echo : 22.05 – Sagen wir das so: Ich bin heute, an diesem sonnigen Montag mit dem Bus hin und her übers Land gefahren, mit einem 81er-Bus, mit Luca’s Bus, und zwar die Strecke von Valletta nach Rabat bis rauf zu den Dingli Cliffs, von wo man weit aufs Meer hinaus südwärts nach Afrika schauen könnte, wenn die Erde nicht rund wäre wie wir sie vorgefunden haben. Luca ist ein Busfahrer aus Leidenschaft. Er trägt ein blaues Hemd, seine Arme sind gebräunt wie sein Gesicht, rechts, von wo die Sonne kommt, etwas stärker als von links. 47 Cent kostet eine einfache Fahrt nach Rabat. Jeder, der hereinkommt, wird begrüßt: Welcome, welcome! Dann 15 Kilometer stetig dem Himmel zu, links und rechts der Straße, Spuren von Weizen, Tomaten, Kartoffeln, Inseln blühender Blumen, Mohn und Margeriten und Linien von Kakteenpflanzen, als seien Meereswellen zu fleischigen Blattkörpern gefroren für alle Zeit. Da und dort ein Dorf, Büsche, Orangenbäume, Windräder, Funkantennen. Nach einer Stunde kommt man dann an in Rabat oder Mdina, man weiß jetzt, dass man über einen Knochenkörper verfügt, und man ahnt, dass Luca seinen Weg noch finden würde, wenn er einmal blind geworden sein sollte. Luca sammelt Marienbilder wie ich Überraschungen sammle, Momente wie diesen, da Luca bemerkt, dass ich nicht aussteigen, dass ich wieder mit ihm zurückfahren werde, dass der Bus und er selbst für mich bedeutender sind, als Orte und Landschaft, die wir durchreisen. Jetzt darf ich ihn fotografieren und sein Armaturenbrett, Diesel, Diesel! Und ich darf ihm eine Frage stellen, ich wollte nämlich wissen, ob es für ihn denkbar ist, seinen Bus einmal bis hin unter die Decke mit Wasser zu füllen, ob er sich vorstellen könne, mit einem Bus voll lebender Fische über Land zu fahren. Luca’s Hupe, eine Lufttrompete. — stop
Aus der Wörtersammlung: nämlich
an der nachtzeitküste
ginkgo : 6.00 – Flughafen. Terminal 1. Drei Uhr und fünfzehn Minuten. Ich stoße auf Charlie, 36, Arbeiter. Der Mann, der in Togo geboren wurde und lange Zeit dort gelebt hatte, sitzt unter schlafenden Reisemenschen an der Nachtzeitküste. Er sieht seltsam aus an dieser Stelle, ein Mann, der in seinem Leben noch nie mit einem Flugzeug reiste, stattdessen in Zügen, Bussen, Schiffen durch den afrikanischen Kontinent Richtung Europa geflüchtet war, ja, merkwürdig sieht Charlie aus, wie er so unter schlummernden Nordamerikanern, Usbeken, Chilenen, Japanern, Neuseeländern sitzt. Er trägt Sicherheitsschuhe, ein kariertes Holzfällerhemd und Hosen von kräftigem Stoff, mit Katzenaugen besetzte dunkelblaue Beinkleider, die in jede Richtung reflektieren. Nein, unsichtbar ist Charlie, auch im Dunkeln, sicher nicht. Er macht gerade Pause, trinkt Kaffee aus einer schreiend gelben Thermoskanne und genießt ein Stückchen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorgfältig kaut er vor sich hin, nachdenklich, vielleicht weil er sich auf ein Spiel konzentriert, das er seit Jahren bereits an dieser Stelle wartend studiert. Charlie tippt Lotto. Charlie ist ein Meister des Lottospiels, Charlie spielt mit System. Er hat noch nie verloren. Er hat noch nie verloren, weil er noch nie einen wirklichen Cent auf eine der Zahlenreihen setzte, die er in seine Notizbücher notiert. Charlie ist ein beobachtender Spieler, Vater von fünf Kindern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nachtarbeiter ist. Wenn ich mich neben ihn setze und ihm zusehe, wie er mit einem roten Kugelschreiber Zahlenkolonnen in seine Hefte notiert, freut er sich, macht eine kleine Pause, erkundigt sich nach meinem Befinden, und schon schreibt er weiter, analysiert, rechnet, sucht nach einer Formel, die seine Familie zu einer reichen Familie machen wird. Einmal frage ich Charlie, ob er noch Briefe schreiben würde an seine Eltern in Lomé. Ja, sagt Charlie, jede Woche schreibe er einen Brief an seine Eltern, die am Meer leben, am Atlantik nämlich. Ein andermal will ich wissen, warum er nicht einen Computer einsetzen würde, um vielleicht schneller finden zu können, was er sucht. Charlie lacht, sieht mich an durch kräftige Gläser einer Brille, sagt, dass er wisse, wie bedeutend Computer seien für die Welt, in der wir leben, seine Kinder spielten mit diesen Maschinen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er weiter. Eine ruhige, klare Schrift. Rote Zeichen. In diesem Moment begreife ich, dass ich einer Beschwörung beiwohne, einem Gebet, Malerei, einer Komposition, der allmählichen Verfertigung der Idee beim Schreiben. Hermann Burger — stop
motel chronicles
~ : louis
to : Mr. Shepard
subject : MOTEL CHRONICLES
Eine Depesche, verehrter Mr. Shepard, an diesem frühen Morgen in Europa. Bei Ihnen da drüben in Amerika wirds gerade dunkel werden. Notiere begeistert, dass ich Ihre Motel Chronicles geöffnet habe. Obwohl äußerst müde gewesen, las ich eine Halbstunde voran, ohne eine Pause einzulegen. Ihre präzise Sprache, die leicht ist wie Bimsstein, vulkanisch, von Zeithöhlen durchwachsen. Ob es vielleicht möglich ist, ihre Geschichten zu nehmen, um sie in eines der Bücher zu übertragen, die ich erfinde für Nachtpersonen, oder eine Zeile nur wie diese, da das Glück fällt auf die linke Seite des Zufalls? Vielleicht werden Sie fragen, welche Eigenschaften ein Nachtbuch von Tagebüchern unterscheiden. Nun, ein Nachtbuch gebietet über wanderndes Licht in seinen Zeichen, welches müde Leser kaum merklich weiter lockt. Sobald sich nämlich studierende Augen schließen, leuchtet das Licht im nächsten Zeichen, im nächsten Wort voraus, sodass man nicht aufhören möchte, diesem Licht durch die Zeilen zu folgen. Eine Verführung, das könnte sein, ein Appell des Buches, das in den Buchstabensensoren, das Augenlicht der Lesenden zu spüren vermag. Eines dieser Nachtbücher könnte Ihres werden, lieber Mr. Shepard, Motel Chronicles, unsichtbare Zeichen des Tages, Licht in der Nacht. Erwarte Ihre Antwort oder Fragen mit Freude, wie auch immer sie sich für mich darstellen werden. Mit herzlichen Grüßen — Ihr Louis
gesendet am
17.02.2011
4.08 MEZ
1407 zeichen
stehschläfer
sierra : 2.24 — Stehschläfer, wie man vielleicht meinen möchte, sind keine Vögel, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer sind Menschen, Menschen nämlich, die sich genau so verhalten, wie das Wort, das sie bezeichnet, sie schlafen im Stehen. Das ganz Besondere, das Seltsame ist, dass diese Art der Stehschläfer in meinem Leben bisher nicht vorgekommen ist, noch vor einer halben Stunde hatte ich nicht die leiseste Ahnung ihrer Existenz, aber dann war da plötzlich dieses Wort Stehschläfer in meinem Kopf, in dem ich nach Mitternacht durch die Hallen des Flughafens wanderte, müde vom Lesen, müde auch vom Denken. Dieser Frieden, der hier zu finden ist, die Ruhe der Liegenden, der Sitzenden, bald werden sie davonfliegen nach Übersee vielleicht, oder nach Moskau, wo man sterben kann in den Spuren eines versteckten Krieges, der bisweilen Menschenleben zerstörende Funken nordwärts schleudert. Dort, in diesem Frieden einer Flughafenhalle bei Nacht, muss jemand im Stehen geschlafen haben. Ich habe ihn vielleicht aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen, eine nicht bewusste Sekundenbetrachtung, die genügte, das Wort Stehschläfer hervorzurufen. Oder ich habe das Wort Stehschläfer gedacht, und kurz darauf einen Mann gesehen, der niemals existierte. — stop
herr auf bahnsteig
echo : 6.28 — Ein älterer Herr abends spät auf dem Bahnsteig einer Metrostation. Der Mann ist offensichtlich glücklich. Gerade noch, vor wenigen Minuten, passierte er mit einem Koffer in der linken Hand eine Bildschirmwand, las im langsamen Gehen einen Text, der eine halbe Minute zuvor dort erschien. Dieser Text, eine Meldung, berichtet von Forschungsergebnissen eines nordamerikanischen Institutes, man habe nämlich herausgefunden, dass die Intensität der Gefühle mit dem wachsenden Alter eines Menschen steigen würde, man könne sich mit 60 Jahren am besten in eine andere Person hineinversetzen, gleichwohl schwierigen Zeiten etwas Gutes abgewinnen. Wie er diesen Text nun liest, wird der alte Mann langsamer, hält schließlich an, wendet sich dem Licht des Bildschirmes zu, setzt den Koffer neben sich auf den Boden ab. Leicht nach vorne gebeugt steht er da, ein Schatten, eine Silhouette, die sich auch dann nicht bewegt, als die Nachricht, die von der Natur, vom elektrischen Wesen des alten Mannes persönlich erzählt, verschwindet und stattdessen ein Wetterbericht (Eis und Schnee), eine Reiseempfehlung (Ägypten), sowie aktuelle Devisenkurse (Dollar steigend) erscheinen. Der alte Mann wartet, er wartet zwei oder drei Minuten, bis der Text, den er studierte, wiederkehrt. Weitere Minuten vergehen, dann nimmt der alte Mann seinen Koffer vom Boden, dreht sich auf dem Absatz herum, sieht mich an, er lächelt und geht weiter. Eine Frau nähert sich in diesem Moment, da ich notiere, dem Luftraum vor dem Bildschirm. Sie trägt einen länglichen Pappkarton, in dem sich, einer Zeichnung folgend, ein Weihnachtsbaum (Tanne) befinden soll. Aber das ist schon eine ganz andere Geschichte. Guten Morgen! — stop
take the “A” train — protokollfaden
tango : 0.18 — Vor wenigen Minuten ist etwas Erstaunliches passiert. Ich habe das feine Jazzstück Take the “A” Train in der Interpretation Dave Brubecks und seines Orchesters gehört, und zwar in einem Zimmer hier in Mitteleuropa bei bester Tonqualität. Das sehr Besondere an diesem Ereignis ist gewesen, dass die Musik Dave Brubecks zunächst in einem Städtchen nahe der Stadt New York aufgelegt worden war, nämlich in den Studios eines Jazzsenders von meiner Zeit nur um Sekundenbruchteile entfernt, sodass ich gern behaupten würde, dass zu derselben Zeit, da ich siebentausend Kilometer weit entfernt westwärts die ersten Geräusche des Orchesters vernehmen konnte, Dave Brubeck im Studio von einer digitalen Tonkonserve her zu spielen begann. Unverzüglich sauste das Stück in kleine Pakete zerlegt und auf einen Protokollfaden gereiht im Datentunnel unter dem Atlantik hindurch zu mir hin, jedes einzelne Paket nur für meine Computermaschine und mich bestimmt, wo es rasend schnell zusammengesetzt und somit hörbar wurde. Das Wunder der Musik. Das Wunder ihrer Reise. Das Wunder meiner Ohren, dass sie existieren. — Kurz nach Mitternacht. Stürmischer Wind pfeift ums Haus. — stop
pong pong
alpha : 2.01 — Kuriose Beobachtung heut Nacht. Ich saß auf meinem Sofa und dachte an eine Apparatur, die in der Lage sein könnte, Bücher in einem vorgegebenen Rhythmus selbstständig umzublättern. Über zwei Arme sollte diese Maschine verfügen, gleichwohl über fingerähnliche Fortsätze, einen Motor und Sensoren, empfindlich für Licht. Während ich die Maschine in meinem Kopf zusammensetzte, notierte ich die Anzahl der Schrauben, die bald einmal im wirklichen Leben zur Festigung nötig sein werden, handschriftlich auf ein Blatt Papier. Immer wieder, wenn ich in meiner Arbeit gestört wurde, setzte ich neu an. Das ist nämlich sehr merkwürdig mit Maschinen, die ich erfindend montiere, sie verschwinden vollständig aus dem Sinn, sobald ich nur für eine Sekunde meine Arbeit zu unterbrechen habe, sagen wir, weil ich höre, wie draußen auf der Straße Schritte laufen. Eigentlich ist diese Nacht überhaupt ungeeignet, eine Kopfmaschine zu bauen. Ich habe die Fenster meiner Wohnung geöffnet, ein leichter Wind fährt durch die Kronen der Bäume vor dem Haus. Diese Bäume im Dunkeln sind Kastanien. Sie machen Nussmusik, pong, pong. — stop
avenue of the americas
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : AVENUE OF THE AMERICAS
Ich muss Euch nicht erzählen, wo ich mich gerade befinde, liebe Violet, liebe Daisy, ich höre Euere Stimmen, hör, wie Ihr scherzt, was macht er nun schon wieder, warum ist er eingeschlafen, das muss ein betäubendes Buch gewesen sein. Jetzt also bin ich wach geworden. Ich notiere diese Sätze in dem Wissen, dass Ihr lesen werdet, Zeichen für Zeichen, wie in diesem Augenblick erscheint, was ich schreibe. Das Notieren ist so etwas wie das Sichtbarmachen des Denkens, nicht wahr, so könnten wir das vielleicht sagen. > …
… > Spazierte in Euerer Angelegenheit, wie versprochen, durch Manhattan. Ich hatte meinen kleinen Fotoapparat in der Hand, stand mitten auf der Avenue of the Americas, um das neue Hippodrom-Gebäude abzulichten. Auch das wisst Ihr natürlich, wie wir dann Richtung Bryant Park spazierten, unser Gespräch über geheime Tentakeln der Bäume, die den Lärm der Stadt aus der Luft zu fangen scheinen. Und mein Begehren, gewiss, ein Eichhörnchen zu fangen, das warme Licht des hupenden Abends, meine Überlegung, wie ich Euch eines Tages einmal persönlich begegnen könnte, und mein Versprechen, ein weiteres Euerer Jugendbilder zu senden. Was Euch nicht bekannt sein wird, weil ich’s nur dachte, ich hatte in all den gemeinsamen Stunden eine verwegene Frage in meinem neugierigen Kopf. Nun, es ist kurz nach Mitternacht, werde ich diese Frage für Euch buchstabieren, unsicher ein wenig, was geschehen wird, ob ich Euch nicht zu Nahe komme, sodass Ihr aus meinen Augen verschwinden werdet. Gebt gut acht! Es ist nämlich so, dass ich mich frage, wie auch immer die Räume beschaffen sind, die für Euch ausgedacht, ob Ihr dort Oben für die Ewigkeit noch immer leiblich miteinander verwachsen seid? – Euer Louis, sehr herzlich, wünscht eine gute Nacht!
gesendet am
18.05.2010
0.05 MESZ
1775 zeichen
denkfalter
india : 0.02 — Begeistert, nachdem ich in einem Wörterbuch der englischen Sprache zur Übersetzung der Zitronenfalter Variationen gesammelt habe. Brimstone butterfly, herrlicher Klang! Ich erinnerte mich, dass mir das Wort brimstone schon einmal begegnete, ich meine das Wort vor langer Zeit in Jan Gabrials Buch My Life with Malcolm Lowry entdeckt zu haben, ein vulkanisches Wort, und weil ich mir nicht ganz sicher gewesen war, noch einmal der Blick ins Kompendium. Eine Meeresgeschichte der Schwefelfalter wird nun denkbar, wie sie von salzigen Winden über Zinnobersand gewirbelt werden. Und da ist noch eine weitere, eine vielleicht seltsame Beobachtung an diesem Abend. Das ist nämlich so, ich kann nichts sagen über den eigentlichen Duft der Schmetterlingswesen. — stop
lustgärten
echo : 0.22 — Robert Walser in einer Nachtminute eben: Der Mensch ist ein feinfühliges Wesen. Er hat nur zwei Beine, aber ein Herz, worin sich ein Heer von Gedanken und Empfindungen wohl gefällt. Man könnte den Menschen mit einem wohl angelegten Lustgarten vergleichen. Wenn wir alle wären, wie wir sein sollten, nämlich wie es Gott uns gebietet zu sein, so wären wir unendlich glücklich. — Wiederum versucht und noch zu finden: Eine Gebärde, die das Wort Hibiscilli vollständig enthält, eine Geste der Freude, eine zärtliche Berührung der Luft. — stop