Aus der Wörtersammlung: elle

///

8 cent

pic

del­ta : 4.18 — Vor weni­gen Stun­den, es hat­te gera­de auf­ge­hört zu reg­nen, beob­ach­te­te ich ein Rudel Eich­hörn­chen, das über das Dach eines nahen Hau­ses toll­te. Ich mein­te bis­wei­len ihre Augen durch die Dun­kel­heit blit­zen zu sehen. Wie, dach­te ich, könn­ten sie auf das Dach gekom­men sein? Was haben sie dort zu suchen? Sind sie wirk­lich auf dem Dach, oder viel­leicht nur eine Vor­stel­lung, die sich nicht ver­wirk­li­chen lässt? Als ich das Fens­ter öff­ne­te, saßen sie plötz­lich ganz still, und schau­ten zu mir her­über. Gegen drei Uhr notier­te ich einen Brief an Mr. Ben Lau­rit­zen: Sehr geehr­ter Ben Lau­rit­zen, mit gro­ßer Freu­de lese ich von Ihrem Ange­bot, wei­te­re Tex­te mei­ner par­tic­les – Arbeit von Ihrem Büro in Brook­lyn über­set­zen zu las­sen. Ich bin ver­sucht, Ihren Vor­schlag zu prü­fen, lei­der erscheint mir Ihr Ange­bot von 8 Cent je Wort noch deut­lich zu hoch, da eine For­de­rung von ins­ge­samt 31.200 Dol­lar auf mich zukom­men wür­de. Wäre es für Sie vor­stell­bar, anstatt wort­wei­se, zei­len­wei­se mit mir zu ver­han­deln? Dass es sich bei mei­nen Tex­ten nicht immer um leicht zu über­setz­te Tex­te han­delt, will ich nicht bestrei­ten, ich freue mich über ihre Bewer­tung. In die­sem Sin­ne, lie­ber Ben, war­te ich gespannt auf eine Ant­wort. Hoch­ach­tungs­voll. Ihr Lou­is – stop

manhattantransfer

///

brighton beach ave

pic

nord­pol

~ : louis
to : mrs. valen­ti­na zeiler
brook­lyn trans­la­ti­on services
23 brigh­ton beach ave,
Brooklyn
sub­ject : BRYANT PARK

Sehr geehr­te Frau Zei­ler, ich dan­ke Ihnen herz­lich für Ihre rasche Ant­wort. Ich will nun abschlie­ßend den Auf­trag ertei­len, mein unten fol­gen­des Schrei­ben in die eng­li­sche Spra­che zu über­set­zen. Ich bit­te um sorg­fäl­tigs­te Arbeit, Sie wer­den erken­nen, in die­sem Text ist von einem Rei­se­tun­nel nach Ame­ri­ka die Rede, der in mei­ner Vor­stel­lung von äußers­ter Bedeu­tung ist, ein poe­ti­scher Ent­wurf, jedes Wort scheint mir für sei­ne Ver­wirk­li­chung von hoher Bedeu­tung zu sein. Mit ver­ein­bar­ter Ver­gü­tung bin ich ein­ver­stan­den, der Betrag von 82 Dol­lar wur­de bereits ange­wie­sen. Wei­te­re Auf­trä­ge wer­de ich mit Ihnen in Kür­ze bei einem Besuch in ihrem Büro per­sön­lich bespre­chen. Darf ich an die­ser Stel­le mei­ner Ver­wun­de­rung dar­über Aus­druck geben, dass die Über­set­zung des­sel­ben Tex­tes in die chi­ne­si­sche Spra­che 122 Dol­lar kos­ten wür­de? Ich fra­ge mich, wor­in die erheb­li­che Dif­fe­renz von 40 Dol­lar begrün­det sein könn­te. Mit aller­bes­ten Grü­ßen – Ihr Louis

BRYANT PARK — 570 WÖRTER > GO /// Es hat­te Stun­den lang gereg­net, jetzt dampf­te der Boden im süd­wärts vor­rü­cken­den Nord­licht, und das Laub, das alles bedeck­te, die stei­ner­nen Bän­ke, Brun­nen und Skulp­tu­ren, die Büsche und Som­mer­stüh­le der Cafés, beweg­te sich trock­nend wie eine abge­wor­fe­ne Haut, die nicht zur Ruhe kom­men konn­te. Boule­spie­ler waren vom Him­mel gefal­len, feg­ten ihr Spiel­feld, schon war das Kli­cken der Kugeln zu hören, Schrit­te, Rufe. Wie ich so zu den Spie­lern schlen­der­te, kreuz­te eine jun­ge Frau mei­nen Weg. Sie tas­te­te sich lang­sam vor­wärts an einem wei­ßen, sehr lan­gen Stock, den ich ein­ge­hend beob­ach­te­te, rasche, den Boden abklop­fen­de Bewe­gun­gen. Als sie in mei­ne Nähe gekom­men war, viel­leicht hat­te sie das Geräusch mei­ner Schrit­te gehört, sprach sie mich an, frag­te, ob es bald wie­der reg­nen wür­de. Ich erin­ne­re mich noch gut, zunächst sehr unsi­cher gewe­sen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Sei­te und berich­te­te vom Okto­ber­licht, das ich so lieb­te, von den Far­ben der Blät­ter, die unter unse­ren Füßen raschel­ten. Bald saßen wir auf einer nas­sen Bank, und die jun­ge Frau erzähl­te, dass sie ein klei­nes Pro­blem haben wür­de, dass sie einen Brief erhal­ten habe, einen lang erwar­te­ten, einen ersehn­ten Brief, und dass sie die­sen Brief nicht lesen kön­ne, ein Mann mit Augen­licht hät­te ihn geschrie­ben, ob ich ihr den Brief bit­te vor­le­sen wür­de, sie sei so sehr glück­lich, die­sen Brief end­lich in Hän­den zu hal­ten. Ich öff­ne­te also den Brief, einen Luft­post­brief, aber da stan­den nur weni­ge, sehr har­te Wor­te, ein Ende in sechs Zei­len, Druck­buch­sta­ben, eine schlam­pi­ge Arbeit, rasch hin­ge­wor­fen, und obwohl ich wuss­te, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durf­te, erzähl­te mei­ne Stim­me, die vor­gab zu lesen, eine ganz ande­re Geschich­te. Liebs­te Mar­len, hör­te ich mich sagen, liebs­te Mar­len, wie sehr ich Dich doch ver­mis­se. Konn­te so lan­ge Zeit nicht schrei­ben, weil ich Dei­ne Adres­se ver­lo­ren hat­te, aber nun schrei­be ich Dir, schrei­be Dir aus unse­rem Café am Bryant Park. Es ist gera­de Abend gewor­den in New York und sicher wirst Du schon schla­fen. Erin­nerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unse­rem Café Dei­nen Geburts­tag fei­er­ten? Ich erzähl­te Dir von einer klei­nen, dunk­len Stel­le hin­ter der Tape­te, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklä­ren konn­te, was das bedeu­tet, die­ses Rot für sehen­de Men­schen? Erin­nerst Du Dich, wie Du mit Dei­nen Hän­den nach jener Stel­le such­test, wie ich Dei­ne Fin­ger führ­te, wie ich Dir erzähl­te, dass dort hin­ter der Tape­te, ein Tun­nel endet, der Euro­pa mit Ame­ri­ka ver­bin­det? Und wie Du ein Ohr an die Wand leg­test, wie Du lausch­test, erin­nerst Du Dich? Lan­ge Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sag­test Du, und woll­test wis­sen, wie lan­ge Zeit die Stim­men wohl unter dem atlan­ti­schen Boden reis­ten, bis sie Dich errei­chen konn­ten. – An die­ser Stel­le mei­ner klei­nen Erzäh­lung unter­brach mich die jun­ge Frau. Sie hat­te ihren Kopf zur Sei­te geneigt, lächel­te mich an und flüs­ter­te, dass das eine schö­ne Geschich­te gewe­sen sei, eine tröst­li­che Geschich­te, ich soll­te den Brief ruhig behal­ten und mit ihm machen, was immer ich woll­te. Und da war nun das aus dem Boden kom­men­de Nord­licht, das Knis­tern der Blät­ter, die Stim­men der spie­len­den Men­schen. Wir gin­gen noch eine klei­ne Stre­cke neben­ein­an­der her, ohne zu spre­chen. Ich sehe gera­de ihren über das Laub tas­ten­den Stock und ein Eich­hörn­chen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baum­stamm kau­er­te. Bei­na­he kommt es mir in die­ser Sekun­de so vor, als hät­te ich die­ses Eich­hörn­chen und sei­ne Nuss nur erfun­den. /// END

ping

///

vor neufundland 03.15.06 : YOKO oder die liebe

pic

ulys­ses : 3.55 — Ges­tern sen­de­te Noe eine Fra­ge. Er woll­te wis­sen, in wel­chem Monat wir leben. Eine grö­ße­re Grup­pe wei­ßer Wale habe ihn nord­wärts pas­siert. Er habe den Ver­dacht, es wer­de Früh­ling, er wünsch­te, bald wie­der ein­mal Besuch zu erhal­ten. Kurz dar­auf eine wei­te­re Mel­dung Noes aus 805 Fuß Meer­s­tie­fe vor Neu­fund­land > ANFANG 03.15.06 | | | > großar­tige aus­sicht wie­der. s t o p lang­sam auf­steigen­der wal. s t o p muschel­rücken. s t o p krater­haut. s t o p als wür­de der mond an mir vor­über­zie­hen. b i g y e l l o w f i s h s o u t h w e s t. s t o p träum­te von yoko. s t o p träum­te ihren mund ihre stim­me ihre brüs­te. s t o p spür­te ihren atem an hals an brust an nase. s t o p wird man vielle­icht selt­sam mit der zeit mit dem meer? s t o p lan­ge zei­ten der stil­le der erin­nerung. s t o p schluss jetzt. s t o p fan­gen wir noch ein­mal von vorn an. b l u e b o x f r o m a b o v e . ich spre­che mit mir selbst. s t o p denk­bar dass ich eine ton­spur hin­ter­lasse. s t o p vielle­icht bin ich im radio zu hören. s t o p ob yoko mich hören kann? s t o p kein kom­ma zu fin­den nicht eine tas­te s t o p habe den ver­dacht jün­ger zu wer­den. s t o p die lie­be. s t o p. erstaun­lich. s t o p | | | ENDE 03.16.25 – stop

nach­rich­ten von noe »
ping

///

von hölzernen büchern

pic

echo : 5.08 — Ein Freund, der vie­le Jah­re lang Notiz­zet­tel sam­mel­te, berich­te­te, er wol­le eine Biblio­thek grün­den, in der sich aus­schließ­lich Bücher befin­den wer­den, die nie geschrie­ben oder nie zu Ende geschrie­ben wor­den sind, Bücher, die nur in den Gehir­nen der Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­ler exis­tier­ten, Bücher, die viel­leicht bedeu­ten­de Bücher gewe­sen wären, aber nicht geschrie­ben wur­den, weil ihre Autoren zu früh ver­star­ben, oder weil sie zu arm waren und andau­ernd arbei­ten muss­ten, wes­we­gen ihre Bücher nur aus­ge­dacht wur­den, gewünscht, erhofft. Er habe ein­mal einen Bücher­tisch gese­hen, auf dem wirk­li­che Bücher lagen, in wel­chen man blät­tern konn­te, und in nächs­ter Nähe ruh­ten Buch­kör­per von Holz, das waren jene aus­ge­dach­ten Bücher, wie Platz­hal­ter im Raum, Mah­nung, Erin­ne­rung. Von die­ser Art höl­zer­ner Bücher soll­te sei­ne Biblio­thek gebil­det sein, er habe zahl­rei­che Brie­fe in die­ser Sache ver­schickt, nach Island zum Bei­spiel, nach Öster­reich, nach Nord­ame­ri­ka, Vene­zue­la, Kolum­bi­en, den Sene­gal, Süd­afri­ka, nach Tas­ma­ni­en. — stop

ping

///

sekundenseide

pic

sier­ra : 3.15 — Geschich­ten, die in Sekun­den­schnelle als Mög­lich­keit erschei­nen, ihr Ursprung, ihre Ent­deck­ung, in dem Moment, da ich mei­ne Augen schlie­ße, so plöt­zlich, dass ich ihre Anrei­se nicht bemer­ke, die Geschich­te von den Papie­ren und ihren Geräu­schen in einem U‑Bah­n­wagon bei­spiels­wei­se, eine Sum­me von Wahr­neh­mung, von Erfah­rung, von neu­ronalen, unbe­wussten Auf­nah­men, das murmel­nde Gespräch der Men­schen unter dem Schep­per­schirm einer Blechk­iste, die von Coney Island aus nord­wärts fährt, der Ein­druck, dass Men­schen mit­tels ihrer raschel­nden Zeitun­gen zueinan­der spre­chen. Ein oder zwei Minu­ten von Ruhe, dann, plöt­zlich, blät­tert jemand eine Sei­te um, und schon knis­tert der Wag­gon von Rei­he zu Rei­he wei­ter. Man möch­te in die­sen Momen­ten mei­nen, die Papie­re selbst wären am Leben und wür­den die Lesen­den bewe­gen. Ein­mal habe ich mir Zeitungspa­piere von stof­far­tiger Sub­stanz vor­ge­stellt, Papie­re von Sei­de zum Bei­spiel, sodass kein­er­lei Geräusch von ihnen aus­ge­hen wür­de, sobald man sie berühr­te. Eigen­tüm­liche Stil­le, Geräusch­lo­sig­keit, Lee­re, ein Sog, eine Wahr­neh­mung gegen jede Erfah­rung, eine Sekun­de, die nicht ver­gisst. — stop

drohne22

///

von marienkäfern und wodka

pic

tan­go : 2.00 — Vor drei Wochen ent­deck­te ich in einem Mün­che­ner Anti­qua­ri­at ein schwe­res Notiz­buch DIN A3, in wel­ches ein Mann, der für eini­ge Mona­te in einem Berg­wald leb­te, mit win­zi­gen Schrift­zei­chen Beob­ach­tun­gen, Erleb­nis­se, Gedan­ken ver­zeich­ne­te. Es muss zur Som­mer­zeit gewe­sen sein, das Jahr der Auf­zeich­nun­gen wur­de nicht ver­merkt, auch nicht der vol­le Name des Man­nes, nur sein Vor­na­me, der war Lud­wig. Das Doku­ment umfasst bei­na­he sie­ben­hun­dert Sei­ten, es scheint mehr­fach feucht gewor­den zu sein, da und dort sind zwi­schen den Blät­tern getrock­ne­te Wie­sen­blu­men zu fin­den, die mit­tels des Buch­ge­wich­tes prä­pa­riert wor­den waren, auch habe ich meh­re­re Amei­sen voll­kom­men leb­los auf­ge­fun­den, sowie Mari­en­kä­fer, die den Anschein erweck­ten, als wür­den sie gera­de noch ver­sucht haben, auf und davon­zu­flie­gen, als sie von einer Buch­sei­te, die umge­blät­tert wur­de, gefan­gen genom­men wur­den. Was war es gewe­sen, das den Mann in den Wald lock­te? Viel­leicht die Stil­le und das wun­der­ba­re Licht der Höhe? An einem Juli­tag, es war der 5., fol­gen­der Ein­trag: Höhe 1258 m. Kein Wind, kei­ne Wol­ke am Him­mel. Ich sit­ze und beob­ach­te Scha­fe, wie sie unter mir über eine Wie­se spa­zie­ren. Wun­der­ba­re Geräu­sche der klei­nen Hals­glo­cken. Zum Wod­ka ist mir heu­te Mor­gen ein­ge­fal­len, dass Men­schen exis­tie­ren, die Wod­ka bevor­zugt in Mine­ral­was­ser­fla­schen fül­len. Es han­delt sich hier­bei um einen Vor­gang der Ver­klei­dung oder des Ver­heim­li­chens. Der Wod­ka ist ver­steckt, obwohl er sicht­bar ist. Das eigent­li­che Ver­steck ist die Metho­de der Behaup­tung, etwas ande­res zu sein. Ähn­lich ver­hält es sich mit Mix­tu­ren, die übli­cher­wei­se an Arbeits­plät­zen zur Anwen­dung kom­men. Eine Ther­mos­kan­ne ist Auf­ent­halts­ort einer guten Begrün­dung, die­se Begrün­dung besteht aus der Flüs­sig­keit des Kaf­fees. In die­se Begrün­dung ist das Eigent­li­che, der Cognac, ein­ge­wi­ckelt. — stop

ping

///

warning : distressing content

pic

romeo : 2.01 — Die­ser fol­gen­de LINK wird an die­ser Stel­le ver­an­kert, um ihn nie­mals zu ver­ges­sen, nie­mals aus den Augen zu ver­lie­ren, immer wie­der­fin­den zu kön­nen. In weni­gen Stun­den wer­den, auch in mei­nem euro­päi­schen Namen, geflüch­te­te Men­schen zwangs­wei­se von Grie­chen­land aus in ein Land gebracht, das ein unsi­che­res Land für sie ist. — stop

ping

///

grand central station. regen

pic

marim­ba : 0.12 — Grand Cen­tral Sta­ti­on an einem reg­ne­ri­schen Tag, vie­le der rei­sen­den Men­schen sind nass gewor­den. Auch ein paar Tau­ben haben sich in den Bahn­hof geflüch­tet, sie gehen zu Fuß, wes­halb sie von Kin­dern gejagt wer­den, deren Müt­ter lan­ge Röcke tra­gen und Schlei­fen im Haar. Die­se Per­so­nen wir­ken so, als wären sie gera­de erst aus den Regen­wol­ken frü­he­rer Jahr­hun­der­te gefal­len.  Wie ich mit einer Roll­trep­pe abwärts fah­re, durch die Tun­nels unter dem Bahn­hof spa­zie­re, tref­fe ich auf eine Modell­ei­sen­bahn, die mit Blau­licht durch einen Post­kar­ten­la­den fun­kelt. Ein Feu­er ist aus­ge­bro­chen, eine Tank­stel­le brennt, die jeder­zeit explo­die­ren könn­te, und eine Schu­le. Gele­gent­lich schep­pert ein Zug vor­bei, des­sen Loko­mo­ti­ve dampft, indes­sen das Modell­ei­sen­bahn­feu­er mit­tels fei­ner Papie­re und künst­li­chem Wind zur Auf­füh­rung kommt. Eine dra­ma­ti­sche Sze­ne. In die­sem Moment der Beob­ach­tung eines Unglücks, erin­ner­te ich mich an einen Hei­zer, der in einem Mün­che­ner Bahn­hof das Fahr­werk einer rie­si­gen Loko­mo­ti­ve ölte. Es war eine Zeit, da die fah­ren­den Koh­len­brenn­wer­ke star­ben. Ich könn­te damals zum ers­ten Mal bemerkt haben, dass auch Modell­lo­ko­mo­ti­ven regel­mä­ßig mit Maschi­nen­öl, wel­ches aus hand­li­chen Behäl­tern trop­fen­wei­se ver­teilt wur­de, ver­sorgt wer­den wol­len. Der Dampf, der unter der Fahrt kurz dar­auf aus zier­li­chen Schlo­ten pfiff, war echt, wie der Dampf der gro­ßen Loko­mo­ti­ven­brü­der. Die ers­te Eisen­bahn mei­nes Lebens habe ich von einem Lauf­stall aus als Gefan­ge­ner beob­ach­tet. Noch konn­te ich, wenn ich mich nicht täu­sche, nur sit­zen oder lie­gen, aber das war nicht schlimm gewe­sen, weil der Zug, der mei­nen Lauf­stall umkreis­te, vom Boden her gut zu sehen war. Ich erin­ne­re mich an Schie­nen von Metall, die ich spä­ter ein­mal ver­bie­gen wer­de, an leuch­ten­de Signal­an­la­gen, an dun­kel­grü­ne Kro­ko­di­le, die je über drei Schhein­wer­fer­köp­fe ver­füg­ten. Spä­te­re, sehr viel klei­ne­re Dampf­lo­ko­mo­ti­ven­mo­del­le, waren schwer. Wenn ich sie in mei­nen klei­nen Hän­den hielt, hat­te ich das Gefühl etwas Bedeu­ten­des zu hal­ten. Ihre Far­ben waren Schwarz und Rot, und sie rochen schön nach Eisen. Seit jener Zeit spü­re ich eine kind­li­che Form der Erre­gung, sobald ich in einem Modell­ka­ta­log blät­te­re. Die ers­te Spiel­zeug­ei­sen­bahn, die mir selbst gehör­te, war von Holz gewe­sen, höl­zer­ne Schie­nen, höl­zer­ne Wag­gons, höl­zer­ne Loko­mo­ti­ven, auch die Pas­sa­gie­re waren von Holz. Heut­zu­ta­ge wer­den Loko­mo­ti­ven her­ge­stellt, die so klein sind, dass man sie ver­schlu­cken kann. – Vor weni­gen Tagen wur­de Rado­van Kara­džić zu 40 Jah­ren Haft ver­ur­teilt. — stop
ping

///

marthageschichte

pic

echo : 5.12 — Mar­tha ist 76 Jah­re alt. Seit 18 Jah­ren trinkt sie Likör. Schon am frü­hen Mor­gen beginnt sie damit. Sonst nimmt sie wenig zu sich. Die Luft riecht süß­lich um sie her­um. Aber sie ist gut gepflegt. Und umge­fal­len ist sie auch noch nie. Nach­mit­tags um 3 fährt sie an den Bahn­hof. Das ist die Zeit, da für sie der Abend beginnt. Sie hat dort einen fes­ten Platz. Gleis 15 sitzt sie auf einer Bank. Frü­her war ihr Stamm­platz auf Gleis 8. Jetzt fah­ren auf Gleis 8 die schnel­len Inter­ci­ty­zü­ge ein und aus, man hat Mar­tha von höhe­rer Stel­le aus gebe­ten, sich auf Gleis 23 auf eine ver­gleich­ba­re Bank zu set­zen. Aber das ist ein Ran­gier­gleis, dort ist nichts los, außer ein paar Jun­kies, und die sind Mar­tha zu gefähr­lich. Also sitzt sie auf Gleis 15., man könn­te ihre Wahl als einen Kom­pro­miss bezeich­nen. Im Som­mer trägt Mar­tha Kos­tüm­chen. Sie ist gern bunt geklei­det, wenn es doch nicht immer so drü­ckend und heiß wäre. Die Bei­ne wer­den ganz dick davon, und die Füße wol­len sich den Schu­hen nicht län­ger fügen. Manch­mal geht sie ein paar Schrit­te auf und ab. Mar­tha setzt vor­sich­tig Fuß für Fuß. Dann lässt sie sich wie­der nie­der und nimmt sich ein Gläs­chen voll zur Brust, macht einen klei­nen See in das Täsch­chen ihrer Unter­lip­pe, Kara­mell­ge­schmack, den liebt sie unend­lich, auch Anis und Scho­ko­creme, die blau­en Bols mag sie gar nicht. Sobald sie sich wie­der gut fühlt, beginnt sie Papie­re zu fal­ten, die sie aus ihrer Hand­ta­sche nimmt. Sie fal­tet Him­mel und Höl­le. Wenn ein Kind auf dem Bahn­steig vor­über kommt, ver­schenkt sie das Spiel. Mit die­sem Spiel habe ich mir frü­her immer die Zeit ver­trie­ben, sagt sie, da war ich so alt wie du. Oft zer­ren die Müt­ter ihr Kind von der alten Mar­tha weg, weil Kin­der das alles nicht so genau neh­men. Und Mar­tha sagt: Ich habe in Land­au gewohnt. Im Gar­ten hat­ten wir einen Birn­baum. Im Som­mer haben wir Him­bee­ren gepflückt. Der Kel­ler war dun­kel und die Trep­pe steil. Ein­mal bin ich die Trep­pe in Land­au her­un­ter­ge­fal­len. So erzählt Mar­tha immer­zu fort, wie sie im Kel­ler Geis­ter ent­deck­te, oder von den Schnaps­fläsch­chen im Regal ihres Vaters. Zu die­sem Zeit­punkt ist der Zug mit dem Kind längst abge­fah­ren. Sie holt sich jetzt ein wei­te­res Gläs­chen vor den Mund, dann ein neu­es Blatt aus ihrer Hand­ta­sche, ent­we­der ist es ein rotes, ein gel­bes oder ein blau­es. — stop

ping



ping

ping