Aus der Wörtersammlung: fuß

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malta : fernaugen

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sier­ra : 15.02 – Roll­lä­den von ros­ti­gem Metall. Zer­bro­che­ne Leucht­schrift­zei­chen. Der Fuß­bo­den vor dem Laden mit schwar­zer Far­be beschmiert. Das Büro der Liby­en Air, trost­lo­se Aus­sicht, als hät­te ein gan­zes Land sei­ne Fern­au­gen für immer geschlos­sen. Gleich links und rechts des eiser­nen Lids sit­zen jun­ge Men­schen in Cafés. Diens­tag, frü­her Vor­mit­tag, Taxi­fah­rer lun­gern in der St Pius Street. Ich fol­ge einer Kat­ze, die ihrer­seits Gerü­chen, Geräu­schen, Bewe­gun­gen und wei­te­ren unsicht­ba­ren Spu­ren und Wün­schen folgt. Präch­ti­ges Tier, schwar­zes, zer­zaus­tes Fell, brei­ter Kopf, gel­be Augen. Sie scheint ihren Beob­ach­ter ange­nom­men zu haben, dreht sich immer wie­der ein­mal nach mir um, als wür­de sie mich in der Ver­fol­gung ermun­tern. Von der Repu­blik Street in die Wind­mill Street, dann nord­wärts die Mer­chant Street ent­lang. Schul­kin­der in Uni­for­men, ein paar älte­re Men­schen, Frau­en, Män­ner, in dunk­ler, fei­ner Klei­dung, klei­ne­re Läden, Süß­stof­fe im Halb­dun­kel. Mein Blick ein­mal zur Kat­ze hin, dann wie­der hin­auf zu den hän­gen­den Win­ter­gär­ten an den Fas­sa­den der alten Häu­ser, die schmal sind, ohne Zwi­schen­räu­me. In der Old Hos­pi­tal Street eine ver­wit­ter­te Tür, die sich im Wind leicht bewegt. Dort ver­schwin­det die Kat­ze. Wild­nis ohne Dach. Zitro­nen­bäu­me ent­kom­men dem Boden. An einer Wand, von Flech­ten besetzt, ein Ofen. Im Regal gleich dar­über, eine Tas­se von Por­zel­lan. — stop
ping

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agota

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sier­ra

~ : oe som
to : louis
sub­ject : AGOTA
date : mar 25 11 6.15 p.m.

Kurz vor sechs Uhr abends, das Was­ser ruhig. Tau­cher Noe wohl­auf in 820 Fuß Tie­fe. Er liest Ágo­ta Kris­tófs Erzäh­lung Die Analpha­be­tin nun schon zum fünf­ten Mal in Fol­ge mit einer Begeis­te­rung, die wir in den ver­gan­ge­nen Jah­ren bis­her nicht wahr­ge­nom­men haben. Sei­ne Stim­me scheint hel­ler gewor­den zu sein, seit wir sei­nen Tau­cher­an­zug von Koral­len­ge­wäch­sen befrei­ten. Nach wie vor ver­wei­gert er jedes Gespräch über sei­ne eige­ne Per­son. Nie­mand kann sagen, ob Noe wirk­lich ver­steht, was er mit lau­ter Stim­me liest: Am Anfang gab es nur eine ein­zi­ge Spra­che. Die Objek­te, die Din­ge, die Gefüh­le, die Far­ben, die Träu­me, die Brie­fe, die Bücher, die Zei­tun­gen, waren die­se Spra­che. Ich konn­te mir nicht vor­stel­len, dass es noch eine ande­re Spra­che geben kön­ne, dass ein Mensch ein Wort spre­chen kön­ne, das ich nicht ver­ste­he. In der Küche mei­ner Mut­ter, in der Schu­le mei­nes Vaters, in Onkel Gez­as Kir­che, auf den Stra­ßen, in den Häu­sern des Dor­fes und auch in der Stadt mei­ner Groß­el­tern spra­chen alle die­sel­be Spra­che, und nie war die Rede von einer ande­ren. — Boo­te ver­letz­ter Men­schen pas­sie­ren unser Schiff, Scha­lup­pen, sie kom­men von Süden her, schwei­gen­de, frie­ren­de Pas­sa­gie­re. Dein OE

gesen­det am
25.03.2011
1512 zeichen

oe som to louis »

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coney island

2

alpha : 5.05 — Das Gewicht einer Erfin­dung. Wie ich mit Innen­au­gen einen elek­tri­schen Vogel beob­ach­te, der sin­kend reg­los auf mei­ner elek­tri­schen Hand­flä­che ruht. Ein­mal fol­ge ich in die­ser Wei­se Gene Hack­man. Wir gehen zu Fuß unter der Hoch­bahn, Still­way Ave­nue, Rich­tung atlan­ti­scher Küs­te. Coney Island, rot glü­hen­des Neon­licht klap­pern­der Buden, Gestank von ran­zi­gem Fisch, Regen, Tang­wind, mein Pho­to­ap­pa­rat, der den Poli­zis­ten erfolg­los zu belich­ten sucht. Statt­des­sen Erschei­nung der Trop­fen, Bäl­le aus gro­ßer Höhe, erstaun­lich. — Unbe­ding­ter Durch­stiegs­wil­le. — stop

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nabous zunge

pic

echo : 5.12 — Nabou*, ja, Nabou, Frau aus dem Süden, wie sie nachts vor einer Tas­se Kaf­fee am Flug­ha­fen in groß­zü­gi­gen Sprün­gen durch die Zeit erzählt. Das Bar­fuß­mäd­chen Nabou, für Minu­ten ist sie wie­der zum Flücht­lings­kind gewor­den, erin­nert, fins­te­res Gesicht, einen suda­ne­si­schen Herr­scher, jenen Herrn, der Bars einer Stadt räu­men und den Alko­hol in den Nil schüt­ten ließ. In der sel­ben Stadt, nur weni­ge Stun­den spä­ter, wur­den im Namen des sel­ben Man­nes, Hän­de von Armen geschla­gen für dies oder das zur Stra­fe. Das Feu­er in den Augen der Erzäh­le­rin, wie sie berich­tet von einer Zeit, da mus­li­mi­sche und christ­li­che Kin­der noch gemein­sam die Schu­le besuch­ten und hei­ra­te­ten kreuz und quer. Undenk­bar heu­te, undenk­bar, raschelt Nabou mit ihrer selt­sam rau­en Stim­me, alle Men­schen, wo auch immer, rücken nach rechts. Dann die­ser ver­damm­te Abend als Nabou eine bos­ni­sche Freun­din besucht. Man sitzt mit Fami­lie in Mit­tel­eu­ro­pa um einen Tisch, es ist kurz vor Weih­nach­ten. Die Atta­cke auf den christ­li­chen Glau­ben kommt ohne Vor­be­rei­tung wäh­rend der Nach­spei­se. Als Nabou sich als Chris­tin zu erken­nen gibt, das Stau­nen der Freun­din: Aber Ihr habt doch ein Glas Was­ser neben der Schüs­sel im Bad, und Du, Nabou, sprichst die ara­bi­sche Spra­che! Wie von die­sem Moment an das Gespräch zu Ende war. Ver­kno­te­te Zun­gen, sagt Nabou, nach all den trau­ten Jah­ren, ver­kno­te­te Zungen.

* Name geändert
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marit

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nord­pol : 0.02 — Ver­gan­ge­ne Nacht war ich wach gewor­den um fünf. Ich hat­te einen merk­wür­di­gen Traum, in dem Mr. Eli­ot erklär­te, dass er Brie­fe, die ich an ihn schrei­be, nicht lesen kön­ne, weil er schon vor lan­ger Zeit blind gewor­den sei. Ich war dann also wach um fünf und fühl­te mich leicht, und ich wun­der­te mich, woher die­se Leich­tig­keit gekom­men sein moch­te. Da erin­ner­te ich mich, dass ich noch immer nach­drück­lich auf eine Ant­wort James Sal­ters war­te, ich hat­te ihm vor zwei Jah­ren zuletzt geschrie­ben. Auch Mr. Sal­ter könn­te blind gewor­den sein, kein Wun­der, dass er nicht schreibt. Unver­züg­lich such­te ich in den Archi­ven nach dem Brief, den ich notiert hat­te. Er war rasch gefun­den, eine fei­ne Geschich­te, die ich berüh­re, die ich hier wie­der­ho­le, indem ich sie mit Stim­me lese, in der Hoff­nung, dass Mr. Sal­ter mich hören kann: Lie­ber James Sal­ter, als ich heu­te Nacht am Schreib­tisch saß und in Ihren wun­der­ba­ren Erzäh­lun­gen las, habe ich eine klei­ne Spin­ne bemerkt, die mich beob­ach­te­te, jawohl, sie saß auf dem Feins­ten der Blatt­haa­re eines Ele­fan­ten­fuß­bau­mes, der neben mei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne steht, und beob­ach­te­te mich aus meh­re­ren win­zi­gen schwar­zen Augen. Ich habe über­legt, was die­ses Wesen wohl in mir sieht. Für einen wei­te­ren kur­zen Moment habe ich dar­über nach­ge­dacht, ob Spin­nen viel­leicht hören, – ich lese oft laut vor mich hin, das soll­ten sie wis­sen -, und so wun­der­te ich mich, dass ich vie­le Jah­re gelebt habe, ohne der Fra­ge nach­zu­ge­hen, ob Spin­nen über Ohren­paa­re oder doch wenigs­tens über einen zen­tra­len Gehör­gang, wo auch immer, ver­fü­gen. Ich saß also am Schreib­tisch, ich las und die klei­ne geti­ger­te Spin­ne, von der ich Ihnen erzäh­le, seil­te sich zur Tas­ta­tur mei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne ab. Ich hat­te den Ein­druck, dass ihr die­se Luft­num­mer Freu­de mach­te, weil sie ihre Lan­dung immer wie­der hin­aus­zö­ger­te, indem sie den Faden, der aus ihr selbst her­aus­ge­kom­men war, ver­speis­te, dem­zu­fol­ge ver­kürz­te. Viel­leicht hat­te sie bemerkt, dass ich sie betrach­te­te, das ist denk­bar, weil ich auf­ge­hört hat­te, laut zu lesen, für einen Moment, um nach­zu­den­ken, viel­leicht woll­te sie, um sich mir dar­zu­stel­len, auf mei­ner Augen­hö­he blei­ben. Das war genau in dem Moment, als Marit nach ihrer letz­ten Nacht auf unsi­che­ren Bei­nen die Trep­pe her­un­ter­ge­kom­men war, Marit, die doch eigent­lich seit Stun­den schon tot gewe­sen sein muss­te. Marit setz­te sich auf eine Trep­pe und begann zu wei­nen. Sicher wer­den Sie sich erin­nern an Marit, wie sie auf der Trep­pe sitzt und weint, weil sie wuss­te, dass sie eine wei­te­re letz­te Nacht vor sich haben wür­de. Als ich las, dass Marit lebt und weint, habe ich eine Pau­se gemacht, weil ich erschüt­tert war, weil das Gift nicht gewirkt hat­te. Ich saß vor mei­nem Schreib­tisch und über­leg­te, ob auch sie, James Sal­ter, erschüt­tert waren, als Marit lang­sam, auf unsi­che­ren Bei­nen die Trep­pe her­un­ter­kam. Und wäh­rend ich an Sie und Ihre Schreib­ma­schi­ne dach­te, beob­ach­te­te ich die Spin­ne, die mit­tels ihrer win­zi­gen Bei­ne, den Faden, an dem sie hing, betas­te­te. Ist das nicht ein Wun­der, eine Spin­ne wie die­se Spin­ne? Haben Sie schon ein­mal bemerkt, dass es nicht mög­lich ist, mit einer elek­tri­schen Schreib­ma­schi­ne zwei Buch­sta­ben zur glei­chen Zeit, also über­ein­an­der, auf das Papier oder den Bild­schirm zu schrei­ben? Immer ist einer vor, nie­mals unter dem ande­ren. Mit herz­li­chen Grü­ßen Louis.

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central park — liegend

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tan­go : 15.28 — Im Cen­tral Park für Stun­den. Ein­mal lege ich mich ins Gras und notie­re was ich sehe: Hun­de, zum Bei­spiel, Rie­sen­pu­del im wei­ßen Pelz, rosa­far­ben die Haut ihrer Gesich­ter, Krea­tu­ren, Men­schen­hun­de, die uralte Bäu­me mar­kie­ren. Das fei­ne, hel­le Grün der Kro­nen, wis­pern­des Licht, als wär noch Früh­ling, sol­che Bäu­me, die gedul­dig fla­nie­ren­de Per­so­nen beschir­men. Und Läu­fer, männ­li­che und weib­li­che Läu­fer, leicht beklei­det, ent­spann­tes Lächeln, wie von unsicht­ba­ren Fuß­sänf­ten getra­gen. Vier Poli­zis­ten, je mit Müt­ze, schwe­res Gerät klim­pert in der Mit­te ihrer run­den, fes­ten Kör­per. Eis­ver­käu­fer strei­ten am Ufer eines Sees, auf dem Funk­steu­er­boo­te segeln. Ein ver­lieb­tes Paar ist da noch, sie lie­gen, und ein wei­te­res, ein gleich­gül­ti­ges Paar lun­gert auf einer Bank, die Frau einer­seits türmt mit zar­tes­ten Bewe­gun­gen ihrer rot bemal­ten Zehen Baum­sa­men­spreu zu Gebir­gen, der Mann ande­rer­seits beob­ach­tet ein fili­gra­nes Wesen, das von Leib­wäch­tern umringt über eine Wie­se nord­wärts schrei­tet. Ich schla­fe bald ein. Eine nord­ame­ri­ka­ni­sche Bie­ne, brum­mend. Das Blau des Him­mels. Zwei Luft­bal­lons wip­pen vor­über, als wür­den sie auf eige­nen Bei­nen gehen. — stop

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mrs. wilkerson

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whis­key : 22.28 — Mrs. Wil­ker­son ist eine außer­or­dent­lich statt­li­che Erschei­nung. Sie trägt ihr schwar­zes Haar zu einer Kugel geformt streng hin­ter den schma­len Kopf zurück­ge­zo­gen, Mund und Augen­li­der sind von einem Schim­mer erhellt, der so dezent auf­ge­tra­gen ist, dass er auf der Haut einer weiß­häu­ti­gen Frau nicht sicht­bar wer­den wür­de. Wenn man abends nach zehn Uhr das Haus in der 38th Stra­ße betritt, war­tet sie bereits, meis­tens ste­hend und freund­lich lächelnd hin­ter ihrem Tisch in einer flie­der­far­be­nen Blu­se unter einem dun­kel­blau­en Jackett so adrett geklei­det, so sau­ber, so leuch­tend, dass ich mir immer ein wenig schmut­zig vor­kom­me, stau­big, sagen wir, kleb­rig, erhitzt von der Erre­gung der Stadt, die ich wäh­rend des Tages auf­ge­nom­men habe. Mrs. Wil­ker­son kennt mich bei mei­nem Namen. Sir, sagt sie, ein selt­sam klin­gen­des Wort in mei­nen Ohren, dann wie­der Honey, was ich als Aus­zeich­nung emp­fin­de. Sie arbei­tet nachts, öff­net die Tür, sobald ein Bewoh­ner oder Besu­cher des Hau­ses die klei­ne Hal­le vor den Auf­zü­gen zu betre­ten wünscht, grüßt, ver­mit­telt Post­sen­dun­gen, Nach­rich­ten, Zei­tun­gen, aber eigent­lich bewacht sie das Gebäu­de und die Men­schen, die in ihm woh­nen. Eine voll­endet höf­li­che Per­son, etwas grö­ßer als ich und so geschmei­dig und locker in ihrer Art, dass ich sie zum Vor­bild genom­men habe. Ob die Auf­zü­ge des Hau­ses schon ein­mal aus­ge­fal­len sei­en, ver­lang­te ich unlängst zu wis­sen. Nicht, wenn sie selbst im Dienst gewe­sen sei, ant­wor­te­te Mrs. Wil­ker­son. Ich frag­te wei­ter fort, ob es denn gestat­tet sei, durch das Trep­pen­haus auf­wärts zustei­gen, um die Zeit eines Fuß­we­ges him­mel­wärts zu mes­sen. Und als ich mich umdreh­te, als ich in Rich­tung der Tür spa­zier­te, auf die sie gedeu­tet hat­te, wie­der die­se lachen­de, für­sorg­li­che Stim­me: Honey, your bag is open!  — stop

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penn station

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marim­ba : 23.
12 — Penn­sta­ti­on am spä­ten Abend. Namen, Leucht­stof­fe, Ziel­or­te, die auf Tafeln klap­pernd von Zei­le zu Zei­le fal­len. Montauk. stop. Baby­lon. stop. Syra­kus. stop. Keroo­kee. stop. Muscheln­de Geräu­sche, Wör­ter, Sät­ze fort­be­we­gend, Dos Pas­sos, sagen wir, Man­hat­tan Trans­fer, Edi­ti­on für Tief­see­tau­cher. stop. 700 selbst­leuch­ten­de Sei­ten a 1200 Gramm. stop. Funk­blät­te­rung. stop. 1 x 0.5 Meter Kan­ten­län­ge. stop. Him­mel, was für ein gro­ßes, schwe­res Buch. stop. Schwe­bend. stop. 550 Fuß Tie­fe. — stop
ping

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coney island

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bamako

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : CONEY ISLAND

Nie ver­mag ich aus­zu­ma­len, wo ihr Zwei gera­de seid. Ja, so ist das, nein, nein, ich habe kei­ne Ahnung, kei­ne Vor­stel­lung, lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let, könn­te die Welt umrun­den, zu Fuß oder auf den Rücken der Kame­le, zu kei­ner Zeit wür­de ich Euch begeg­nen, nicht eine Sekun­de, kein Blick aus dem Fens­ter eines abfah­ren­den Zuges, Eure lächeln­den Gesich­ter, Euer Win­ken, zwei Küs­se durch die Luft, nein, nein, nie­mals, nicht wirk­lich, kei­ne Ahnung habe ich, kei­ne Vor­stel­lung, und doch seid ihr nah, so nah, dass ich Euch schwe­ben­de Orte schenk­te in Gedan­ken, einen schwe­ben­den Tisch, eine schwe­ben­de Schreib­ma­schi­ne, ein schwe­ben­des Sofa, und die­sen wei­ten Blick aufs wil­de Meer, auf blü­hen­de Gär­ten, ein Lächeln. Ges­tern arbei­te­te ich im Park unterm Regen­schirm. Ich hat­te mei­ne Schreib­ma­schi­ne auf eine Hand gestellt, dort war­te­te sie lan­ge Zeit. Dann schrieb ich ein Wort, aber kein wei­te­res Wort. Nur Geduld, dach­te ich, nur Geduld. Habt Ihr, lie­be Vio­let, lie­be Dai­sy, bemerkt, dass ich Euch Boh­u­mil Hra­bals Geschich­te der Kat­ze Autitsch­ko öff­ne­te. Ich leg­te das klei­ne Buch neben mich auf die Bank, blät­ter­te und war­te­te, mein­te, Euch rufen zu hören: Wir lesen, Lou­is, schnel­ler, als Du denkst! — Ein gro­ßer Augen­blick mei­nes klei­nen Lebens.

gesen­det am
8.06.2010
22.08 MESZ
1775 zeichen

lou­is to dai­sy and violet »

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hispaniola

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sier­ra : 22.02 — Män­ner, die mit blo­ßen Hän­den Trüm­mer­ber­ge durch­su­chen. Der Fuß eines Kin­des, stau­big, das unter einer Beton­de­cke gefan­gen liegt. Erdi­ge Stra­ßen, gesäumt von ver­we­sen­den Kör­pern. Eine tote Frau, die auf einem Stuhl sitzt. Ein Mäd­chen, wie im Traum, nicht ansprech­bar, ihr Blick in die Fer­ne gerich­tet, wie sie durch eine Men­ge stam­meln­der Men­schen schrei­tet. Wei­nen­de Stim­men. Ver­stör­te Kin­der­ge­sich­ter. Rufen. Durst. Ver­zweif­lung. Infer­no. Flim­mer­bil­der. — Im Zug nach Süden erzählt eine Frau, die in Hai­ti gebo­ren wur­de und vie­le Jah­re dort leb­te, von dem Land, von dem Volk, das sie liebt, und alle Rei­sen­den, die in ihrer Nähe sit­zen, hören ihr zu, gebannt, mit­füh­lend, fra­gend. Ein­mal sagt sie, dass die Bewoh­ner der Stadt Port-au-Prin­ce, die ihr Leben unter Kor­rup­ti­on in größ­ter Armut auf einer hei­ßen Erd­man­tel­fal­te zei­ti­gen, nie an die Gefahr gedacht haben wür­den, in der sie sich in jeder Minu­te ihrer Exis­tenz befan­den. Nie­mand habe mit einem Erd­be­ben die­ser Stär­ke gerech­net, obwohl ein Erd­be­ben genau die­ser Inten­si­tät lan­ge vor­her­ge­sagt wor­den sei. Eine Fra­ge der Zeit, alles eine Fra­ge der Zeit, sagt die Frau, und sieht aus dem Fens­ter des Zuges, auf Schnee, der in der Däm­me­rung bläu­lich schim­mert. Man denkt, ver­ste­hen Sie, man denkt nicht an Erd­be­ben, an eine Gefahr, die nicht sicht­bar ist, wenn man in Ster­bens­ar­mut lebt. Man denkt an sau­be­res Was­ser. Man denkt an Brot. Man denkt an das Über­le­ben der Kin­der von Abend zu Abend. 



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