tango : 8.58 — Lydia, 23, notiert über ihre Erfahrung eines Präpariersaal-zeppelins Folgendes: > Ist Dir das auch aufgefallen, dass sich während des Sezierens kaum jemand verletzte? Ich habe mich darüber immer wieder gewundert. Vor allem dann, wenn ich auf dem Tisch Skalpelle und Gewebeteile liegen sah. Ich erinnere mich, dass ich zusammengezuckt bin, wenn jemand schrie oder laut lachte. Ich habe dann gedacht: Jetzt ist es passiert. Diese Skalpelle sind sehr scharf. Aber vielleicht hat die Art und Weise, wie wir das Werkzeug in Händen hielten, das Schlimmste verhindert. Wir haben aus dem Handgelenk heraus gearbeitet und nicht mit der Kraft des ganzen Arms. Faszinierend fand ich, den Brustkorb zu präparieren; die Lunge zu sehen, wie groß sie eigentlich ist und in welchem Bezug sie genau zum Herzen liegt. Vor allem war es aber spannend, die Konsistenz einiger Organe oder Organteile zu erfahren. Die Herzklappen sind unglaubliche Konstruktionen und auch das schwammähnliche Gewebe der Lunge ist anfangs sehr ungewöhnlich. Schwierigkeiten hatte ich mit keiner Region direkt, aber ich war sehr froh gewesen, dass die Präparationsarbeiten am Kopf meist von anderen Studenten erledigt wurden. Ich habe gerade das Gesicht eines Menschen als etwas sehr Persönliches angesehen. Das Gesicht ist das, was die Individualität eines Menschen ausmacht, ein Gesicht zu zerstören, war für mich eine schwierige Situation. Alles Gute! – stop
Aus der Wörtersammlung: laut
alpenregen
~ : oe som
to : louis
subject : ALPENREGEN
date : okt 31 11 10.52 p.m.
Besten Dank, lieber Louis, für das feine Tonmaterial, das Du uns gesendet hast. Wir haben Deine Alpenregengeräusche am vergangenen Donnerstag zu Noe in die Tiefe übermittelt. Große Freude! Gleichwohl sehnt Noe sich nach wie vor eine Uhr herbei, die wir ihm leider nicht gewähren können. Es ist nun folgendes geschehen. Noe presste, vielleicht zunächst ohne einen Vorsatz, seine rechte Hand gegen die Innenseite seines Taucheranzuges und konnte in dieser Weise Pulse erspüren. Von diesem Moment an zählte Noe die Schläge seines Herzens, er zählte bis er die Zahl 70 erreichte, eine Minute Zeit, seit zwei Tagen immerzu derselbe Prozess der Zählung mit lauter Stimme, eine Demonstration seiner Willensstärke, die uns nach und nach unheimlich wird, Noe, eine Uhr, auch schlafend, dämmernd, träumend, eine Uhr, verdammt, ich war mehrfach versucht gewesen, Noes Mikrophon auszuschalten, Ruhe an Bord, eine Gewalttat, die Bewegung eines kleinen Fingers nur, Stille, und doch nicht Stille, weil ich die Fortsetzung des Zählens in der Tiefe annehmen müsste, einundfünfzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig. Kurz nach 10 Uhr, eiskalte Nacht, aufkommender Wind von Nordwest, wir haben schweren Seegang zu erwarten. Dein OE SOM – Ahoi!
gesendet am
31.10.2011
1166 zeichen
staten island ferry : prozession
nordpol : 5.55 – Eine Geschichte ist zu erzählen an diesem Morgen kühler Luft kurz vor September. Diese Geschichte ereignete sich bereits vorgestern, nachts, bei mir zu Hause, weil ich mich nicht entscheiden konnte, was ich unter vielen Dingen, die zu tun gewesen waren, zunächst erledigen sollte, also machte ich alles zur gleichen Zeit. Ich hatte eine Entenbrust zu Morcheln und Pflaumen gelegt. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, ein weiteres anatomisches Tonband abzuhören, eine jugendliche Stimme berichtete vom Dach des Kühlschrankes aus leise vor sich, während ich kochend Fernsehbilder eines Hurrikans beobachtete, der sich auf die Stadt New York zubewegte. > Wenn ich von meinen Wochen im Präpariersaal spreche, dann spreche ich gerne von meiner Traumzeit. stop > Zu diesem Zeitpunkt, das ist festzuhalten, war ich nicht ganz bei der Sache gewesen, nicht wirklich in der Nähe der Gedanken, die ein junger Mann für mich ausgesprochen hatte, andererseits auch nicht ausreichend konzentriert auf das Geschehen jenseits des Atlantischen Ozeans. Einmal stellte ich den Ton des Fernsehgerätes lauter, wendete die Brust des Vogels in der Pfanne und hörte genau in diesem Moment, der Schiffsverkehr um Manhattan herum sei eingestellt, das war kurz nach Mitternacht europäischer Zeit gewesen. Ich meinte außerdem gehört zu haben, man sei gerade damit beschäftigt, die Fähren der Staten Island Verbindung den Hudson River hinauf, in eine sichere Umgebung zu transferieren. Ein feines Bild, das sich vor meinen Augen sofort entwickelte. Acht orangefarbene Schiffe in einer Reihe hintereinander auf dem großen Fluss, Schiffe, die sich gewöhnlicherweise pendelnd aneinander vorbeibewegen. Ich stürmte aus der Küche, in der Hoffnung auf dem Fernsehschirm ein Bild zu sehen, das dem gerade eben noch in meinem Kopf entworfenen Bild ähnlich gewesen sein könnte. Anstatt einer Fährgeschichte, war nun jedoch vom Regen die Rede, von den Winden des Hurrikans, die über den feuchten Strand nahe der Stadt Ocean Pines fegten. Ein Reporter, der tropfte, verharrte tapfer, Füße im Wasser, vor einer Fernsehkamera, die in größerer Entfernung, demzufolge sicher, montiert gewesen war. Er hielt ein Mikrofon in der Hand, das merkwürdig fauchende Geräusche erzeugte. Möwen, spitze gelbe Schnäbel in den Sturm gerichtet, verharrten in seiner Nähe, sie machten einen zufriedenen Eindruck, authentische Tiere, während ich, weiterhin die Prozession der Fährschiffe im Kopf, zurück in die Küche spazierte. Ein seltsames Gefühl von Nichtwirklichkeit in der Nähe meiner Feuerstelle, ein großes Durcheinander, das ich zu sortieren versuchte, in dem ich bis in den frühen Morgen des Sonntags hinein, auf allen zur Verfügung stehenden Kanälen vergeblich Beweise dafür zu finden suchte, dass Fährschiffe der Staten Island Verbindung sich tatsächlich an diesem späten Samstagabend, als ich mich nicht entscheiden konnte, auf dem Hudson River stromaufwärts bewegten. — stop. — Ende der Geschichte. — stop
von elefanten und ohren
tango : 20.18 — Ich besuchte im Traum ein Elefantenhaus. Kein gewöhnliches Elefantenhaus, vielmehr einen Ort, den eigenartige Elefanten bewohnten. Das waren nämlich Elefanten ohne jede Falte, sie waren so vornehm gestaltet, als wären sie von Glas geblasen, helle Augen, die sich flink bewegten, peitschende kleine, faltenlose Schwänze, lautlos schwingende, faltenlose Rüssel, riesige haarlose Körper, grau, braun, rosa. Ich saß auf einer Bank in ihrer Nähe. Vögel stürmten unter dem Kuppeldach hin und her. Sobald sie versuchten sich auf dem Rücken eines der Elefantentiere niederzulassen, rutschten sie ab und landeten auf dem Boden. Ein weiterer Vogel saß auf meiner Schulter. Der Vogel war mit einem meiner Ohren beschäftigt, hackte kleinere Portionen aus der Muschel, knurrte zufrieden vor sich hin. Sobald das Ohr, um das sich der kleine Vogel bemühte, verschwunden war, holte ich aus meiner Hosentasche ein neues Ohr, befestigte das Ohr an meinem Kopf, und schon fraß der kleine Vogel weiter vor sich hin. Einmal kostete ich heimlich von einem der Ohren, die sich in meiner Hosentasche befanden. Schmerzen hatte ich keine. — stop
PRÄPARIERSAAL : skalpell
romeo : 3.05 — Ich habe das Fauchen eines Schwans gehört. Zunächst war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich mich nicht vielleicht geirrt haben könnte, ein Nachgeräusch, dachte ich, ein Schatten in den Ohren, wie in den Augen Nachbilder entstehen, weil ich am Abend wirklichen, fauchenden Schwänen im Palmengarten begegnet war. Also spulte ich das Band zurück und hörte noch einmal genauer hin, und da war das luftige Geräusch tatsächlich wieder zu hören gewesen, in einer Atempause Emilys, deren Stimme ich im Nymphenburger Schlosspark aufgezeichnet hatte. Sie wollte Spazierengehen. Sie hatte gesagt, sie könne sich besser konzentrieren in Bewegung, vor allem besser schweigen, nachdenken im Gehen. Winterzeit, Schnee lag hoch bis zu den Knien und die Schwäne fauchten hungrig. Emily nun, so wie sie gesprochen hatte, ohne Pausen an dieser Stelle, weil ich ihr Schweigen in den Zeichen entfernte: > Bevor ich erzähle, wie ich die Öffnung des Körpers erlebt habe, möchte ich erwähnen, dass dieser erste Tag und auch der zweite Tag für mich nur schwer zu ertragen gewesen sind. Ich war beeindruckt von der großen Zahl der Tische, die in den Apsiden standen. Ganz ehrlich, ich war eingeschüchtert. Ich fühlte mich unsicher und unbedeutend und ich glaube, viele andere haben sich selbst auch so wahrgenommen. Man will das natürlich nicht zeigen. Man wünscht sich, souverän zu sein. Aber ich musste mich überwinden, den Körper überhaupt nur zu berühren. Da war ein Widerstand in mir, dem ich bis heute noch nachspüren kann Ich habe mehrere Versuche unternommen und hatte plötzlich große Angst, dass ich das überhaupt niemals könnte. Aber meine Freunde am Tisch waren sehr verständnisvoll. Sie haben mich nicht gedrängt und auch unser Tischassistent nicht. Er sagte, dass das ganz normal sei und dass ich mich beruhigen solle und ganz ruhig atmen. Ich hatte eine irgendwie verzerrte Wahrnehmung, alles war so laut um mich herum und ich bekam schlecht Luft. Ich bin dann erst einmal aus dem Saal geflüchtet. Eine Freundin hat mich begleitet und wir sind auf dem Flur hin- und hergelaufen. Und dann wollte sie zurück und ich folgte. Ich erinnere mich an den grünen Kittel unseres Assistenten. Er beugte sich gerade über den Körper des Toten und zog das Skalpell vom Kinn in Richtung des Nabels. Ich wunderte mich, dass man gar nichts hören konnte. Verstehen Sie, ich kann mir heute noch nicht erklären, warum ich ein Geräusch erwartet habe. Man konnte auch keine Spuren eines Schnittes erkennen. Dann ist etwas Merkwürdiges mit mir geschehen. Ich habe meine Position am Tisch wieder eingenommen, das heißt, ich habe mich wieder zu meiner Gruppe gestellt. Ich habe meine Handschuhe angezogen, mein Skalpell ausgepackt und meine Pinzette und dann habe ich angefangen zu arbeiten. Ich will das so sagen, ich habe den Körper auf dem Tisch zunächst mit dem Skalpell berührt und dann mit meinen Händen. Ich war sehr glücklich gewesen, dass ich mich überwinden konnte. Immer wieder ist aber das Gefühl einer gewissen Unwirklichkeit zurückgekehrt, der Eindruck an diesem Ort deplatziert zu sein, fremd oder so etwas. Sobald ich dann etwas getan habe, wenn ich gearbeitet habe, wenn ich also präpariert habe, ging das gut mit mir. Ich glaube, ich war eine von jenen, die stets tief über das Präparat gebeugt waren, ich bin sehr schnell in den Saal zum Tisch gelaufen, und wenn ich fertig war, habe ich den Saal so rasch wie möglich wieder verlassen.
ameisengesellschaft ln — 768
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 769 [ lasius niger ] : Position 48°21’N 07°01’O : Folgende Objekte wurden von 20.00 — 21.00 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : zwei trockene Fliegentorsi mittlerer Größe [ je ohne Kopf ], sechzehn Baumstämme [ à 7 Gramm ], fünfzehn Raupen in Grün, achtzehn Raupen in Orange, ein Insektenflügel [ vermutlich der eines Zitronenfalters ], zwei Streichholzköpfe [ à 2 Gramm ], acht Fliegen der Gattung Calliphoridae in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 50 Gramm ], fünf Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], sieben gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], 157 Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], sechs Rüsselkäfer [ blautürkise ], die Aaskugel eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, eine Wildbiene, ein Autoreifen [ Maserati Mistral ] 8 Gramm. — stop
manhattan transfer
~ : oe som
to : louis
subject : DOS PASSOS
date : july 31 11 5.15 p.m.
Anstrengende Tage liegen hinter uns, Regen, stürmische Winde, schwerer Seegang, Pelikane kreisen hoch über dem Schiff. Vor zwei Tagen zuletzt schickten wir Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer zu Noe hin abwärts. Ein schweres Buch, das in vierhundert Fuß Tiefe von einer warmen südlichen Strömung abgetrieben wurde, bald darauf in einer Pendelbewegung derart heftig nordwärts gezogen wurde, dass wir fürchteten, Noe könnte von dem Gewicht des Romans getroffen oder das Buch von der Senkleine in unergründliche Tiefen fortgerissen werden. Drei Stunden später hielt Noe John Dos Passos in Händen. Unser Taucher bemerkte sogleich, dass es sich bei diesem weiteren Unterwasserbuch um ein besonderes Werk handeln musste, eine umfangreiche Satzversammlung, von innen her, Seite für Seite, Zeichen für Zeichen aprikosenfarben sanft beleuchtet. In derselben Minute, da Noe das Buch öffnete, begann er laut zu lesen. Er las drei Stunden, dann schlief er kurz ein, um noch im Halbschlaf befindlich seine Lektüre fortzusetzen: Die Sonne ist nach Jersey gerückt, die Sonne steht hinter Hoboken. Hüllen schnappen über Schreibmaschinen, Rollladenschreibtische schließen sich. Aufzüge fahren leer in die Höhe, kommen vollgepfropft herunter. Es ist Ebbe in der City, Flut in Flatbush, Woodlawn, Dyckman Street, Sheepshead Bay, News Lots Avenue, Canarsie. Rosa Zeitungen, grüne Zeitungen, graue Zeitungen. Sämtliche Börsenkurse. Sportresultate. Lettern wirbeln über ladenmüde, büromüde schlaffe Gesichter, wunde Fingerspitzen, schmerzende Fußriste, muskulöse Männer, Gedränge im U‑Bahn-Express. — Kurz vor Sonnenuntergang. Das Meer sucht nach uns, mit Zungen von Gischt. Ein riesiger Schwarm Makrelen nähert sich von Norden her, ungeheure Bewegung, wie eine riesige Hand fährt sie auf dem Radarschirm langsam die Küste entlang. Noe wünscht, eine Fotografie John Dos Passos’ zu sehen. So etwas hat’s noch nie gegeben. — Ahoi! Dein OE
gesendet am
31.07.2011
1962 zeichen
PRÄPARIERSAAL : libelle
echo : 6.12 — Ich habe auf einem Fernsehbildschirm Jonathan Franzen beobachtet, wie er in seinem New Yorker Arbeitszimmer sitzend von Apparaturen erzählt, die ihm behilflich sein könnten, den Lärm der Stadt oder des Hauses, in dem er sich befindet, von seinen Ohren zurückzuhalten. Er berichtet das ungefähr so: Ich habe eine Menge Lärmschutzvorrichtungen. Ich schütze mich gegen Lärm mit Schaumgummistöpseln. Sie sind wichtig. / Und darüber hinaus habe ich meine Kopfhörer. Und zudem noch rosa Rauschen auf CD. / Das ist wie weißes Rauschen, aber es ist etwas wärmer im Ton. Es beschränkt sich auf die niedrigen Frequenzen. Es klingt wie eine Raumkapsel in der Atmosphäre mit einem wundervollen Brausen, ein alles umhüllendes Brausen, das plötzlich verschwindet. stop. Weit nach Mitternacht, kühle Luft. stop. Lungere auf dem Sofa herum, höre anatomische Tonbandaufnahmen ab, Wörter, Sätze, Gedanken einer ferneren Zeit, die sofort wieder sehr nahe kommen, vielleicht deshalb, weil sie von typischen Geräuschen jenes Ortes, an dem sie aufgenommen wurden, begleitet sind. Das Rauschen der Stimmen hunderter Menschen. Pinzetten, die gegen Metall klopfen. Eine Lautsprecherdurchsage: Denken Sie bitte daran, der Präpariersaal wird vor dem Testat am kommenden Montag bereits um 7 Uhr geöffnet. Das kleine Wiedergabegerät, das neben mir auf einem Kissen ruht, bewegt sich nicht oder nur so leicht, dass meine Augen diese Bewegung nicht wahrnehmen können. Einmal denke ich an etwas anderes, als das, was zu hören gewesen war, und bemerke in dieser Weise, dass ich, in dem ich an etwas denke, das entfernt ist, meine Ohren auszuschalten vermag. Deshalb musste ich soeben das Band zurückspulen und Thomas’ feine Geschichte wiederholen, die von einer Libelle erzählt. Hört zu: Wir hatten einen Mann auf dem Tisch, einen männlichen Körper von dunkler Farbe und von außerordentlicher Größe. Ich glaube, dieser Körper war der größte Körper des Kurses. Ich war erstaunt, weil ich mit einem Präparat, das größer sein würde, als ich selbst, nicht gerechnet habe. Nein, einen Hünen hatte ich wirklich nicht erwartet. Sie müssen wissen, ich habe mir sehr bewusst keine genauen Vorstellungen von der Wirklichkeit des Anatomiesaales gemacht. Ich hatte vermutet, dass die Luft kühl sein würde, aber an dem Tag, als wir unsere Arbeit aufnahmen, war es sommerlich warm und ich schwitzte und hatte Mühe, ohne Unterbrechung daran zu denken, mir mit den feuchten Handschuhen nicht ins Gesicht zu fahren. Ich hatte erwartet, dass das Licht im Saal eher gedämpft sein würde, aber es war strahlend hell, ein Licht, das kaum einen Schatten warf. Und ich hatte einen überschaubaren Körper erwartet, einen eher kleinen Körper, den Körper eines uralten Menschen. Ich habe mit alternden Menschen immer Gestalten in Verbindung gebracht, die zerbrechlich sind, Körper, die kleiner werden, die sich zurückziehen, die man stützen muss, führen, die noch im Leben durchlässig werden für das Licht. Dort vor mir auf dem Tisch aber lag ein Mann, der geradezu strotzte vor Kraft. Er war nicht fett, sondern muskulös, und am Bauch und an der Brust, an Armen und Beinen sehr stark behaart gewesen. Ich werde diesen Anblick mein Leben lang nicht vergessen. Ich habe den Mann sehr lange Zeit betrachtet. Dieses geschwollene Gesicht war das Gesicht eines schlafenden Boxers. Seine Augen waren geschlossen, die Hände zu Fäusten geballt und seine Füße sahen ganz so aus, als hätte er sie schon vor sehr langer Zeit vergessen. Ich habe ihn mehrfach umkreist, und dann haben wir ihn gemeinsam auf dem Tisch herumgedreht. Sehr fest mussten wir zugreifen. Ich sage Ihnen, das ist nicht leicht, am ersten Tag in diesem Saal so fest zuzufassen. Man ist ja sehr vorsichtig und man ist dankbar für dieses Geschenk, das ein Mensch für uns zurückgelassen hat. Und als wir ihn dann herumgedreht hatten, konnten wir eine Libelle erkennen. Sie war links oben auf seinem Rücken eintätowiert, regio scapularis, Sie verstehen? Ein erstaunlich präzise gezeichnetes Bild, nicht sehr groß, vielleicht gerade so groß wie ein Mittelfinger des Mannes und in blauen, roten und grünen Farbtönen ausgeführt. In diesem Moment hatte ich eine Vorstellung, die in das Leben des Mannes auf dem Tisch zurückführte. Ich habe mir vorgestellt, wie er als junger Mann in einer Badeanstalt mit den Muskeln spielte, wie er seinen Insektenvogel in Bewegung setzte, um einer Frau zu gefallen vielleicht. Aber da war noch etwas anderes, da war die Frage, was wir sehen würden, sobald wir die Haut unter der Libelle so weit gelöst hätten, dass ein Blick auf ihre Rückseite möglich werden würde.
PRÄPARIERSAAL : namen
marimba : 22.51 — Feuchte Fliegen lungern am Abend auf dem Boden herum. Das sanfte, einschläfernde Geräusch des Wassers, Dunkelheit kommt bald aus den Wolken gefallen. Unter dem Schirm dort weiter anatomische Tonbänder verzeichnet. Veronika* erzählt eine feine Geschichte, die ich beinahe genau so wiedergebe, wie ich sie vor wenigen Minuten hörte: > Ich stehe vor einem Tisch und betrachte einen Körper. Das ist ein Bild, das ich nicht erfunden habe, ein Bild, das jetzt zu meinem Leben gehört. Eine Frau, die in einem weißen Kittel vor einem Tisch steht, auf dem ein Mensch liegt, der tot ist. Ich habe mit den Ursachen dieses Todes nichts zu tun, ich empfinde keine Trauer, aber Respekt. In den ersten Minuten im Saal am Tisch habe ich nicht sehr geordnet, nicht systematisch jedenfalls nachgedacht. Ich glaube, ich habe zunächst versucht, ein Gefühl, ein geeignetes Gefühl für diese Situation zu finden, eine Position, meine Position. Kurz zuvor waren wir noch im Hörsaal gewesen. Unser Professor hatte ein Präparat mitgebracht. Dieser helle Körper, der weit entfernt in einem Oval unter den hoch aufragenden Sitzreihen auf einer Bahre lag, hatte etwas Einsames an sich. Als ich mich dann an meinem Tisch stehend über den Körper eines Mannes beugte, den ich in den folgenden Wochen zerlegen würde, suchte ich unwillkürlich nach Spuren, die zu einer Vorstellung führen könnten, wie er einmal lebte. Aber da war nichts, was mich mit seiner Zeit noch verbinden konnte, kein Name. Das Haar des Mannes war entfernt, an seinen Ohren waren hölzerne Schilder angebracht, auch an seinen Handgelenken und an seinen Füßen, sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Ich erinnere mich, der Mann wirkte weder friedlich noch so, als würde er nur schlafen, da waren weder Zeichen einer langen Leidenszeit noch Spuren eines Kampfes. Das Gesicht war leblos, ein Gesicht ohne Ausstrahlung, ohne Elektrizität. Der Körper erinnerte mich an eine große Puppe, er hatte etwas Schematisches, aber vielleicht war das bereits mein Blick, meine Perspektive gewesen, die diesen Eindruck erzeugte? Ein Bein und noch ein Bein. Ein Arm und noch ein Arm, und ein Kopf. Ich konnte das bald gut, diesen Mann, diesen Körper betrachten. Ich war ganz entspannt dabei. Ich wusste auch, dass sich dieser Körper sehr rasch verändern würde in der Folge meiner Arbeit. Ich war der festen Überzeugung, dass wir dem Toten keinen Namen geben sollten. Ich war sehr froh, dass ich nicht wusste, wie sein Name lautete, als er noch lebte. Ich habe, kurzum, versucht, diesen Körper auf dem Tisch als ein Präparat zu betrachten, als eine für uns kostbare Hülle, als ein Vermächtnis. Meine Kommilitonen haben ihm einen Namen gegeben, aber wir haben uns deshalb nicht gezankt. Ich habe mich an der Suche nach einem Namen ganz einfach nicht beteiligt. - stop
* Name geändert
isaac bashevis singer
sierra : 22.55 — Mittwoch. Abend. Weiterhin Regen. Regen auch während ich schlief. Ich konnte ihn hören bisweilen, wenn ich auftauchte, ohne ganz wach zu werden. Von irgendwoher jetzt ein Geräusch, pling, pling, und Isaac B. Singers helle und zugleich raue Stimme, indem sie eine Geschichte erzählt, die ich in den vergangenen Tagen wieder und wieder hörte. Die Geschichte geht so: Kurz nach meiner Ankunft (in Amerika) betrat ich zum ersten Mal eine Cafeteria, ohne zu wissen, was das ist. Ich hielt es für ein Restaurant. Ich sah lauter Leute mit Tabletts und fragte mich, warum man in so einem kleinen Restaurant so viele Kellner brauchte. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vorbeikam, ein Zeichen. Ich hielt sie alle für Kellner und wollte etwas bestellen. Aber sie ignorierten mich, manche lächelten auch. Und ich dachte, was für ein unwirklicher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein kleines Café mit so vielen Kellnern, und niemand beachtet mich! Irgendwann begriff ich, was eine Cafeteria ist. Sie wurde mein zweites Zuhause. Die Cafeterien wurden eine Art Zuhause für Flüchtlinge aus Polen, Russland und anderen Ländern. Viele meiner Geschichten spielen in Cafeterien, wo all diese Menschen aufeinandertrafen: die Normalen, die weniger Normalen und die Verrückten. Das ist also der Hintergrund meiner Geschichten, die in Cafeterien spielen. — stop