Aus der Wörtersammlung: niemand

///

ein koffer

9

del­ta : 16.12 UTC — Ich weiss nicht, wohin die Vögel schla­fen gehen, stellt Hil­de Domin ein­mal fest. Sie erzählt, wie sie ihrem gelieb­ten Mann begeg­ne­te, dass sie wun­der­ba­re Gesprä­che führ­ten, dass sie sicher ein Jahr brauch­ten, um sich zum ers­ten Mal zu küs­sen. Wir waren sehr förm­lich. In der 45. Minu­te des wun­der­vol­len Films Ich will Dich — Begeg­nun­gen mit Hil­de Domin von Anna Dit­ges will die jun­ge Fil­me­ma­che­rin wis­sen, ob Hil­de Dom­ins Ehe­mann ein guter Lieb­ha­ber gewe­sen sei. Hil­de Domin ant­wor­tet mit tro­cke­ner Stim­me: Ich hat­te kei­nen ande­ren. Ich kann das nicht beur­tei­len. Ich find, ja. Sie macht ein län­ge­re Pau­se. Dann fährt sie fort: Ich habe auch vor ihm nie­man­den geküsst. Das war damals nicht üblich, dass man so zurück­hal­tend war wie ich. Mei­ne Freun­din­nen waren alle anders. Anna Dit­ges: Er war der ein­zi­ge Mann, den Du je gekannt hast? Hil­de Domin ant­wor­tet: Ja! Anna Dit­ges: Wür­dest Du sagen, dass Erwin heu­te immer noch Dei­ne gro­ße Lie­be ist? — Hil­de Domin: Jeden­falls hab ich kei­ne ande­re. Weisst Du, der leben­di­ge Mensch ist der leben­di­ge Mensch. Und der Mensch, der nur noch in mei­ner Vor­stel­lung ist, das ist nicht das­sel­be. — In die­sem Augen­blick erin­ne­re ich mich an eine Foto­grafie, die mich neben mei­nem ster­benden Vater zeigt. Ich sit­ze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzu­sehen wag­te. Ich habe tatsäch­lich eine Hand vor Augen gehal­ten und zwi­schen mei­nen Fin­gern hervor­ge­späht. Spä­ter wur­de mir warm, wenn ich das Bild betrach­te­te. Die Foto­grafie zeigt einen fried­li­chen Moment mei­nes Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lan­ge Zeit fürch­te­te. Wei­nen und Lachen fal­ten sich wie Hän­de sich fal­ten. Mut­ter irr­te wochen­lang zwi­schen Haus und Fried­hof hin und her, als wür­de sie irgend­eine unsicht­bare Ware in gleich­falls unsicht­baren Kof­fern tra­gen. Sie geht noch immer, Jah­re sind ver­gan­gen, so umher. – stop

///

eine wiederholung

2

romeo : 0.22 — In weni­gen Stun­den wer­de ich den Ver­such unter­neh­men, einen Tief­flug über Sta­ten Island hin, den ich mit­tels einer Droh­ne im Janu­ar 2015 unter­nom­men hat­te, zu wie­der­ho­len, und zwar mög­lichst prä­zi­se auf den Spu­ren Samu­els, der noch immer nicht ver­schwun­den ist. Ob das mög­lich sein wird? Ich notier­te: Wäh­rend der Recher­che im Inter­net nach Pro­pel­ler­flug­ma­schi­nen, die von Hand zu bedie­nen sind, ent­deck­te ich eine Leih­sta­ti­on für Droh­nen­vö­gel nahe des St. Geor­ge Fer­ry Ter­mi­nals, und zwar in der Bay Street, Haus­num­mer 54. Obwohl ich mich in Mit­tel­eu­ro­pa befand, muss­te ich, um Kun­de wer­den zu kön­nen, kei­ne wei­te­ren Anga­ben zur Per­son hin­ter­le­gen als mei­ne Kre­dit­kar­ten­num­mer, nicht also begrün­den, wes­halb ich den klei­nen Metall­vo­gel, sechs Pro­pel­ler, für drei Stun­den nahe der Stadt New York aus­lei­hen woll­te. Auch erkun­dig­te sich nie­mand, ob ich über­haupt in der Lage wäre, eine Droh­ne zu steu­ern, selt­sa­me Sache. Ich bezahl­te 24 Dol­lar und star­te­te unver­züg­lich mit Hil­fe mei­ner Com­pu­ter­tas­ta­tur vom Dach eines fla­chen Gebäu­des aus. Ich flog zunächst vor­sich­tig auf und ab, um nach weni­gen Minu­ten bereits einen Flug ent­lang der Metro­ge­lei­se zu wagen, die in einem sanf­ten Bogen in Rich­tung des offe­nen Atlan­tiks nach Tot­ten­ville füh­ren. Ich beweg­te mich sehr lang­sam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die fer­ne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bild­schirm war sehr gut zu erken­nen, ich ver­moch­te selbst Gesich­ter von Rei­sen­den hin­ter stau­bi­gen Fens­ter­schei­ben pas­sie­ren­der Züge zu ent­de­cken. Nach einer hal­ben Stun­de erreich­te ich Clif­ton, nied­ri­ge Häu­ser dort, dicht an dicht, in den Gär­ten mäch­ti­ge, alte Bäu­me, um nach einer wei­te­ren Vier­tel­stun­de Flug­zeit unter der Ver­ranz­a­no-Nar­rows Bridge hin­durch­zu­flie­gen. Nahe der Sta­ti­on Jef­fer­son Ave­nue wur­de gera­de ein Feu­er gelöscht, eine Rauch­säu­le rag­te senk­recht hoch in die Luft als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steu­er­te in der­sel­ben Höhe wie zuvor, der Lower Bay ent­ge­gen. Am Strand spa­zier­ten Men­schen, die wink­ten, als sie mei­nen Droh­nen­vo­gel oder mich ent­deck­ten. Als ich etwas tie­fer ging, bemerk­te ich in der Kro­ne eines Bau­mes in Ufer­nä­he ein Fahr­rad, des Wei­te­ren einen Stuhl und eine Pup­pe, auch Tang war zu erken­nen und ver­ein­zelt Vogel­nes­ter. Es war spä­ter Nach­mit­tag  gewor­den jen­seits des Atlan­tiks, es wur­de lang­sam dun­kel. — stop
ping

///

ai : TÜRKEI — petition

aihead2

Tür­kei: Men­schen­rech­te gel­ten auch nach dem Putsch­ver­such! Die tür­ki­schen Behör­den gehen nach dem geschei­ter­ten Putsch vom 15. Juli hart gegen tat­säch­li­che und ver­meint­li­che Kri­ti­ke­rin­nen und Kri­ti­ker der Regie­rung vor. / Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat glaub­wür­di­ge Bewei­se zusam­men­ge­tra­gen, denen zufol­ge Gefan­ge­ne nach dem Putsch­ver­such gefol­tert wur­den. Unter ande­rem gibt es Berich­te über Schlä­ge und Ver­ge­wal­ti­gun­gen. Regie­rungs­an­ge­hö­ri­ge haben sich für eine Wie­der­ein­füh­rung der Todes­stra­fe für die am Putsch­ver­such Betei­lig­ten aus­ge­spro­chen. / Mehr als 10.000 Per­so­nen sind seit dem Putsch­ver­such inhaf­tiert wor­den, mehr als 45.000 Men­schen wur­den ent­las­sen, dar­un­ter auch Poli­zei­kräf­te, Rich­te­rin­nen und Rich­ter sowie Staats­an­wäl­tin­nen und Staats­an­wäl­te. Im Land herr­schen Angst und Ver­un­si­che­rung. Vie­le Men­schen fürch­ten aus gutem Grund um ihre Rech­te und Frei­hei­ten. / Zwar müs­sen die wäh­rend des Putsch­ver­suchs began­ge­nen Men­schen­rechts­ver­stö­ße unter­sucht und die Ver­ant­wort­li­chen zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den. Die Men­schen­rech­te müs­sen dabei jedoch in vol­lem Umfang respek­tiert wer­den. / Die völ­ker­recht­li­chen Pflich­ten der Tür­kei sowie die in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten hart erkämpf­ten Rech­te und Grund­frei­hei­ten müs­sen auch unter dem der­zeit ver­häng­ten Aus­nah­me­zu­stand gel­ten. Die Regie­rung darf die Men­schen­rech­te nicht im Namen der Gerech­tig­keit miss­ach­ten. Denn wenn die Men­schen­rech­te nicht geach­tet wer­den, kann sich nie­mand sicher füh­len. Wer­den Sie aktiv! Betei­li­gen Sie sich an unse­rer Online-Peti­ti­on und for­dern Sie Prä­si­dent Erdo­gan auf, auch unter dem der­zeit ver­häng­ten Aus­nah­me­zu­stand die Men­schen­rech­te zu respek­tie­ren!” Lesen Sie hier den voll­stän­di­gen > PETITIONSTEXT

///

aleppo

9

hima­la­ya : 0.02 — Viel­leicht darf ich fol­gen­den Bericht in vol­ler Län­ge wie­der­ge­ben. Der jun­ge Jour­na­list Zou­hir al Shim­le berich­tet via E‑Mail für Die Zeit: Seit Alep­po bela­gert ist, flie­gen Assads Trup­pen und sei­ne Ver­bün­de­ten jeden Tag Luft­schlä­ge auf die Vier­tel der Rebel­len, also auch dort, wo ich lebe. Unun­ter­bro­chen dröh­nen Kampf­jets über uns hin­weg, Heli­ko­pter krei­sen über den Häu­sern. Jeden Tag ster­ben hier fast fünf­zig Zivi­lis­ten. Wir leben in einem nie enden­den Getö­se von Schie­ße­rei­en, Explo­sio­nen, Geschrei. Die meis­ten von uns trau­en sich nicht mehr, nach drau­ßen zu gehen. Manch­mal het­zen ein paar Leu­te die Stra­ßen ent­lang, um Lebens­mit­tel zu besor­gen – und ren­nen sofort nach dem Ein­kauf zurück in ihre Woh­nun­gen. Dabei ist es zu Hau­se nicht siche­rer als auf der Stra­ße. Denn die Bom­ben tref­fen auch unse­re Häu­ser. Wäh­rend ich die­se Zei­len schrei­be, höre ich das Don­nern der Kampf­flug­zeu­ge, von irgend­wo her dringt Gefechts­lärm. Gott sei Dank habe ich bis­her alle Angrif­fe über­lebt. Aber vor ein paar Tagen war ich dem Tod so nah wie nie zuvor. Ich war im Vier­tel Al-Mash­had unter­wegs, dort, wo mein Büro ist. Ich stand gera­de im Laden in unse­rer Stra­ße, um mir etwas zu trin­ken zu kau­fen, als die ers­te Fass­bom­be ein­schlug, gera­de mal fünf Häu­ser von uns ent­fernt. Ich duck­te mich für eini­ge Sekun­den vor den umher­flie­gen­den Metall­tei­len. Dann rann­te ich raus auf die Stra­ße. Nur weni­ge Sekun­den spä­ter schlug in der Stra­ße die zwei­te Faß­bom­be ein. Ein Metall­split­ter bohr­te sich in mei­nen Rücken, ein ande­rer in mein Bein. Ich rann­te von der Stra­ße wie­der zurück zum Laden. Und war vor Schock wie gelähmt: Sie­ben Men­schen, die dort Schutz vor der zwei­ten Bom­be gesucht hat­ten, waren tot, zer­quetscht vom Schutt der ein­ge­stürz­ten Decke. Sie star­ben nur, weil sie sich in den Sekun­den der Explo­si­on anders ent­schie­den hat­ten: Sie hiel­ten sich zwi­schen den Rega­len ver­steckt, wäh­rend ich auf die Stra­ße lief. Nur des­we­gen habe ich als Ein­zi­ger von uns über­lebt. Die Hel­fer hat­ten gro­ße Mühe, die ver­dreh­ten und durch­trenn­ten Kör­per aus dem Geröll zu zie­hen. Ange­hö­ri­ge der Toten lagen am Boden und schrien, Kin­der wein­ten. Aus eini­gen Kör­pern quol­len Inne­rei­en, über­all lagen abge­trenn­te Hän­de und Bei­ne. Ins­ge­samt star­ben durch die­se Angrif­fe 15 Men­schen, 25 – mit mir – wur­den ver­letzt. Ich kann die­se Bil­der nicht ver­ges­sen. Ich hät­te einer die­ser Kör­per sein kön­nen. Ich wur­de schnell in ein Kran­ken­haus gebracht, doch hel­fen konn­te mir dort nie­mand. Zu vie­le Men­schen brauch­ten Hil­fe, unauf­hör­lich brach­ten Män­ner neue Tra­gen mit Schwer­ver­letz­ten hin­ein. Wäh­rend ich auf den Arzt war­te­te, sah ich so viel Blut, dass ich zu hal­lu­zi­nie­ren begann. Ein Freund brach­te mich des­halb in ein ande­res Kran­ken­haus, wo sich Schwes­tern um mich küm­mer­ten. Sie ent­fern­ten einen Metall­split­ter, der ande­re steckt noch in mei­nem Bein. Sie sagen, er kön­ne erst in eini­ger Zeit ent­fernt wer­den. Doch es sind nicht nur die Bom­ben und Gefech­te, die unser Über­le­ben immer schwe­rer machen. Das Regime hat nun auch die Cas­tel­lo-Stra­ße ein­ge­nom­men. Sie ist eine Todes­zo­ne gewor­den: Stän­dig wird geschos­sen, bren­nen­de Autos lie­gen am Stra­ßen­rand. Das Regime kämpft dort mit aller Macht – und schnei­det uns damit von der Außen­welt ab. Die Cas­tel­lo-Stra­ße war bis­lang die ein­zi­ge Ver­bin­dung von Alep­po nach drau­ßen, in die Vor­or­te und in die Tür­kei. Es war die Lebens­ader der Stadt, von dort haben wir Lebens­mit­tel, Gas, Brenn­stoff, Trink­was­ser und Medi­zin bekom­men.  Die Bela­ge­rung ist für uns dra­ma­tisch. Denn jetzt gibt es kaum noch Obst und Gemü­se zu kau­fen, über­haupt sind die Märk­te fast leer. Auch haben wir immer weni­ger Brenn­stoff, wir ver­brau­chen gera­de die letz­ten Reser­ven der Stadt. Bald schon wer­den wir in kom­plet­ter Dun­kel­heit leben. Das ist es, was das Regime und sei­ne Mili­zen wol­len: dass Alep­po lang­sam stirbt. Sie set­zen dabei allein auf die Zeit. Wir, die noch rund 300.000 Ver­blie­be­nen, wer­den nicht mehr lan­ge ver­sorgt wer­den kön­nen. Ich fürch­te, dass unser Unter­gang schließ­lich dadurch kommt, dass wir alle um Was­ser und Brot kämp­fen. Und dass die, die nicht mehr stark genug sind, dar­um zu kämp­fen, ein­fach ver­hun­gern wer­den. Fakt ist: Wir sit­zen fest. Wir haben kei­ne Chan­ce mehr, aus Ost-Alep­po her­aus­zu­kom­men. Ich habe immer mit drei Freun­den in einer WG zusam­men gewohnt. Jetzt ist nur noch einer von ihnen hier. Malek hat gehei­ra­tet und lebt nun mit sei­ner Frau zusam­men, sie erwar­ten ein Baby. Der ande­re, Jawad, konn­te in die Tür­kei ent­kom­men. Sein Vater wur­de bei einem Angriff schwer ver­letzt und Jawad konn­te mit ihm vor ein paar Wochen in die Tür­kei fah­ren, damit er dort medi­zi­ni­sche Hil­fe bekommt. Jawad ver­sucht, wie­der zu stu­die­ren. Er wird nicht mehr nach Alep­po zurück­kom­men. So zynisch es klingt: Er hat Glück gehabt. Denn nur sehr kran­ke Men­schen dür­fen mit einer Beglei­tung den Grenz­über­gang Bab al-Sal­a­meh in die Tür­kei pas­sie­ren. Die Tür­kei ist da sehr strikt. Für mich gilt das also nicht Selbst wenn ich Alep­po ver­las­sen woll­te: Ich kann es nicht. Die Bom­bar­die­run­gen in der Stadt sind zu stark, ich wür­de nicht mehr weit kom­men. Ich weiß, dass ich hier nicht mehr weg­kom­men wer­de. Die Bom­ben fal­len wei­ter, jeden Tag, jede Stun­de. Sie tref­fen alles, was sich bewegt. Ich sit­ze in Alep­po fest. Aber noch bin ich am Leben. — stop
ping

///

im zug

9

nord­pol : 0.02 — Oder aber ich hebe mei­nen Blick vom Bild­schirm mei­ner Schreib­ma­schi­ne. Ich beob­ach­te wie­der­um in einem Nacht­zug rei­send einen Film, der vom Über­le­ben in der Stadt Alep­po erzählt. Plötz­lich glau­be ich zu erken­nen, wie ein Mann im Zug mit einer Pis­to­le um sich schießt. Men­schen flüch­ten und fal­len um. Ich wer­de in die Schul­ter getrof­fen, und ich den­ke noch, ich soll­te wütend wer­den, es wäre gut, wenn man ein Löwe zu wer­den wünscht, wütend zu sein. Ein­mal ste­he ich auf, im Zug herrscht noch Frie­den. Ein älte­rer Mann wirft in die­sem Moment mit Wucht einen Blick auf mich: Bist Du gefähr­lich? Es ist kein ange­neh­mer Blick, es ist ein kal­ter Blick, den man nicht befra­gen kann, weil man weiß, dass man kei­ne kor­rek­te Ant­wort erhal­ten wür­de. Auch so her­um ist das also mög­lich. Selt­sa­me Gedan­ken. — stop
ping

///

ai : IRAN

aihead2

MENSCH IN GEFAHR : “Die ira­ni­sche Men­schen­rechts­ver­tei­di­ge­rin und gewalt­lo­se poli­ti­sche Gefan­ge­ne Nar­ges Moham­ma­di befin­det sich seit dem 27. Juni im Hun­ger­streik. Sie pro­tes­tiert damit gegen die fort­ge­setz­te Wei­ge­rung der Behör­den, ihr den tele­fo­ni­schen Kon­takt zu ihren neun­jäh­ri­gen Zwil­lin­gen zu ermög­li­chen. Da Nar­ges Moham­ma­di schwer krank ist und meh­re­re Medi­ka­men­te neh­men muss, sind ihre Gesund­heit und ihr Leben auf­grund des Hun­ger­streiks noch mehr gefähr­det. Die bekann­te Men­schen­rechts­ver­tei­di­ge­rin und gewalt­lo­se poli­ti­sche Gefan­ge­ne Nar­ges Moham­ma­di ist am 27. Juni in einen Hun­ger­streik getre­ten. Sie sieht dar­in die letz­te Mög­lich­keit des Pro­tests gegen die anhal­ten­de Wei­ge­rung der Behör­den, ihr den tele­fo­ni­schen Kon­takt zu ihren Kin­dern zu erlau­ben. Ihre inzwi­schen neun­jäh­ri­gen Zwil­lin­ge muss­ten vor einem Jahr ins Aus­land zu ihrem Vater zie­hen, da sich im Iran seit der Inhaf­tie­rung von Nar­ges Moham­ma­di im Mai 2015 nie­mand um sie küm­mern konn­te. Die Men­schen­recht­le­rin durf­te im ver­gan­ge­nen Jahr ledig­lich ein Tele­fon­ge­spräch mit ihren Kin­dern füh­ren. Am 27. Juni schrieb sie aus dem Evin-Gefäng­nis einen Brief, in dem sie ihren Hun­ger­streik ankün­dig­te. Dar­in erklär­te Nar­ges Moham­ma­di, dass alle ihre Anträ­ge auf tele­fo­ni­schen Kon­takt zum ihren Kin­dern abge­lehnt wor­den sei­en, bis ihr am 2. April auf schrift­li­che Anwei­sung des Staats­an­walts von Tehe­ran ein zehn­mi­nü­ti­ges Gespräch mit ihren Zwil­lin­gen erlaubt wor­den sei. Sie schrieb: “Ich kann mich nicht mehr an ihre Stim­men erin­nern. Ihre Fotos ste­hen nicht mehr neben mei­nem Bett. Ich kann es nicht mehr ertra­gen, sie anzu­schau­en … [Die Behör­den] betrach­ten es als Ver­bre­chen, dass ich eine Men­schen­rechts­ver­tei­di­ge­rin bin. Aber noch schmerz­haf­ter ist, dass sie mir vor­ent­hal­ten, Frau und Mut­ter zu sein. Bis zum Tag an dem ich ster­be und für immer ver­stum­me, wer­de ich pro­tes­tie­ren und ich wer­de das alles nie ver­ges­sen.” Im Febru­ar 2016 hat­te sie einen offe­nen Brief an die Obers­te Jus­tiz­au­to­ri­tät geschrie­ben, in dem sie beklag­te, dass die Behör­den ihr den tele­fo­ni­schen Kon­takt mit ihren Kin­dern ver­wei­ger­ten, um sie noch mehr zu bestra­fen. Nar­ges Moham­ma­di ist schwer krank. Sie lei­det an einer Lun­gen­em­bo­lie (ein Blut­ge­rinn­sel in ihren Lun­gen) und an einer neu­ro­lo­gi­schen Erkran­kung, die zu Krampf­an­fäl­len und Läh­mungs­er­schei­nun­gen führt. Sie benö­tigt eine per­ma­nen­te fach­ärzt­li­che Behand­lung, die im Gefäng­nis nicht mög­lich ist. Zudem muss sie täg­lich Medi­ka­men­te ein­neh­men. Der Hun­ger­streik bedeu­tet eine wei­te­re Gefahr für ihre Gesund­heit und ihr Leben. Am 3. Juli wur­de sie aus dem Tehe­ra­ner Evin-Gefäng­nis ins Kran­ken­haus Iran Mehr in Tehe­ran gebracht, um Rou­ti­ne­un­ter­su­chun­gen wegen ihrer Lun­gen­em­bo­lie vor­neh­men zu las­sen. Nar­ges Moham­ma­di wur­de in einem unfai­ren Gerichts­ver­fah­ren im April 2016 in meh­re­ren Ankla­ge­punk­ten für schul­dig befun­den und zu 16 Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt. Die Ankla­ge­punk­te lau­te­ten auf “Grün­dung einer ver­bo­te­nen Grup­pie­rung” und “Ver­brei­tung von Pro­pa­gan­da gegen das Sys­tem”. Sie ver­büßt bereits eine sechs­jäh­ri­ge Haft­stra­fe, die in einem sepa­ra­ten Ver­fah­ren gegen sie ver­hängt wur­de. Die Schuld­sprü­che ste­hen alle in Zusam­men­hang mit ihrer Men­schen­rechts­ar­beit.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 17. August 2016 hin­aus, unter > ai : urgent action

///

von den zwergseerosen

9

nord­pol : 1.58 — Als ich R. frag­te, wie häu­fig sie ihren Brief­kas­ten besu­chen wür­de, um nach­zu­se­hen, ob viel­leicht Post für sie ein­ge­trof­fen sei, dach­te ich an Ago­ta Kris­tof, die in einer Geschich­te notier­te: Mei­nen Brief­kas­ten gehe ich zwei­mal täg­lich lee­ren. Um elf Uhr mor­gens und um sieb­zehn Uhr abends. Der Brief­trä­ger kommt nor­ma­ler­wei­se frü­her vor­bei, mor­gens zwi­schen neun und elf, das ist sehr unre­gel­mä­ßig, und nach­mit­tags gegen sech­zehn Uhr. Ich gehe immer so spät wie mög­lich nach­se­hen, um sicher zu sein, dass er schon dage­we­sen ist, sonst wür­de der lee­re Brief­kas­ten fal­sche Hoff­nun­gen in mir wecken und ich wür­de mir sagen: „Viel­leicht war er noch nicht da“, und dann müss­te ich spä­ter noch mal run­ter­ge­hen. — R. hör­te zu. Kurz dar­auf erzähl­te sie, dass sie per­sön­lich über­haupt kei­nen wirk­li­chen Brief­kas­ten haben wür­de, aber ein Post­fach, und die­ses Post­fach besu­che sie nur ein­mal in der Woche, weil es für täg­li­che Besu­che viel zu weit ent­fernt sei, sie müs­se durch die hal­be Stadt fah­ren, um ihr Post­fach zu errei­chen, das sei genau so geplant, ein Post­fach in gro­ßer Ent­fer­nung. Auch E‑Mail wür­de sie nicht mehr beant­wor­ten, oder nur sehr sel­ten, man kön­ne ihr zwar schrei­ben, aber man dür­fe nicht erwar­ten, dass man eine wirk­li­che Ant­wort erhal­ten wür­de, immer­hin emp­fan­ge man eine Notiz sofort nach­dem man ihr geschrie­ben habe, die erwäh­ne, nie­mand  kön­ne sicher sein, dass sie die gera­de gesen­de­te Nach­richt jemals lesen wür­de, es sei aber immer­hin mög­lich. Als ich R. zum letz­ten Mal sah, hat­te sie gera­de erfolg­reich den Ver­such unter­nom­men, Zwerg­see­ro­sen auf dem Rücken ihres rech­ten Unter­ar­mes anzu­sie­deln. Das war im Herbst des ver­gan­ge­nen Jah­res gewe­sen, ich konn­te R.s Haut­ge­wäch­se deut­lich erken­nen, sie blüh­ten in wei­ßer Far­be, ich mein­te einen fei­nen Duft ver­neh­men zu kön­nen, und mach­te mir ein paar sor­gen­vol­le Gedan­ken der See­ro­sen­wur­zeln wegen, ihrer Tie­fe. — stop

drohne24

///

minutenzeitung

pic

hima­la­ya : 5.16 — Ges­tern erzähl­te Mut­ter, nein, nein, sie lese kei­nes­wegs lang­sa­mer durch ihre mor­gend­li­che Zei­tung als frü­her noch, viel­mehr sei­en die Zei­tun­gen selbst schwe­rer, das heisst, umfang­rei­cher oder dicker gewor­den. Das kön­ne nie­mand mehr lesen, jeden Tag eine neue dicke Zei­tung. Ich dach­te, man müss­te ein­mal die Zeit anhal­ten, sagen wir für zwei oder drei Mona­te. Alles wür­de zit­ternd still ste­hen auf unse­rer Erd­ku­gel, allein Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten wären noch beweg­lich. Sie rei­sen nun her­um, betrach­te­ten fünf Minu­ten Zeit welt­weit, die sich über­all solan­ge wie­der­holt, bis sie von Spra­che und Foto­gra­fie erfasst sein wird. In einem Flücht­lings­la­ger hält eine Groß­mutter ein gera­de gebo­re­nes Kind aus einem Zelt her­aus, der Vater kippt etwas Regen­was­ser über den klei­nen rosa­far­be­nen Leib, und schon sind fünf Minu­ten Zeit ver­gan­gen und das Kind wie­der in den Leib der Mut­ter zurück­ge­kehrt. Als das Kind unver­züg­lich erneut gebo­ren wird, sind drei wei­te­re Foto­gra­fen vor das Zelt getre­ten, um das Kind zu foto­gra­fie­ren, wie es von sei­nem Vater gewa­schen wird. In Oslo sto­ßen zwei Stra­ßen­bah­nen solan­ge gegen­ein­an­der bis end­lich über sie berich­tet wird. Auf Neu­see­land, nahe Parapa­ra, fällt ein Kind von einem Baum, minu­ten­wei­se klet­tert es wie­der hin­auf und fällt wie­der zu Boden, ehe ein Repor­ter vor­über­kom­men wird, um viel­leicht gera­de noch recht­zei­tig das Kind auf­zu­fan­gen. Auch die alte Mar­tha will bemerkt wer­den, sie hat wie­der ein­mal ein paar Match­box­au­tos ver­schluckt in Lon­don im Kauf­haus bei Har­rods. Eine umfang­rei­che Zei­tung könn­te ent­ste­hen, eine Welt­zei­tung von 5 Minu­ten Zeit, die von zehn­tau­sen­den Jour­na­lis­ten notiert wur­de, die wie Wan­der­amei­sen Blät­ter, Wör­ter, Gedan­ken, Foto­gra­fien sam­mel­ten, um zu erzäh­len was der Fall ist. – Fünf Uhr sech­zehn in Ido­me­ni, Grie­chen­land. – stop
ping

///

global

pic

india : 0.01 — Arthur Mas­hu­ryan, Kon­di­tor aus Rema­gen, ist ein Künst­ler feins­ter Back­wa­ren, ein rund­li­cher Mann, fröh­lich und selbst­be­wusst, ein Unter­neh­mer arme­ni­scher Her­kunft. Er erzählt im Bild­schirm­ra­dio Fol­gen­des: Auf­klä­rung ist bedeu­tend. In ers­ter Linie die Ver­bin­dung zwi­schen den Flücht­lin­gen und den Deut­schen zu schaf­fen. Weil, ich habe das Gefühl, dass man kei­nen Bezug dazu hat. Man muss auch teil­wei­se sagen, Deutsch­land geht es gut, Deutsch­land ist ein glo­bal agie­ren­des Land, die Unter­neh­men sind glo­bal ver­netzt, und die­ser Wohl­stand, den Deutsch­land erwirt­schaf­tet hat, ist auch ein Grund für bestimm­te Flücht­lin­ge, und das muss man auch als Ver­bin­dung sehen, in die­sem Zusam­men­hang, die Ver­ant­wor­tung, die­se Art der Sicht­wei­se. Ich möch­te nie­man­den ver­ur­tei­len, weder deut­sche Unter­neh­men, noch die Poli­tik, noch die Men­schen, man muss das Sys­tem ver­ste­hen, wie so etwas funk­tio­niert. Man ist Export­welt­meis­ter, die Fra­ge ist nur, das hört sich schön an, aber was ist, was steckt dahin­ter, Export­welt­meis­ter bedeu­tet auch, dass man in ande­ren Län­dern erfolg­reich agiert, so wie in Deutsch­land, aber auf der ande­ren Sei­te gibt es Ver­lie­rer, und die­se Ver­lie­rer haben Bei­ne bekom­men und sind heut­zu­ta­ge hier. Nicht nur aus Kriegs­ge­bie­ten, auch Wirt­schafts­flücht­lin­ge, das muss man auch erwäh­nen, dass das auch ein Pro­blem ist. Wenn man ver­hun­gert, stirbt man trotz­dem, auch wenn man nicht erschos­sen wird. — stop
signs

///

herzhaut

pic

vic­to­ry : 0.55 — Ein grie­chi­scher Minis­ter soll geäu­ßert haben, sein Land sei doch kein Lage­r­ort mensch­li­cher See­len. In der Zei­tung, die von die­sem Ereig­nis berich­te­te, waren auf einer Foto­gra­fie Fern­seh­ka­me­ras und eben ein klei­ner, run­der Herr zu sehen, der im Moment der Auf­nah­me zu spre­chen schien. Tat­säch­lich wür­de der Aus­druck sei­nes Gesich­tes sich gut sei­nem doku­men­tier­ten Gedan­ken fügen, der in der Bild­un­ter­schrift ver­zeich­net ist, ein wenig Wut dort, Empö­rung, gleich­wohl eine Trau­rig­keit, die nahe der Wahr­neh­mung tau­sen­der Ret­tungs­wes­ten, die an grie­chi­schen Strän­den lie­gen, wohl­tu­end authen­tisch wirkt. Erin­ner­te mich an einen Satz, den Tho­mas Bern­hard einer Kame­ra erzähl­te: Das was nie­mand sieht, das hat einen Sinn auf­zu­schrei­ben. Aber zunächst ist alles noch gut sicht­bar. Men­schen sit­zen in einem Bus, vor dem Bus tobt eine dunk­le Men­schen­kopf­wol­ke, die gif­ti­ge Wör­ter spukt. Rei­se­ge­nuss in gel­ber Leucht­schrift, wie eine Ver­höh­nung, ist an der Kopf­sei­te des Bus­ses anstatt einer Ziel­an­ga­be zu lesen, wo Claus­nitz ste­hen könn­te. Einen Tag spä­ter wird der Ver­such unter­nom­men, Schuld­last in den Bus zu ver­schie­ben, es wer­de, sagt ein Poli­zei­of­fi­zier, auch gegen Flücht­lin­ge ermit­telt. Wenn man nun lan­ge genug spre­chen und schrei­ben wird in den Räu­men der Bewe­gung, wird das Gewünsch­te zur wirk­li­chen Wirk­lich­keit wer­den. Es ist zum Fürch­ten, wie frü­her, alles noch da, der har­te Blick auf Men­schen in Not, auf Men­schen mit Kof­fern in der Hand. — stop

schaltung3