­zen­triert auf das Gesche­hen jen­seits des Atlan­ti­schen Oze­ans. Ein­mal stell­te ich den Ton des Fern­seh­ge­rä­tes lau­ter, wen­de­te die Brust des Vogels in der Pfan­ne und hör­te genau in die­sem Moment, der Schiffs­ver­kehr um Man­hat­tan her­um sei ein­ge­stellt, das war kurz nach Mit­ter­nacht euro­päi­scher Zeit gewe­sen. Ich mein­te außer­dem gehört zu haben, man sei gera­de damit beschäf­tigt, die Fäh­ren der Sta­ten Island Ver­bin­dung den Hud­son River hin­auf, in eine siche­re Umge­bung zu trans­fe­rie­ren. Ein fei­nes Bild, das sich vor mei­nen Augen sofort ent­wi­ckel­te. Acht oran­ge­far­be­ne Schif­fe in einer Rei­he hin­ter­ein­an­der auf dem gro­ßen Fluss, Schif­fe, die sich gewöhn­li­cher­wei­se pen­delnd anein­an­der vor­bei­be­we­gen. Ich stürm­te aus der Küche, in der Hoff­nung auf dem Fern­seh­schirm ein Bild zu sehen, das dem gera­de eben noch in mei­nem Kopf ent­wor­fe­nen Bild ähn­lich gewe­sen sein könn­te. Anstatt einer Fähr­ge­schich­te, war nun jedoch vom Regen die Rede, von den Win­den des Hur­ri­kans, die über den feuch­ten Strand nahe der Stadt Oce­an Pines feg­ten. Ein Repor­ter, der tropf­te, ver­harr­te tap­fer, Füße im Was­ser, vor einer Fern­seh­ka­me­ra, die in grö­ße­rer Ent­fer­nung, dem­zu­fol­ge sicher, mon­tiert gewe­sen war. Er hielt ein Mikro­fon in der Hand, das merk­wür­dig fau­chen­de Geräu­sche erzeug­te. Möwen, spit­ze gel­be Schnä­bel in den Sturm gerich­tet, ver­harr­ten in sei­ner Nähe, sie mach­ten einen zufrie­de­nen Ein­druck, authen­ti­sche Tie­re, wäh­rend ich, wei­ter­hin die Pro­zes­si­on der Fähr­schif­fe im Kopf, zurück in die Küche spa­zier­te. Ein selt­sa­mes Gefühl von Nicht­wirk­lich­keit in der Nähe mei­ner Feu­er­stel­le, ein gro­ßes Durch­ein­an­der, das ich zu sor­tie­ren ver­such­te, in dem ich bis in den frü­hen Mor­gen des Sonn­tags hin­ein, auf allen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Kanä­len ver­geb­lich Bewei­se dafür zu fin­den such­te, dass Fähr­schif­fe der Sta­ten Island Ver­bin­dung sich tat­säch­lich an die­sem spä­ten Sams­tag­abend, als ich mich nicht ent­schei­den konn­te, auf dem Hud­son River strom­auf­wärts beweg­ten. — stop. — Ende der Geschich­te. — stop

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tiefenschatten

2

char­lie

~ : oe som
to : louis
sub­ject : SCHATTEN
date : aug 18 11 5.12 p.m.

Seit zwei Tagen bereits kei­ne Nach­richt aus der Tie­fe. Wir hören Noes Atem, wir ver­zeich­nen das Gewicht sei­nes Tau­cher­an­zu­ges an der Win­de des Schif­fes. Noe ist noch bei uns, aber kein Wort zu hören von Noe. Weder ant­wor­tet er auf Fra­gen noch folgt er unse­rem Wunsch, er möge doch wei­ter lesen in Tony Mor­ri­sons Roman Jazz. Wir hat­ten das Buch am ver­gan­ge­nen Mon­tag zu ihm in die Tie­fe geschickt. Noe las noch an dem­sel­ben Abend drei Stun­den, dann war er ein­ge­schla­fen. Seit­her schweigt Noe, wes­halb Mil­ler sich vor Stun­den­zeit zur Inspek­ti­on auf den Weg nach unten begab. 2 Fuß in der Minu­te, schnel­ler geht das nicht, schnel­ler wür­de Mil­ler das Leben kos­ten, wir müs­sen uns gedul­den. Fünf Stun­den noch, dann wird Mil­ler Noe errei­chen, eine span­nen­de Situa­ti­on, viel­leicht wird auch Mil­ler dann schwei­gen, das ist denk­bar, eine beun­ru­hi­gen­de Vor­stel­lung wie unse­re bei­den Tief­see­män­ner schwei­gend in der Düs­ter­nis schwe­ben, wie sie sich viel­leicht unter­hal­ten wer­den in der Zei­chen­spra­che der Tau­cher. — Habe ich Dir, lie­ber Lou­is, berich­tet, dass es vor weni­gen Tagen schnei­te? Noch nie habe ich Schnee auf offe­ner See beob­ach­tet. See­mö­wen jagen dicht über die Was­ser­ober­flä­che hin. Es sieht so aus, als wür­den sie Flo­cken fan­gen, mäch­ti­ge Tie­re, gel­be Schnä­bel, hell­brau­ne Flü­gel. Sie wir­ken in etwa ver­klei­det, Möwen­vö­gel, die sich in Kos­tü­men jun­ger Habich­te bewe­gen, ihre schril­len Rufe, ein wei­te­res Dut­zend sitzt auf unse­rem Funk­turm, Eis­zap­fen haben sich gebil­det, Wol­ken kom­men näher, berüh­ren das Was­ser. Mil­ler ist in die­sem Moment auf fünf­hun­dert Fuß Tie­fe ange­kom­men. Unter ihm, mel­det Mil­ler, sei in der Dun­kel­heit Noe zu erken­nen, das Licht sei­ner Lam­pen. Ein gewal­ti­ger Kör­per­schat­ten soll vor ihm zu sehen sein. Ich mel­de mich bald wie­der. Dein OE

gesen­det am
18.08.2011
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ping

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PRÄPARIERSAAL : skalpell

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romeo : 3.05 — Ich habe das Fau­chen eines Schwans gehört. Zunächst war ich mir nicht sicher gewe­sen, ob ich mich nicht viel­leicht geirrt haben könn­te, ein Nach­ge­räusch, dach­te ich, ein Schat­ten in den Ohren, wie in den Augen Nach­bil­der ent­ste­hen, weil ich am Abend wirk­li­chen, fau­chen­den Schwä­nen im Pal­men­gar­ten begeg­net war. Also spul­te ich das Band zurück und hör­te noch ein­mal genau­er hin, und da war das luf­ti­ge Geräusch tat­säch­lich wie­der zu hören gewe­sen, in einer Atem­pau­se Emi­lys, deren Stim­me ich im Nym­phen­bur­ger Schloss­park auf­ge­zeich­net hat­te. Sie woll­te Spa­zie­ren­ge­hen. Sie hat­te gesagt, sie kön­ne sich bes­ser kon­zen­trie­ren in Bewe­gung, vor allem bes­ser schwei­gen, nach­den­ken im Gehen. Win­ter­zeit, Schnee lag hoch bis zu den Knien und die Schwä­ne fauch­ten hung­rig. Emi­ly nun, so wie sie gespro­chen hat­te, ohne Pau­sen an die­ser Stel­le, weil ich ihr Schwei­gen in den Zei­chen ent­fern­te: > Bevor ich erzäh­le, wie ich die Öff­nung des Kör­pers erlebt habe, möch­te ich erwäh­nen, dass die­ser ers­te Tag und auch der zwei­te Tag für mich nur schwer zu ertra­gen gewe­sen sind. Ich war beein­druckt von der gro­ßen Zahl der Tische, die in den Apsi­den stan­den. Ganz ehr­lich, ich war ein­ge­schüch­tert. Ich fühl­te mich unsi­cher und unbe­deu­tend und ich glau­be, vie­le ande­re haben sich selbst auch so wahr­ge­nom­men. Man will das natür­lich nicht zei­gen. Man wünscht sich, sou­ve­rän zu sein. Aber ich muss­te mich über­win­den, den Kör­per über­haupt nur zu berüh­ren. Da war ein Wider­stand in mir, dem ich bis heu­te noch nach­spü­ren kann Ich habe meh­re­re Ver­su­che unter­nom­men und hat­te plötz­lich gro­ße Angst, dass ich das über­haupt nie­mals könn­te. Aber mei­ne Freun­de am Tisch waren sehr ver­ständ­nis­voll. Sie haben mich nicht gedrängt und auch unser Tischas­sis­tent nicht. Er sag­te, dass das ganz nor­mal sei und dass ich mich beru­hi­gen sol­le und ganz ruhig atmen. Ich hat­te eine irgend­wie ver­zerr­te Wahr­neh­mung, alles war so laut um mich her­um und ich bekam schlecht Luft. Ich bin dann erst ein­mal aus dem Saal geflüch­tet. Eine Freun­din hat mich beglei­tet und wir sind auf dem Flur hin- und her­ge­lau­fen. Und dann woll­te sie zurück und ich folg­te. Ich erin­ne­re mich an den grü­nen Kit­tel unse­res Assis­ten­ten. Er beug­te sich gera­de über den Kör­per des Toten und zog das Skal­pell vom Kinn in Rich­tung des Nabels. Ich wun­der­te mich, dass man gar nichts hören konn­te. Ver­ste­hen Sie, ich kann mir heu­te noch nicht erklä­ren, war­um ich ein Geräusch erwar­tet habe. Man konn­te auch kei­ne Spu­ren eines Schnit­tes erken­nen. Dann ist etwas Merk­wür­di­ges mit mir gesche­hen. Ich habe mei­ne Posi­ti­on am Tisch wie­der ein­ge­nom­men, das heißt, ich habe mich wie­der zu mei­ner Grup­pe gestellt. Ich habe mei­ne Hand­schu­he ange­zo­gen, mein Skal­pell aus­ge­packt und mei­ne Pin­zet­te und dann habe ich ange­fan­gen zu arbei­ten. Ich will das so sagen, ich habe den Kör­per auf dem Tisch zunächst mit dem Skal­pell berührt und dann mit mei­nen Hän­den. Ich war sehr glück­lich gewe­sen, dass ich mich über­win­den konn­te. Immer wie­der ist aber das Gefühl einer gewis­sen Unwirk­lich­keit zurück­ge­kehrt, der Ein­druck an die­sem Ort deplat­ziert zu sein, fremd oder so etwas. Sobald ich dann etwas getan habe, wenn ich gear­bei­tet habe, wenn ich also prä­pa­riert habe, ging das gut mit mir. Ich glau­be, ich war eine von jenen, die stets tief über das Prä­pa­rat gebeugt waren, ich bin sehr schnell in den Saal zum Tisch gelau­fen, und wenn ich fer­tig war, habe ich den Saal so rasch wie mög­lich wie­der verlassen.

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manhattan transfer

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fox­trott

~ : oe som
to : louis
sub­ject : DOS PASSOS
date : july 31 11 5.15 p.m.

Anstren­gen­de Tage lie­gen hin­ter uns, Regen, stür­mi­sche Win­de, schwe­rer See­gang, Peli­ka­ne krei­sen hoch über dem Schiff. Vor zwei Tagen zuletzt schick­ten wir Dos Pas­sos’ Roman Man­hat­tan Trans­fer zu Noe hin abwärts. Ein schwe­res Buch, das in vier­hun­dert Fuß Tie­fe von einer war­men süd­li­chen Strö­mung abge­trie­ben wur­de, bald dar­auf in einer Pen­del­be­we­gung der­art hef­tig nord­wärts gezo­gen wur­de, dass wir fürch­te­ten, Noe könn­te von dem Gewicht des Romans getrof­fen oder das Buch von der Sen­k­lei­ne in uner­gründ­li­che Tie­fen fort­ge­ris­sen wer­den. Drei Stun­den spä­ter hielt Noe John Dos Pas­sos in Hän­den. Unser Tau­cher bemerk­te sogleich, dass es sich bei die­sem wei­te­ren Unter­was­ser­buch um ein beson­de­res Werk han­deln muss­te, eine umfang­rei­che Satz­ver­samm­lung, von innen her, Sei­te für Sei­te, Zei­chen für Zei­chen apri­ko­sen­far­ben sanft beleuch­tet. In der­sel­ben Minu­te, da Noe das Buch öff­ne­te, begann er laut zu lesen. Er las drei Stun­den, dann schlief er kurz ein, um noch im Halb­schlaf befind­lich sei­ne Lek­tü­re fort­zu­set­zen: Die Son­ne ist nach Jer­sey gerückt, die Son­ne steht hin­ter Hobo­ken. Hül­len schnap­pen über Schreib­ma­schi­nen, Roll­la­den­schreib­ti­sche schlie­ßen sich. Auf­zü­ge fah­ren leer in die Höhe, kom­men voll­ge­pfropft her­un­ter. Es ist Ebbe in der City, Flut in Flat­bush, Wood­lawn, Dyck­man Street, Sheep­s­head Bay, News Lots Ave­nue, Can­ar­sie. Rosa Zei­tun­gen, grü­ne Zei­tun­gen, graue Zei­tun­gen. Sämt­li­che Bör­sen­kur­se. Sport­re­sul­ta­te. Let­tern wir­beln über laden­mü­de, büro­mü­de schlaf­fe Gesich­ter, wun­de Fin­ger­spit­zen, schmer­zen­de Fuß­ris­te, mus­ku­lö­se Män­ner, Gedrän­ge im U‑Bahn-Express. — Kurz vor Son­nen­un­ter­gang. Das Meer sucht nach uns, mit Zun­gen von Gischt. Ein rie­si­ger Schwarm Makre­len nähert sich von Nor­den her, unge­heu­re Bewe­gung, wie eine rie­si­ge Hand fährt sie auf dem Radar­schirm lang­sam die Küs­te ent­lang. Noe wünscht, eine Foto­gra­fie John Dos Pas­sos’ zu sehen. So etwas hat’s noch nie gege­ben. — Ahoi! Dein OE

gesen­det am
31.07.2011
1962 zeichen

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räume

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ulys­ses : 20.02 — Tat­säch­lich scheint das schrei­ben­de Den­ken ein Den­ken zu sein, das unver­züg­lich Kör­per von Zei­chen bil­det. Ich den­ke Wort für Wort gebremst, ich den­ke gera­de so schnell ich schrei­ben kann. Von Wör­tern aus eröff­nen sich Räu­me, die ohne die Arbeit der Hän­de im Ver­bor­ge­nen blei­ben. — stop

ping

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PRÄPARIERSAAL : namen

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marim­ba : 22.51 — Feuch­te Flie­gen lun­gern am Abend auf dem Boden her­um. Das sanf­te, ein­schlä­fern­de Geräusch des Was­sers, Dun­kel­heit kommt bald aus den Wol­ken gefal­len. Unter dem Schirm dort wei­ter ana­to­mi­sche Ton­bän­der ver­zeich­net. Vero­ni­ka* erzählt eine fei­ne Geschich­te, die ich bei­na­he genau so wie­der­ge­be, wie ich sie vor weni­gen Minu­ten hör­te: > Ich ste­he vor einem Tisch und betrach­te einen Kör­per. Das ist ein Bild, das ich nicht erfun­den habe, ein Bild, das jetzt zu mei­nem Leben gehört. Eine Frau, die in einem wei­ßen Kit­tel vor einem Tisch steht, auf dem ein Mensch liegt, der tot ist. Ich habe mit den Ursa­chen die­ses Todes nichts zu tun, ich emp­fin­de kei­ne Trau­er, aber Respekt. In den ers­ten Minu­ten im Saal am Tisch habe ich nicht sehr geord­net, nicht sys­te­ma­tisch jeden­falls nach­ge­dacht. Ich glau­be, ich habe zunächst ver­sucht, ein Gefühl, ein geeig­ne­tes Gefühl für die­se Situa­ti­on zu fin­den, eine Posi­ti­on, mei­ne Posi­ti­on. Kurz zuvor waren wir noch im Hör­saal gewe­sen. Unser Pro­fes­sor hat­te ein Prä­pa­rat mit­ge­bracht. Die­ser hel­le Kör­per, der weit ent­fernt in einem Oval unter den hoch auf­ra­gen­den Sitz­rei­hen auf einer Bah­re lag, hat­te etwas Ein­sa­mes an sich. Als ich mich dann an mei­nem Tisch ste­hend über den Kör­per eines Man­nes beug­te, den ich in den fol­gen­den Wochen zer­le­gen wür­de, such­te ich unwill­kür­lich nach Spu­ren, die zu einer Vor­stel­lung füh­ren könn­ten, wie er ein­mal leb­te. Aber da war nichts, was mich mit sei­ner Zeit noch ver­bin­den konn­te, kein Name. Das Haar des Man­nes war ent­fernt, an sei­nen Ohren waren höl­zer­ne Schil­der ange­bracht, auch an sei­nen Hand­ge­len­ken und an sei­nen Füßen, sein Gesicht war ohne jeden Aus­druck. Ich erin­ne­re mich, der Mann wirk­te weder fried­lich noch so, als wür­de er nur schla­fen, da waren weder Zei­chen einer lan­gen Lei­dens­zeit noch Spu­ren eines Kamp­fes. Das Gesicht war leb­los, ein Gesicht ohne Aus­strah­lung, ohne Elek­tri­zi­tät. Der Kör­per erin­ner­te mich an eine gro­ße Pup­pe, er hat­te etwas Sche­ma­ti­sches, aber viel­leicht war das bereits mein Blick, mei­ne Per­spek­ti­ve gewe­sen, die die­sen Ein­druck erzeug­te? Ein Bein und noch ein Bein. Ein Arm und noch ein Arm, und ein Kopf. Ich konn­te das bald gut, die­sen Mann, die­sen Kör­per betrach­ten. Ich war ganz ent­spannt dabei. Ich wuss­te auch, dass sich die­ser Kör­per sehr rasch ver­än­dern wür­de in der Fol­ge mei­ner Arbeit. Ich war der fes­ten Über­zeu­gung, dass wir dem Toten kei­nen Namen geben soll­ten. Ich war sehr froh, dass ich nicht wuss­te, wie sein Name lau­te­te, als er noch leb­te. Ich habe, kurz­um, ver­sucht, die­sen Kör­per auf dem Tisch als ein Prä­pa­rat zu betrach­ten, als eine für uns kost­ba­re Hül­le, als ein Ver­mächt­nis. Mei­ne Kom­mi­li­to­nen haben ihm einen Namen gege­ben, aber wir haben uns des­halb nicht gezankt. Ich habe mich an der Suche nach einem Namen ganz ein­fach nicht betei­ligt. - stop

* Name geändert
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menschen und hände

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echo : 23.55 — Der beru­hi­gen­de Gedan­ke, dass ich mich in New York zu irgend­ei­nem Men­schen an irgend­ei­nen Tisch set­zen könn­te und dar­um bit­ten, eine sei­ner Hän­de neben eine mei­ner Hän­de zu legen. Sogleich wür­den wir erken­nen, wie ähn­lich wir uns sind. Auch ein Tisch ver­glei­chen­der Hän­de in einer Bar am Strand von Min­de­lo wäre mög­lich, Hän­de auf dem Markt­platz von Bamako oder Hän­de in einem Nacht­klub der Stadt Bue­nos Aires, einem Tabak­wa­ren­la­den zu Bar­ce­lo­na, einer Spiel­hal­le in Tokio. Wenn nun aber da oder dort an einer der vor­ge­zeig­ten Hän­de ein Fin­ger feh­len wür­de, dann wäre das je bereits eine ganz eige­ne Geschich­te. stop. Amy Wine­house ist im Alter von 27 Jah­ren gestor­ben. — stop

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isaac bashevis singer

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sier­ra : 22.55 — Mitt­woch. Abend. Wei­ter­hin Regen. Regen auch wäh­rend ich schlief. Ich konn­te ihn hören bis­wei­len, wenn ich auf­tauch­te, ohne ganz wach zu wer­den. Von irgend­wo­her jetzt ein Geräusch, pling, pling, und Isaac B. Sin­gers hel­le und zugleich raue Stim­me, indem sie eine Geschich­te erzählt, die ich in den ver­gan­ge­nen Tagen wie­der und wie­der hör­te. Die Geschich­te geht so: Kurz nach mei­ner Ankunft (in Ame­ri­ka) betrat ich zum ers­ten Mal eine Cafe­te­ria, ohne zu wis­sen, was das ist. Ich hielt es für ein Restau­rant. Ich sah lau­ter Leu­te mit Tabletts und frag­te mich, war­um man in so einem klei­nen Restau­rant so vie­le Kell­ner brauch­te. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vor­bei­kam, ein Zei­chen. Ich hielt sie alle für Kell­ner und woll­te etwas bestel­len. Aber sie igno­rier­ten mich, man­che lächel­ten auch. Und ich dach­te, was für ein unwirk­li­cher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein klei­nes Café mit so vie­len Kell­nern, und nie­mand beach­tet mich! Irgend­wann begriff ich, was eine Cafe­te­ria ist. Sie wur­de mein zwei­tes Zuhau­se. Die Cafe­te­ri­en wur­den eine Art Zuhau­se für Flücht­lin­ge aus Polen, Russ­land und ande­ren Län­dern. Vie­le mei­ner Geschich­ten spie­len in Cafe­te­ri­en, wo all die­se Men­schen auf­ein­an­der­tra­fen: die Nor­ma­len, die weni­ger Nor­ma­len und die Ver­rück­ten. Das ist also der Hin­ter­grund mei­ner Geschich­ten, die in Cafe­te­ri­en spie­len. — stop

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taubenstadt

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hima­la­ya

~ : oe som
to : louis
sub­ject : PIGEONS
date : july 17 11 8.15 a.m.

Seit ges­tern end­lich wie­der ruhi­ge See, ein wol­ken­lo­ser Him­mel über uns. Noe, wohl­auf in 550 Fuß Tie­fe, liest Javier Tome­os Tau­ben­stadt. Groß­ar­ti­ges Buch. Vor 10 Tagen haben wir damit begon­nen, Noes Stim­me auf­zu­neh­men. Wun­der­vol­le Funk­ge­räu­sche seit­her ohne Unter­bre­chung. Als wir Noe berich­te­ten, dass wir sei­ne lesen­de Stim­me ver­zeich­nen, dass man ihm zuhö­ren kön­ne in Lis­sa­bon, in Lima, in Shang­hai, dass er eine Sen­sa­ti­on sei, ein Mann, der das Lesen was­ser­fes­ter Bücher erprobt, ein Mann im Tau­cher­an­zug, ein Mann, der seit 820 Tagen im Atlan­tik vor Neu­fund­land lebt, eine mensch­li­che Sta­ti­on, ein beleuch­te­ter Kör­per in Licht­lo­sig­keit, – seit wir ihm gebeich­tet haben, dass wir ihn kon­ser­vie­ren, scheint Noes lesen­de Stim­me ruhi­ger gewor­den zu sein. Wir haben den Ein­druck, dass unser Mann nun fort jedes Zei­chen genießt, das wir ihm zur Ver­fü­gung stel­len. Nach wie vor hef­ti­ge Debat­ten über die Tem­pe­ra­tur des Tees, den wir in die Tie­fe lei­ten. Noe behaup­tet, der Tee sei zu kalt. Er wol­le in die­sem Tee weder baden noch wol­le er ihn trin­ken, wir soll­ten end­lich alle Lei­tun­gen behei­zen, die zu ihm füh­ren. Viel­leicht weil er sich dar­über hef­tig erreg­te, ver­lor Noe ges­tern, um 20 Uhr und zwölf Minu­ten, Ovids Lie­bes­kunst an das Meer. Eine Tra­gö­die. In die­sen Minu­ten, da ich Dir tele­gra­fie­re, liest Noe wie­der ruhig vor sich hin. Wir hören sei­nen Atem. Wir hören das Fun­ken der Wale. Bes­te Grü­ße Dein OE

gesen­det am
17.07.2011
1579 zeichen

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