Aus der Wörtersammlung: gespräch

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elisabeth

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hima­la­ya : 6.10 — Im Win­ter des ver­gan­ge­nen Jah­res, an einem win­dig kal­ten Tag, besuch­te ich in Brook­lyn einen alten Herrn, Mr. Tomaszwes­ka und sei­ne Frau Eli­sa­beth. Sie woh­nen nahe der Clark Street in einem sechs­stö­cki­gen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hat­te den alten Mann wäh­rend einer Fahrt auf einem Fähr­schiff zufäl­lig ken­nen­ge­lernt. Er beob­ach­te­te, wie ich Fahr­gäs­te foto­gra­fier­te, die ihre Namen heim­lich in die höl­zer­nen Sitz­bän­ke des Schif­fes ritz­ten. Er sprach mich freund­lich an, woll­te mir einen Schrift­zug zei­gen, den er selbst drei Jahr­zehn­te zuvor an Ort und Stel­le in der glei­chen Wei­se wie die beob­ach­te­ten Pas­sa­gie­re ein­ge­tra­gen hat­te. Stolz war der alte Mann gewe­sen. Wir führ­ten ein kur­zes Gespräch über die New Yor­ker Hafen­be­hör­de, Eisen­bah­nen und Flug­zeu­ge, weiß der Him­mel, wie dar­auf gekom­men waren. Als wir das Schiff ver­lie­ßen, lud Mr. Tomaszwes­ka mich ein, ein­mal zu ihm zu kom­men, dar­um stieg ich nur weni­ge Tage spä­ter in den sechs­ten Stock des schma­len Hau­ses auf den Höhen Brook­lyns. Die Tür zur Woh­nung stand offen, war­me Luft kam mir ent­ge­gen, die nach süßem Teig duf­te­te, nach Zimt und Früch­ten. Die Räu­me hin­ter der Tür waren ver­dun­kelt. Ich hat­te sogleich den Ein­druck, dass ich viel­leicht träum­te oder ver­rückt gewor­den sein könn­te, weil in die­sem Halb­dun­kel an den Wän­den, auch auf dem Boden, Lam­pen, Dioden­lich­ter, glüh­ten. Modell­ei­sen­bahn­zü­ge fuh­ren auf schma­len Gelei­sen her­um. Ich höre noch jetzt das lei­se Pfei­fen einer Dampf­lo­ko­mo­ti­ve, das mei­nen Besuch beglei­te­te. Es war eine rasen­de Zeit, Stun­den des Stau­nens, da in der Woh­nung des alten Herrn eine sehr beson­de­re Modell­an­la­ge gas­tier­te, ja, ich soll­te sagen, dass die Woh­nung selbst zur Anla­ge gehör­te, wie der Him­mel zur wirk­li­chen Welt. Alle Züge fuh­ren auto­ma­tisch von einem Com­pu­ter gesteu­ert, die Luft über den Gelei­sen roch scharf nach Zinn. Wir spra­chen indes­sen nicht viel, Mr. Tomaszwes­ka und ich, son­dern schau­ten dem Leben auf dem Boden in aller Stil­le zu. An einem Fens­ter, des­sen Vor­hän­ge zuge­zo­gen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Eli­sa­beth. Sie beach­te­te mich nicht, starr­te viel­mehr lächelnd auf eine klei­ne Klap­pe, die in die Wand des Hau­ses ein­ge­las­sen war. Manch­mal öff­ne­te sich die Klap­pe und ich konn­te für Momen­te das Meer erken­nen, das an die­sem Tag von grün­grau­er Far­be gewe­sen war, wun­der­ba­re Augen­bli­cke, denn immer dann, wenn das Meer in dem klei­nen Fens­ter erschien, lach­te die alte Frau mit glo­cken­hel­ler Stim­me auf, um kurz dar­auf wie­der zu erstar­ren. Ein­mal setz­te sich Mr. Tomaszwes­ka neben sei­ne Frau und füt­ter­te sie mit war­mem Oran­gen­ku­chen, den er selbst geba­cken hat­te. Und wie wir uns wie­der auf den Boden setz­ten, um ein Modell des Ori­ent­ex­press durch die Zim­mer der Woh­nung krei­sen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemein­sam hier oben sehr glück­lich sei­en. Er kön­ne mit sei­ner Frau zwar nicht mehr spre­chen, er kön­ne sie nur noch strei­cheln, was sie irgend­wie ver­ste­hen wür­de oder sich erin­nern an die Spra­che sei­ner Hän­de. Ver­stehst Du, sag­te er, sie ver­gisst immer sofort, alles ver­gisst sie, auch wer ich bin, aber sie ver­gisst nie­mals nach den klei­nen Engeln zu sehen, die uns besu­chen, sie kom­men dort durch die Klap­pe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wun­der, sag­te der alte Mann, wie schön sie lacht, mein jun­ges Mäd­chen, nicht wahr, mein jun­ges Mäd­chen. — stop

polaroidstrandburg

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von nachthüten

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echo : 6.48 — Es war das ers­te Mal, dass ich ein Hut­ge­schäft betre­ten habe. Es roch sehr gut, es roch nach fei­nen Stof­fen und nach Leder, es roch eigent­lich eher nach einem Schuh­ge­schäft als nach einem Geschäft für Hüte. Der Mann hin­ter dem Tre­sen trug natür­lich selbst einen Hut auf dem Kopf. Als ich mich näher­te, war er gera­de in ein Gespräch ver­tieft mit einem Herrn, der sich Hüte vor­füh­ren ließ. Er schien über sehr viel Geld zu ver­fü­gen, weil er jeden Hut, der ihm gefiel, unver­züg­lich kauf­te. Ein Turm von Hut­schach­teln, so hoch wie der Mann selbst, hat­te sich neben ihm gebil­det. Der Turm wur­de von einem Ange­stell­ten des Ladens fest­ge­hal­ten, damit er nicht stürz­te. Ein wei­te­rer jun­ger Mann klet­ter­te auf einer Lei­ter hin­ter dem Tre­sen vor einem Regal her­um, das aus einem frü­he­ren Jahr­hun­dert zu kom­men schien, das heißt, das Regal war übrig geblie­ben, wäh­rend ande­re Gegen­stän­de der­sel­ben Zeit längst ver­schwun­den waren. Eini­ge Minu­ten nahm kei­ner der Men­schen, die sich in dem Laden befan­den, Notiz von mir, und so konn­te ich die­se klei­ne Geschich­te beob­ach­ten, auch den Aus­füh­run­gen lau­schen, mit wel­chen der Mann, der Hüte kauf­te, sein Ver­hal­ten begrün­de­te. Obwohl auf sei­nem Kopf noch sehr viel Haar zu ent­de­cken war, schien der Mann sich bereits jetzt Gedan­ken dar­über zu machen, wie lang er über sein Haar noch ver­fü­gen wür­de. Er schien damit zu rech­nen, dass er bald kein ein­zi­ges oder nur räu­di­ges Haar auf dem Kopf tra­gen wür­de, dar­un­ter blo­ße Haut, nichts also als sei­nen Kopf, was für ihn inak­zep­ta­bel sein konn­te. Er woll­te nun vor­sorg­lich Hüte wie Fri­su­ren besit­zen, woll­te nichts ande­res, als mäch­tig sein über sei­ne Zukunft, vor­be­rei­tet, sagen wir. Selbst noch nachts, stell­te er sich vor, soll­te ein Hut sei­nen Kopf bede­cken, wes­we­gen er nach Nacht­hü­ten frag­te, aber so etwas gibt es nicht, oder bis­her nicht, Müt­zen ja, aber nicht Hüte, nicht Nacht­hü­te, was selt­sam ist, nicht wahr, dass es alles Mög­li­che gibt auf die­ser Welt, aber kei­ne Hüte, die rei­ne Nacht­hü­te sind. Seit ich das Hut­ge­schäft vor Stun­den ver­las­sen habe, den­ke ich dar­über nach, was einen Nacht­hut genau genom­men aus­ma­chen wür­de, was ihn von ande­ren Hüten unter­schei­den wür­de. Es müss­te ver­mut­lich sehr weich sein, das könn­te sein. Sehr viel wei­ter bin ich in mei­nen Über­le­gun­gen bis­lang nicht gekom­men. Es ist jetzt kurz nach drei Uhr. Schnee­wol­ken nähern sich von Nord­os­ten her. – stop

ping

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chile

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echo : 6.05 — Der Spatz, der ges­tern Nach­mit­tag auf dem Brett vor dem Fens­ter saß, war ein küh­ler Vogel gewe­sen. Von der Käl­te der Luft so lang­sam gewor­den, konn­te ich ihn ohne Gegen­wehr in mei­ne Hän­de neh­men. Drau­ßen ist es jetzt schon lan­ge dun­kel gewor­den. Der klei­ne Vogel kau­ert in der Nähe der Hei­zung in einem Körb­chen auf einem Tuch und scheint zu schla­fen. Ich fra­ge mich, wie er den Novem­ber, den Dezem­ber, den Janu­ar über­le­ben konn­te. Es ist über­haupt seit län­ge­rer Zeit der ers­te Spatz, der mir begeg­net. Wenn ich dar­über nach­den­ke, weiß ich nicht ein­mal mehr, über wel­che Stim­me Spat­zen oder Sper­lin­ge gebie­ten. Ich höre hier in der Stadt im Som­mer noch das sir­ren­de Gespräch der Schwal­ben und im Win­ter das Gur­ren der Tau­ben vom Dach her und mor­gens ein­sa­me Amseln sin­gen. Die Stim­men der Sper­lin­ge aber sind ver­lo­ren gegan­gen. Gera­de noch habe ich in den Brief­mar­ken­samm­lun­gen mei­nes Vaters geblät­tert, die zu einer Zeit ange­legt wor­den waren, als in Mit­tel­eu­ro­pa noch Wol­ken von Spat­zen durch die Gär­ten wir­bel­ten. Es ist ein eigen­tüm­li­cher Geruch, der von den Alben aus­geht, lan­ge wur­den sie nicht geöff­net. Auch Brie­fe sind dort archi­viert, kost­ba­re Schrift­stü­cke einer Zeit, da mein Vater noch lan­ge nicht exis­tier­te. In die­ser Minu­te erin­ne­re ich mich an einen beson­de­ren Brief, den ich vor Jah­ren ein­mal auf mei­nem Schreib­tisch gefun­den hat­te, ich berich­te­te bereits, es war ein Luft­post­brief. Als ich das Cou­vert des Brie­fes genau­er betrach­te­te, das heißt, als ich den Brief so nahe an mei­ne Augen her­an­führ­te, dass ich die Stem­pel­ein­trä­ge sei­ner Anschrif­ten­sei­te ent­zif­fern konn­te, bemerk­te ich, dass der Luft­post­brief bereits vor lan­ger Zeit in Euro­pa auf­ge­ge­ben und über den Atlan­tik geflo­gen wor­den war. In Sant­ia­go de Chi­le dann ange­kom­men, konn­te der Brief nicht zuge­stellt wer­den, ver­mut­lich weil die Zei­chen, die den Brief beschrif­te­ten, kaum zu ent­zif­fern gewe­sen waren. Nach eini­gen Wochen War­te­zeit, reis­te der Brief, nun mar­kiert mit einem Schild­chen in blau­er, spa­ni­scher Far­be: Impo­si­ble de ent­re­gar! *, über den Atlan­tik zurück, um sich nur weni­ge Tage spä­ter erneut auf den Weg über das Meer nach Chi­le zu bege­ben. Ein wei­te­rer Schrift­zug war hin­zu­ge­kom­men, ein fei­ner, aber groß­zü­gi­ger Stem­pel­auf­druck: -Die­se Sen­dung wur­de von einem Blin­den geschrie­ben!- Zwei fri­sche Wert­mar­ken, nichts sonst ver­än­dert. Und so mach­te sich der Brief bald dar­auf ein vier­tes Mal auf den Weg über das Meer wie­der nach Euro­pa zurück und lan­de­te, weiß der Him­mel, war­um, in mei­ner Nähe, in der Nähe mei­ner Schreib­ma­schi­ne.- stop

* Nicht zustellbar

polaroidlouisa

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sarajevo

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gink­go : 6.38 — Ich habe die­se Geschich­te ges­tern Abend selbst erlebt. Wenn sie mir jemand ande­res als ich selbst erzählt haben wür­de, hät­te ich sie viel­leicht nicht geglaubt, weil sie schon ein wenig ver­rückt ist. Die Geschich­te beginnt damit, dass ich in einem Café sit­ze und auf einen jun­gen Mann war­te, der mir etwas erzäh­len will. Ich bin früh­zei­tig gekom­men, bestel­le einen Cap­puc­ci­no und schal­te mein klei­nes Hand­ki­no an, beob­ach­te eine Doku­men­ta­ti­on der Arbeit Maceo Par­kers in New York, mit­rei­ßen­de Musik, soeben umarmt die Sän­ge­rin Kym Mazel­le den Posau­nis­ten Fred Wes­ley, als der jun­ge Mann, den ich erwar­te­te, plötz­lich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den klei­nen Bild­schirm. Sofort kom­men wir ins Gespräch. Ich fra­ge ihn, wel­che Musik er gehört habe, als Kind in der bela­ger­ten Stadt Sara­je­vo. Jeden­falls nicht sol­che Musik, ant­wor­tet er, und lacht, no Funk, wir hat­ten kei­nen Strom. Avi ist heu­te Anfang drei­ßig, dass er noch lebt ist ein Wun­der. Tat­säch­lich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sara­je­vo erzählt. Ein­mal frag­te ich ihn, was er emp­fun­den habe, als er von Karad­zics Ver­haf­tung hör­te. Anstatt zu ant­wor­ten, perl­te in Sekun­den­schnel­le Schweiß von Avis Stirn. Heu­te schwitzt er schon, ehe er über­haupt zu erzäh­len beginnt, weil er weiß, dass er gleich wie­der berich­ten wird von den Stra­ßen sei­ner Hei­mat­stadt, die nicht mehr pas­sier­bar waren, weil Scharf­schüt­zen sie ins Visier genom­men hat­ten. Man schleu­der­te Papie­re, Ziga­ret­ten, Bro­te, Was­ser­fla­schen in Kör­ben von einer Sei­te der Stra­ße zu ande­ren. Die­se Kör­be wur­den nicht beschos­sen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein klei­ner Jun­ge. Er war so klein, dass er nicht ver­ste­hen konn­te, was mit ihm und um ihn her­um geschah, auch dass ein Holz­split­ter sein lin­kes Auge so schwer ver­letz­te, dass er jetzt ein Glas­au­ge tra­gen muss, das so gut gestal­tet ist, dass man schon genau hin­se­hen muss, um sein künst­li­ches Wesen zu erken­nen. Er sagt, er könn­te, wenn ich möch­te, das Auge für mich her­aus­neh­men. Aber das will ich nicht. Ich erzäh­le ihm, dass ich damals, als er klein gewe­sen war, jeden Abend Bil­der aus Sara­je­vo im Fern­se­hen beob­ach­tet habe. Was das für Bil­der gewe­sen sei­en, will Avi wis­sen. Ich sage: Das waren Bil­der, die ren­nen­de Men­schen zeig­ten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fern­se­hen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer schnell und über­all pas­sier­te. Und die­se Geräu­sche. Plötz­lich nimmt der jun­ge Mann mein klei­nes Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopf­hö­rer in sei­ne Ohren ein, hört Maceo Par­ker, Kim Macel­le, Fred Wes­ley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhyth­mus der Musik mit dem Kopf. Ein Wis­pern. — stop

ping

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jamaica

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echo : 20.26 — Ich will von einem Mann erzäh­len, der mir in einem Sub­way­wa­gon auf der Fahrt von der Lex­ing­ton Ave­nue nach Jamai­ca begeg­net war. Er trug, obwohl es im Abteil sehr warm gewe­sen war, Hand­schu­he an bei­den Hän­den. Das waren recht merk­wür­di­ge Hand­schu­he, denn die Dau­men des Man­nes wur­den von Schnü­ren, die an den Fäust­lin­gen befes­tigt waren, ins Inne­re der Hand gezo­gen. Fin­ger umschlos­sen sie fest, auch sie waren mit­tels Schnur­wer­kes gefes­selt. Man könn­te sagen, dass die Hand­schu­he, die der Mann trug, sei­ne Hän­de bän­dig­ten, indem sie Fäus­te form­ten. So, gefes­selt, saß der Mann wäh­rend der lan­gen Fahrt vor mir und nick­te. Er betrach­te­te sei­ne Hän­de, wie mir schien, mit zärt­li­cher Auf­merk­sam­keit, in der Art und Wei­se der Lie­ben­den viel­leicht, wenn ein Blick nachts heim­lich einen schla­fen­den Mund umschmei­chelt. Ich ver­such­te zu arbei­ten, konn­te mich aber nicht kon­zen­trie­ren. Nach eini­ger Zeit frag­te ich den Mann, ob er denn etwas in Hän­den hiel­te, etwas, das viel­leicht flüch­ten könn­te, wenn er sei­ne Hän­de öff­ne­te. Das schien nicht der Fall zu sein, weil der Mann sei­nen Kopf schüt­tel­te und lach­te, ohne indes­sen mit mir ein Gespräch auf­neh­men zu wol­len. Ich war­te­te also eini­ge Zeit, sah aus dem Fens­ter, spä­te Flug­zeu­ge, eine Ket­te von Lich­tern, näher­te sich dem Flug­ha­fen. Und da war mein müdes Gesicht im Spie­gel der Schei­be. Und dann wie­der der Mann und sei­ne Hän­de, die auf sei­nen Schen­keln lagen. Sie drü­cken die Dau­men, sag­te ich, ist das mög­lich? Der Mann lach­te jetzt. Er schien zu über­le­gen, dann ant­wor­te­te er mit lei­ser Stim­me, die in dem schep­pern­den Lärm des Sub­way­wa­gons kaum noch zu hören war, dass ein Pro­blem sei, dass er nicht wis­se, wie er sei­ne Fäust­lin­ge für das Wün­schen bei Nacht, ohne die Hil­fe eines wei­te­ren Men­schen anle­gen könn­te. Der lin­ke der Hand­schu­he war im Übri­gen von gel­ber, der rech­te von blau­er Far­be. — stop

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australien

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oli­mam­bo : 3.26 — Im ana­to­mi­schen Insti­tut, unter dem Prä­pa­rier­saal, befin­den sich Arbeits­räu­me für Prä­pa­ra­to­ren, das sind klei­ne­re Zim­mer, in wel­chen metal­le­ne Tische ste­hen, hel­les Licht, sehr hel­les Licht, Lupen­leuch­ten, Pin­zet­ten, Skal­pel­le, Gefä­ße aller Art. Ich besuch­te dort meh­re­re Male einen älte­ren Herrn, durf­te ihm gegen­über Platz neh­men, beob­ach­te­te ihn bei der Arbeit an einem Herz, das vor uns auf dem Tisch ruh­te. Ich erin­ne­re mich noch gut an sei­ne hel­len, fein­glied­ri­gen Hän­de, wie sie rasend schnell Gewe­be vom Herz­kör­per zupf­ten. Der alte Mann war sehr erfah­ren in der Prä­pa­ra­ti­on, und er war schweig­sam, also spra­chen wir wenig. Ges­tern Abend habe ich an ihn gedacht, weil ich nach einem Tele­fon­ge­spräch eine Fra­ge ent­deck­te, die ich nun ger­ne sofort an ihn rich­ten wür­de, wenn ich nur wüss­te, ob er noch exis­tiert. Ich wür­de näm­lich ger­ne erfah­ren, wie es mög­lich sein kann, das Ske­lett eines Men­schen, der gera­de erst gestor­ben ist, sei­nem Kör­per zu ent­neh­men und auf dem Luft­post­weg von Aus­tra­li­en nach Euro­pa zu sen­den. Genau das ist näm­lich vor nicht ein­mal einem hal­ben Jahr­hun­dert gesche­hen. Eine Freun­din, die in Grie­chen­land auf­ge­wach­sen war, eine Grie­chin also, erzähl­te mir ges­tern, sie habe in ihrer Schul­zeit ein mensch­li­ches Ske­lett vor Augen gehabt, von dem sie wuss­te, dass es echt gewe­sen war, dass es zu einem Bür­ger der Stadt, in der sie leb­te, gehör­te. Die­ser Mann war nach Aus­tra­li­en aus­ge­wan­dert, um vor der Armut und Hoff­nungs­lo­sig­keit, in der er leb­te, zu flüch­ten. Kaum in Aus­tra­li­en ange­kom­men, starb der Mann. Und weil er nichts wei­ter zu ver­schen­ken hat­te, ver­mach­te er sein Ske­lett der Schu­le sei­ner Stadt. Der Mann hieß mit Vor­na­men Teofa­nis, wes­halb auch das Ske­lett die­sen Namen trug. Teofa­nis kehr­te also an den Ort zurück, an dem er gebo­ren wor­den war, genau­er sogar in das Klas­sen­zim­mer, in dem er sei­ne Matu­ra abge­legt hat­te, um dort dau­er­haft zu ver­wei­len in einer fei­nen Geschich­te, deren eigent­li­ches Ende in der Zeit bis­her nicht abzu­se­hen ist. — stop

polaroidtraumbild

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emilia nabokov no2

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del­ta : 6.36 — Ich hat­te ein Gespräch mit einem Freund, der seit vie­len Jah­ren in digi­ta­len Räu­men arbei­tet, bei­na­he könn­te ich sagen, ich hat­te ein Gespräch mit einem Freund, der seit vie­len Jah­ren in digi­ta­len Räu­men zu exis­tie­ren scheint. Zahl­rei­che sei­ner Arbei­ten ver­bin­den sich mit Arbei­ten ande­rer Men­schen, weil man auf ihn ver­weist, weil man auf ihn war­tet, auf Tex­te, auch auf Bil­der, Fil­me, Geräu­sche, die er auf­nimmt, sobald er etwas Inter­es­san­tes zu hören meint. Mit jeder Minu­te der ver­ge­hen­den Zeit wächst sein elek­tri­scher Schat­ten. Er macht das ähn­lich wie eine New Yor­ker Foto­gra­fin, die stun­den­lang durch die Stadt spa­ziert und mit einem iPho­ne all das foto­gra­fiert, was ihr ins Auge fällt. Manch­mal sind es hun­der­te Foto­gra­fien an einem ein­zi­gen Tag, die nur Sekun­den nach Auf­nah­me von ihrem Foto­ap­pa­rat, mit dem sie gleich­wohl tele­fo­nie­ren kann, an das Flickr – Medi­um gesen­det wer­den. Mein Freund erzähl­te, dass er den Ein­druck habe, die jun­ge foto­gra­fie­ren­de Frau in Echt­zeit zu beob­ach­ten, ihr im Grun­de so nah gekom­men zu sein, dass er kurz vor Weih­nach­ten fürch­te­te, etwas Ernst­haf­tes könn­te ihr wider­fah­ren sein, weil drei Tage in Fol­ge kei­ne Foto­gra­fie gesen­det wur­de. Am vier­ten Tag erkun­dig­te er sich mit­tels einer E‑Mail, die er an Flickr sen­de­te, ob es der schweig­sa­men Foto­gra­fin gut gehe, er mache sich Gedan­ken oder Sor­gen. Man muss das wis­sen, mein Freund hat­te der Foto­gra­fin nie zuvor geschrie­ben, kann­te nicht ein­mal ihren wirk­li­chen Namen, son­dern nur ein Pseud­onym: Emi­lia Nabo­kov No2. Eine hal­be Stun­de, nach­dem die E‑Mail gesen­det wor­den war, erschien, als habe ihm die spa­zie­ren­de Künst­le­rin zur Beru­hi­gung geant­wor­tet, eine Foto­gra­fie ohne Titel. Die­se Foto­gra­fie erzähl­te davon, dass sich Emi­lia Nabo­kov No2 ver­mut­lich nicht in New York auf­hielt, son­dern in Montauk, weil auf der Foto­gra­fie ein Leucht­turm auf einem ver­schnei­ten Hügel zu sehen war, der ein­deu­tig zur klei­nen Stadt Montauk an der nord­öst­li­chen Spit­ze Long Islands gehör­te. Im Hin­ter­grund das Meer, und vor­ne, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gum­mi­stie­fel von knall­ro­ter Far­be. — stop

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wenedikt jerofejew : die reise nach petuschki

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sier­ra : 22.01 – Unter den Büchern, die bei mir woh­nen, fin­det sich eines, das von einem gro­ßen rus­si­schen Erzäh­ler geschrie­ben wur­de, von Wene­dikt Jero­fe­jew, der nicht mehr unter uns Leben­den weilt, Alko­hol hat ihn umge­bracht oder er sich selbst oder wie auch immer. Sein Buch berich­tet die Rei­se eines Trin­kers vom Kurs­ker Bahn­hof zu Mos­kau nach Petusch­ki, einem rus­si­schen Städt­chen drau­ßen in der Wei­te. Eine Höl­len­fahrt, ein Buch, das ich nie­mals auf­ge­ben wer­de, ein Gespräch mit Engeln: War­um hast Du alles aus­ge­trun­ken, Wen­ja! – Von Zeit zu Zeit trag ich das Bänd­chen in mei­nen Hän­den, schau hin­ein, lese Wör­ter und Sät­ze, aber ich habe die Geschich­te nie bis zu ihrem letz­ten Satz gele­sen, kann nicht genau sagen, war­um das so ist. Viel­leicht wün­sche ich ins­ge­heim, dass das Buch kein Ende fin­den möge. Es ist kein umfang­rei­ches Buch, nein, nein, 170 Sei­ten, und sein Rücken zer­schlis­sen, sodass ich manch­mal näher­tre­ten und nach ihm suchen muss. Gele­gent­lich, als Wene­dikt Jero­fe­jew noch unter uns war, hat­te ich mir vor­ge­stellt, wie ich ihn ein­mal besu­chen wür­de, wie ich vor sei­nem höl­zer­nen Haus auf einer Trep­pe sit­zend war­te, wie er auf mich zukommt, wie ich sei­ne Hand neh­me, wie ich das zit­tern­de Feu­er sei­ner Lebens­höl­le spü­re, wie ich zu ihm sage: Wen­ja, mein lie­ber Wen­ja, lies mir vor! Und wie wir dann auf einer Trep­pe in der Son­ne sit­zen, Flie­gen tan­zen über unse­ren Köp­fen, sei­ne Stim­me: Lou­is, hör zu! – Alle sagen, – der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein ein­zi­ges Mal gese­hen. Wie vie­le Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brum­men­dem Schä­del Mos­kau durch­quert, von Nor­den nach Süden, von Wes­ten nach Osten, aufs Gera­te­wohl, von einem Ende zum ande­ren, aber den Kreml habe ich kein ein­zi­ges Mal gese­hen. — stop

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schallplatte

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del­ta : 3.58 — Ich stell­te mir eine Schall­plat­te vor, eine Schall­plat­te von 200 Metern Durch­mes­ser, eine Ton­spur von 100 Jah­ren Dau­er. Was könn­te auf die­ser Schall­plat­te ver­zeich­net sein? Die Geräu­sche einer Lich­tung des Ama­zo­nas Regen­wal­des viel­leicht? Oder eine mensch­li­che Stim­me, alle jene Wör­ter eines Lebens, auch in Träu­men gespro­che­ne Wör­ter. Das Schrei­en eines Kin­des. Das Selbst­ge­spräch einer uralten Frau? — stop

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tod in peking 2

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india : 0.28 — Es ist nicht lang her, es war im Dezem­ber gewe­sen, als ich einen Text notier­te, der vom Tod eines Freun­des erzähl­te. Ich hat­te damals noch kei­ne wirk­li­che Erklä­rung, wes­we­gen das Leben mei­nes Freun­des ende­te, aber eine Ver­mu­tung, eine Befürch­tung. Ich notier­te so: „Ich war ein­mal dabei, wie Ted­dy sei­ne Kame­ra in den Park spa­zie­ren führ­te, an einem kal­ten, win­ter­li­chen Tag, es hat­te geschneit. In den Hän­den des statt­li­chen run­den Man­nes sah der Foto­ap­pa­rat, der einen Com­pu­ter ent­hielt, klein aus, zer­brech­lich. Unent­wegt berich­te­te sein stol­zer Besit­zer von den Mög­lich­kei­ten der Foto­gra­fie, die die­se Kame­ra in Zukunft für ihn eröff­nen wür­de. Es war eine Art Lie­bes­be­zie­hung, die ich damals beob­ach­te­te, Ted­dy und sei­ne klei­ne Licht­fang­ma­schi­ne, wie er mit sei­nem drit­ten Auge den Schnee betas­te­te, wie er mir erzähl­te, dass man Schnee eigent­lich nicht foto­gra­fie­ren kön­ne. Das war vor vier oder fünf Jah­ren gewe­sen. Seit­her sind Ted­dy und sei­ne Kame­ra weit her­um­ge­kom­men in der Welt, vor­wie­gend reis­ten sie nach Peking, ver­brach­ten dort meh­re­re Mona­te im Jahr, wan­der­ten durch die gro­ße Stadt auf der Suche nach Augen­bli­cken, die Ted­dy sam­mel­te. Es war ein Foto­gra­fie­ren wie ein Gespräch, auch ein Selbst­ge­spräch gegen die Ver­lo­ren­heit, gegen die Angst viel­leicht ein­mal wie­der in den Alko­hol zurück­zu­fal­len, jedes Bild ein Beweis für die eige­ne Exis­tenz. Eine sei­ner Foto­gra­fien aus dem Som­mer 2012 zeigt zwei Jun­gen, wie sie dem rie­si­gen, run­den Mann mit dem klei­nen Foto­ap­pa­rat begeg­ne­ten. Der eine Jun­ge scheint zu stau­nen, der ande­re will die rech­te, seit­wärts aus­ge­streck­te Hand des Foto­gra­fen berüh­ren. Es ist eine typi­sche Foto­gra­fie, das Werk eines Künst­lers, der manch­mal in Euro­pa anrief, weil er sich ein­sam fühl­te in irgend­ei­nem Hotel der chi­ne­si­schen Pro­vinz bei Eis und Schnee. Auch in Peking hat­te er Freun­de, gute, wirk­li­che Freun­de, in sei­ner klei­nen Woh­nung dort wohn­ten eine jun­ge Stu­den­tin und ihre Mut­ter. Vor weni­gen Tagen erreich­te mich nun die Nach­richt sei­nes Todes, für den es zu die­sem Zeit­punkt kei­ne Erklä­rung gibt. Auf Face­book notier­te er noch: Bit­te beach­te, dass ich prin­zi­pi­ell kei­ne Nach­rich­ten schrei­be oder beant­wor­te. Ver­wen­de bit­te immer mei­ne E‑Mail-Adres­se, um mich zu errei­chen. Per Mail bin ich stets zu errei­chen.“ – Nun habe ich eben genau durch eine E‑Mail erfah­ren, wor­an Ted­dy gestor­ben ist. Eine chi­ne­si­sche Freun­din Ted­dys schrieb: Hal­lo! Ich bin Li Bin. Erin­nerst du dich an mich, die gute chi­ne­si­sche Freun­din von Ted­dy. Es tut mir so Leid, dass Ted­dy am 22. Novem­ber in Peking gestor­ben ist, weil er zu viel Alko­hol getrun­ken hat. Als ich die Nach­richt gehört habe, fand ich mich sehr über­rascht. Eigent­lich hat­te ich mich mit Ted­dy ver­ab­re­det, am 22. Novem­ber nach Peking zu fah­ren und sei­ne Foto­aus­stel­lung zu besu­chen. Aber noch vor der Abfahrt haben ande­re Freun­de mich ange­ru­fen, dass Ted­dy schon gestor­ben ist. Sofern ich das beur­tei­len kann, hat er nicht für lan­ge Zeit Alko­hol getrun­ken, aber sehr viel. Des­we­gen war er schon ein­mal im Kran­ken­haus in Peking. Damals war es schon sehr schlimm, trotz­dem hat er nicht auf­ge­hört, zu trin­ken. Ande­re Freun­de haben erzählt, er hat­te frü­her die Krank­heit, die Abhän­gig­keit vom Alko­hol. Aber Ted­dy hat mit mir das nie bespro­chen. So war­ten wir jetzt auf das Ergeb­nis der Poli­zei. — stop
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