echo : 0.55 — Ein faszinierender Suchwörterschatten, der Particles in den vergangenen Monaten berührte: Tattermandl . Herzohren . Papierhaut . Schneckengeschichten . Wasserwohnungen . künstlicher Babybauch zum Selbermachen . Andreas Einfinger . Brustmilchgang . Kalkutta . Mann ohne Mund . Stöpselkopfameise. Aber auch Versuchum Versuch, das Wort Particles zu formulieren: particlees . particeles . particals . xparticles . partticles. – Habe ich je über Coco Chanels Wintermütze notiert? – stop
Aus der Wörtersammlung: herz
hybrid
delta : 0.05 — Eine nordamerikanische Radiostation meldete vor wenigen Tagen, die Regierung der USA habe die Absicht, Beschränkungen finanzieller Mittel für Forschung und Entwicklung hybrider Lebewesen aufzugeben. Eichhörnchen sind nun denkbar, die nicht nur in der Vorstellung, vielmehr tatsächlich menschliche Herzen in sich tragen, Herzen in der Größe, wie wir sie in Föten kurz vor ihrer Geburt beobachten, gut trainierte Herzen, jederzeit bereit, gepflückt zu werden. – stop
wegen unsichtbarkeit
lima : 0.08 — Die kleine M. erzählte, sie habe mit ihrer Mutter fünf Jahre im fünfzehnten Stock eines Mietshauses auf Roosevelt Island gelebt. Dort hatten sie zwei Nachbarn, eine Familie links, puerto-ricanischer Herkunft, Mutter, Vater, drei Kinder, – sowie eine vermutlich alleinstehende Frau in der Wohnung rechts. Während M. und ihre Mutter sehr herzlichen Kontakt zu den Menschen auf der linken Seite ihrer Wohnung pflegten, man feierte sogar gemeinsame Feste, grüßte von Balkon zu Balkon, waren sie jener Frau, deren Stimme häufig schrill durch die Wand zu ihnen in die Wohnung drang, in all den Jahren räumlicher Nähe nie persönlich begegnet. Auch auf dem Balkon, berichtete M., hätten sie die Person, die zu der schrillen Stimme gehörte, nie gesehen, nur das Licht, das von der Wohnung her kam, Licht auch, das unter der Tür hindurch auf den Flur leuchtete, ein schmaler Streifen, fade. Das Schildchen, das neben der Tür zur Wohnung angebracht worden war, behauptete hinter der Tür lebe Lucilla Miller, ein Briefkasten, der zur Wohnung gehörte, existierte vor dem Haus, der Briefkasten wurde von irgendjemandem regelmäßig geleert. Manchmal nachts war aus der Wohnung Streit zu hören, Mrs. Millers keifende Stimme, dann wieder Flüstern, von Zeit zu Zeit auch Geräusche, die möglicherweise aus einem Fernsehgerät kamen, Schritte weiterhin, ferne Schritte. Mrs. Miller telefonierte häufig und jeweils lange Zeit, während dieser Gespräche schien Mrs. Miller herumzulaufen, zwei oder dreimal hatten ihre Nachbarn den Verdacht, sie sei vielleicht verreist, einmal wollte man das Jaulen einer Katze vernommen haben. Eigentlich war alles in Ordnung, eigentlich gab es keinen Grund zur Beunruhigung, wenn man doch Mrs. Lucilla Miller wenigstes einmal gesehen hätte, einen Schatten, oder eine Hand, die hinter den vergitterten Fenstern einer Aufzugstüre winkte. Darum, wohl hauptsächlich, wegen Unsichtbarkeit, wurde an einem eisigen Wintertag jene geheimnisvolle Wohnung von zwei Feuerwehrmännern geöffnet. Die Wohnung war, von zwei Lautsprechern abgesehen, auf welchen eine schäbige Lampe thronte, vollständig leer. Die kleine M. sagte, während sie an ihrem großen Zeh drehte wie an einem Radioknopf, dass sie sich sehr gewundert habe. Auch alle anderen haben sich gewundert, wie natürlich auch ich, der diese Geschichte aufgeschrieben hat. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 102, Luftfahrt — 24, Automobile — 503], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 2, 19. Jahrhundert – 18, 20. Jahrhundert – 326, 21. Jahrhundert — 788 ], Trolleykoffer [ blau : 3, rot : 77, gelb : 8, schwarz : 866 ] physical memories [ bespielt — 166, gelöscht : 12 ], Seenotrettungswesten : [ 6788 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 10 ], Brummkreisel : 3, Öle [ 0.88 Tonnen ], Hörrauschgeräte Typ Audifon Sueno T : 2, Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 6, Kniegelenke – 698, Hüftkugeln – 12, Brillen – 77 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 551, Größen 38 — 45 : 43 ], Plastiksandalen [ 8722 ], Reisedokumente [ 108 ], Kühlschränke [ 1 ], Telefone [ 536 ], Puppenköpfe [ 18 ] Gasmasken [ 6 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 1, mit Taucher – 2 ], Engelszungen [ 101 ] | stop |
ein faden
echo : 22.02 — Einmal fuhr ich auf einer Staten Island Fähre über die Upper New York Upper Bay spazieren. Ich war konzentriert. Ich hatte eine Aufgabe. Ich beobachtete den Himmel. Ich beobachtete die Wolken. Ich beobachtete die Häuser an der südlichen Spitze der Insel Manhattan. Ich erinnerte mich an den Film The Look. Es war Sommer. Es war Nachmittag. Ich hörte Nachrichten aus einem Radio, die von einem Hurrikane erzählten, der sich von Westen her nähere. Menschen saßen schweigsam herum, sie fächerten sich Luft zu. Auf dem Dach eines älteren Gebäudes hockten Möwen in großer Höhe. Sie wirkten, als wären sie Erfindungen, kaum sichtbar, ein Schimmern in der Luft. In diesem Augenblick löste sich eine der Möwen vom Dach des Hauses, das ich beobachtete. Sie segelte über den Battery Park, flog bald in einem großzügigen Bogen gegen den Wind, um schnell näherzukommen. Wenige Sekunden später landete die Möwe nur wenige Meter entfernt auf der Reling des Schiffes. Eine Weile blieb sie dort sitzen, sie schien mich zu betrachten. Dann flog sie los, flog zurück ungefähr auf demselben Weg, den sie für ihren Hinflug genommen hatte. Bald saß sie wieder auf dem Dach des alten Hauses unter weiteren Möwen, eine schimmernde Erfindung, dachte ich, sehr klein, ich konnte sie gut erkennen entlang eines Fadens von Bildern, den ich verzeichnet hatte. — stop
von lilli
tango : 1.02 — Es ist denkbar, dass Lilli Tampere eine Ausnahme ist. Sie scheint vom frühen Morgen an bis in den späten Abend hinein, auch während der Nacht noch, Twitternachrichten zu notieren. 17558 Botschaften will sie persönlich in einem Zeitraum von 15 Monaten in sieben Sprachen verfasst haben. Ich dachte selbstverständlich über Zahlen, Tage, Stunden, Minuten, Anschläge nach, ich wunderte mich, ich war begeistert, sofort habe ich Lilli Tampere einen Brief gesendet. Ich habe geschrieben: Lieber red_maki, wie heißen Sie wirklich! Ich kann nicht glauben, dass Sie tatsächlich existieren in der Art und Weise, dass Sie über ein einzelnes, schlagendes Herz verfügen, vermutlich sind Sie, in Betrachtung der ungeheuren Zahl der Textnachrichten, die Sie bereits gesendet haben, entweder eine Person, die sich aus zahlreichen Personen oder Herzen fügt, oder aber Sie sind ein Computer! — Red_maki antwortete umgehend: Lieber Herr Louis, ich bin sehr begabt, ich habe kleine, schnelle Hände, ich muss niemals schlafen, ich bin kein Computer, ich heiße Lilli Tampere. Guten Morgen! – Ich muss das weiter beobachten. — stop
im warenhaus
marimba : 0.02 — Am Abend im Warenhaus beobachte ich einen Jungen. Er springt in einer Warteschlange vor einer Kasse herum und lacht und verdreht die Augen. Weil sich auf dem Förderband vor der Kasse Milchflaschen, Cornflakesschachteln, Reistüten sowie zwei Honigmelonen befinden, kann der Junge den Mann, der an der Kasse seine Arbeit verrichtet, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann handelt es sich um Javuz Aylin, er ist mittels eines Namensschildchens, das in der Nähe seines Herzens angebracht wurde, zu identifizieren. In diesem Moment der Geschichte erhebt sich Herr Aylin ein wenig von seinem Stuhl, um neugierig über die Waren hinweg zu spähen, vermutlich deshalb, weil der Haarschopf des Jungen mehrfach in sein Blickfeld hüpfte. Da ist noch ein zweiter Haarschopf an diesem Abend im Warenhaus in nächster Nähe, schwarzes, lockiges Haar, es ist der jüngere Bruder des Jungen, der in wenigen Sekunden zu dem Kassierer sprechen wird, beide Kinder sind sich so ähnlich, als seien sie Zwillinge, ein großer und ein kleiner Zwilling. Gleich hinter den Buben wartet die Mutter, sie lächelt, wie sie ihre Kinder so fröhlich herumtollen sieht. Die junge Frau trägt ein schönes buntes Kopftuch, ich stelle mir vor, sie könnte in Marokko geboren worden sein, kräftig geschminkter Mund, herrliche Augen. Plötzlich sind die Waren auf dem Förderband verschwunden, der ältere der beiden Jungs betrachtet aufmerksam das Gesicht des Kassierers Aylin, der müde zu sein scheint. Er hält dem Jungen ein Päckchen mit Sammelbildern zur Europameisterschaft entgegen, außerdem ein zweites Päckchen für den kleineren Bruder, der immer noch hüpft, weil er soeben doch noch zu klein ist, um über das Band selbst hinweg spähen zu können. Oh, danke, sagt der Junge zu Herrn Aylin. Er schaut kurz zur Mutter hinauf, die nickt. Ich habe schon fast alle Karten, fährt er fort, die deutsche Mannschaft ist komplett. Er macht eine kurze Pause. Ich bin nämlich Deutscher, sagt der Junge mit kräftiger Stimme, auch mein Bruder ist Deutscher. Wieder schaut er zu Mutter hin, und wieder nickt die junge Frau und lacht. Bist Du auch Deutscher, fragt der Junge Herrn Aylin. Der schüttelt jetzt den Kopf und schneidet eine freundliche Grimasse. Der Junge setzt nach: Ach so! Warum nicht? Aber da ist er, ehe Herr Aylin antworten kann, mit seinem kleinen Bruder und seinen Sammelbildern bereits hinter der Kasse verschwunden, sodass sich ihre Mutter beeilen muss, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. — stop
pinguin
ulysses : 0.08 — Nachts bei geöffnetem Fenster: Geräusche eines Regenwaldes. Sie kamen um Sekunden in der Zeit verzögert über das Internet zu mir ins Zimmer. Ich glaube, der wilde Regenwald war ein peruanischer Regenwald, wunderbare Klänge, Vogel- und Affenstimmen, Regen und Wind in den Blättern der Bäume. Ich dachte, wenn doch nur jemand auf der anderen Seite der Leitung wahrnehmen könnte, welche Geräusche in einer mitteleuropäischen Wohnung unter dem Dach eines Hauses im Herzen einer großen Stadt in einer Nacht wie dieser Nacht zu hören sind. Ich prüfte das Mikrofon meiner Schreibmaschine. Dann stand ich auf und spielte aus der Konserve: Benny Goodman. Ich stellte mir vor, wie es für einen kurzen Moment im Wald drüben in Peru still werden würde, wie man lauscht auf den Bäumen, wie sich das Orchester der Waldtiere fröhlich neu sortieren würde. Es regnete, kaum war die Straße vor dem Haus noch zu sehen. Auf meinem Fensterbrett kauerten fünf nasse Spatzen, ein Rotkehlchen, zwei Amseln und eine Taube, auch sie lauschten. Deutlich konnte ich auf dem Giebel eines nahen Hauses einen Pinguin erkennen, der sich gegen den Regenwind stemmte. — stop
benny
goodman
lets dance
herzfach
romeo : 0.06 — Unlängst erzählte ich E. von gekühlten Herzfächern, die in einem Institut der Universität Oslo angelegt worden sein sollen. Ich sagte: Ist das nicht erstaunlich, seit einigen Monaten existiert dort in einem Fach ein Herz, das meinem Herzen ähnlich ist, weil es von mir, weil es nach meinen Zellinformationen gewachsen ist. Weißt Du, sollte mein eigenes Herz einmal schwach oder sehr krank werden, könnte man dieses vollkommen neue Herz in meinen Brustkorb setzen, wir, das Herz und ich, wären sofort befreundet. Nun ist das so gekommen, dass E. sich heimlich derart für diese Möglichkeit eines zweiten Herzens begeisterte, dass sie selbst gern über ein zweites Herz verfügen würde. Ich bin jetzt ein wenig in Verlegenheit. Ich denke seit Stunden über die Formulierung einer einfühlsamen Antwort nach. – stop
julia : letzte position 29°05’22.3“N 12°25’35.9“E
tango : 2.01 — Vor wenigen Stunden erreichte mich die Nachricht von der Existenz weiterer Fotografien, die enthauptete Menschen zeigen sollen. Ein Verweis, der zu den Aufnahmen im Netz führe, sei auf Position Twitter zu lesen. Ich überlegte eine Weile, ob ich dem beigefügten Link folgen sollte. Ich dachte, wie nah wir doch immer wieder Höllenansichten kommen, die möglicherweise nur deshalb produziert werden, weil zu vermuten ist, dass Millionen Menschen weltweit sie betrachten werden. Ich notierte einen Briefentwurf: Mein lieber Maximilian, vielen Dank, dass Du mich wieder einmal auf schreckliche Ereignisse, die sich in der libyschen Wüste ereignet haben, aufmerksam machst. Noch einmal will ich Dich bitten, auf weitere Hinweise dieser Art zu verzichten, da ich leblose Köpfe nicht weiter besichtigen möchte, sie wirken so hilflos, müde, und entsetzt von der ungeheuren Gewalt, die in der letzten Sekunde ihres Lebens auf sie wirkte. Ich weiß, Du kannst selbst nicht damit nicht aufhören, Du zählst menschliche Köpfe ohne Leib, Du vergleichst leblose Gesichter, Du sicherst Beweise, ich nehme an, Du wirst Dich in dieser Arbeit weniger hilflos fühlen. Wie traurig, dass noch immer keine Nachricht von Julia bei Dir eingetroffen ist, keine Spur in der Wüste, kein Hinweis, es ist eine Tragödie. Vielleicht willst Du mich einmal besuchen! Wir könnten spazieren, Du könntest mir erzählen, ich könnte Dir zuhören. Im botanischen Garten wird gerade der Honig der Wildbienen geerntet. Herzliche Grüße sendet Dir Dein Louis – stop