tango : 22.16 — Dreifach einem Mann ohne Mund begegnet, jedes Mal unter der Lexington Avenue gegen den Abend zu fahrend, wenn sich die Züge füllen mit Pendlern in alle Richtungen des Himmels. Das Pfeifen der Luft, die den Saum einer Öffnung am Hals des Mannes in Schwingung versetzt, ich hörte es in nächster Nähe, ich hörte es im Traum, ich erinnerte es bei einer zweiten Begegnung sofort, als wäre das pfeifende Flattern eine Stimme, da war er noch entfernt, da sah ich sein zerstörtes Gesicht durch die Menge der Reisenden näherkommen, sah seine gleichwohl vom Feuer versengten Hände, rosa leuchtende Haut da und dort, die Ahnung einer Nase, sein Auge, das letzte, gerötet von der Anstrengung und vom Ausdruck der Dankbarkeit, mit dem er jeden unter der Stadt reisenden Menschen bedachte, sobald er sich Davids Geschichte lesend näherte, sprechenden Fotografien vor einer ruhig atmenden Brust: Ich, ich habe in Bagdad mein Gesicht verloren in einer Sekunde an einem Abend wie diesem Abend, in einem Sommer wie diesem Sommer. Und wie er jetzt weitergeht, wie er die Stille mit sich nimmt. Auch ich habe kein Wort zu ihm gesagt, als ob ein Mann ohne Mund nicht hören könne. — stop
Aus der Wörtersammlung: reisen
winde
sierra : 0.02 — Vergangene Nacht ein feiner Traum. Pendelte unter riesiger Stadt in einem U‑Bahnzug. Kostbar geschmückte saßen zwischen zerlumpten Menschen. Ameisen prozessierten, kreisrunde Papiere in ihren Zangen, ein zerteiltes Buch durchs Abteil. Kinder spielten mit Pingpongbällen, federlose Täubchen fackelten über offenen Kohlefeuern. Und da waren Libellen von vornehmer Größe, bitter duftende, blauhäutige Tiere, sie schwebten mit der reisenden Luft. Nie wurde Dunkel im Zug, Jahre fuhren wir so dahin, ohne je einmal anzuhalten. Eine Lautsprecherstimme, scheppernd, pfeifend. Immer wieder derselbe Satz: It was a wrong number that started it. – stop. — Mein Handnotizcomputer, so leise, so leise, dass ich mich zu ihm neige, um seinen Wind wahrnehmen zu können. — stop
februarbrief
romeo : 0.15 — Noch war Februar gewesen, da verfasste ich einen Brief an ein Mädchen, das ich bereits kannte, als sie noch nicht laufen konnte. Sie heißt Rosario, was eigentlich nicht ganz richtig ist, weil das natürlich an dieser Stelle nicht ihr wirklicher Name sein darf. Aber dass ich ihr Patenonkel bin, ist eine Tatsache, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Rosario, ein zauberhaftes Wesen, wohnt jetzt in Brooklyn, New York, und zwar in der Hicksstreet nahe einem Haus, in dem Arthur Miller sein Drama Tod eines Handlungsreisenden notierte. Genau dorthin nun schickte ich meinen Brief, einen papierenen Brief in einem Luftpostumschlag, den ich in ein Päckchen zu einer Büchersendung steckte. Ich schrieb, – ich darf das zitieren, weil ich die Erlaubnis dazu erhalten habe -, folgende Zeilen: „Liebe Rosario, hiermit sende ich Dir ein spektakuläres Buch, einen Katalog Leanne Shapton’s, der mich Tage lang begeisterte. Von einer Liebe wird berichtet, Du solltest sie unbedingt lesen, eine wundervolle, in seltsamer Weise erzählte Geschichte. Was das Buch wohl bei sich denken mag, jetzt, da es nach einer Schiffsreise über den Atlantik her, im Flugzeug wieder zurück nach Amerika hin getragen werden wird? Gut, wir werden das vielleicht niemals herausfinden, oder, sag, hast Du gelernt, mit den Büchern selbst zu sprechen? Erinnerst Du Dich noch an Abende, da ich Dir vorgelesen habe? Du lagst auf meinem Bauch, eine kleine Katze, und einmal legtest Du Dein Ohr an meine Stirn, und wolltest meine Gedanken hören. Und als Du nichts vernehmen konntest, sagtest Du zu mir mit großen Augen: Du musst lauter denken, Louis, ich kann Dich nicht hören! Viel Vergnügen beim Lesen und Schauen wünscht Dir Dein Louis.“
blattlicht
lima : 0.01 — Und schon ist wieder März geworden. Warme Luft pfeift übers Dach, und Blätter, Blätter von Sonnenlicht, sie schaukeln vor dem Fenster. So fein sind sie gewirkt, dass nichts sie zu berühren vermag als meine Gedanken. Höchste Zeit von kleinsten Wesen zu erzählen, wie man sie findet, da sie doch unsichtbar sind, und wie man mit ihnen sprechen oder reisen oder gemeinsam warten könnte, sobald man ihnen begegnet sein wird. — Papierene Herzen. — stop
hydra No 2
lima : 22.55 — Es schneit angeblich, mag es schneien. Über dem Schnee und seinen Wolken scheint der Mond. — Was haben wir heute eigentlich für einen Tag, Sonntag vielleicht oder Montag? Abend jedenfalls, einen schwierigen Abend. Würde ich aus meiner Haut fahren, sagen wir, oder mit einem Auge meinen Körper verlassen und etwas in der Zeit zurückreisen, dann könnte ich mich selbst beobachten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, während er Tee zubereitet, er sagt: Heute machen wir das, heut ist es richtig. Ein Bündel von Melisse zieht durchs samtig heiße, flimmernde Wasser. Jetzt trägt er seine dampfende Tasse durch den Flur ins Arbeitszimmer, schaltet den Bildschirm an, sitzt auf einem Gartenstuhl vor dem Schreibtisch und arbeitet sich durch elektrische Ordner in die Tiefe. Dann steht er, steht zwei Meter vom Bildschirm entfernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürchtet. Da ist eine Stimme. Eine schrille Stimme spricht scheppernd Sätze in arabischer Sprache, unerträglich diese Töne, sodass der Mann vor dem Schreibtisch einen Schritt zurücktritt. Er scheint sich zur Betrachtung zu zwingen. Zwei Finger der rechten Hand bilden einen Ring. Er hält ihn vor sein linkes Auge, das andere Auge geschlossen, und sieht hindurch. So verharrt er, leicht vorgebeugt, bewegungslos, zwei Minuten, drei Minuten. Einmal ist sein Atmen heftig zu hören. Kurz darauf steht er wieder in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühlschrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unruhe, die lange Zeit in dieser Heftigkeit nicht wahrzunehmen gewesen war. Ein Mensch, Daniel Pearl, wurde zur Ansicht getötet. – Was machen wir jetzt? — stop
animals
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : ANIMALS
Gestern, stellen Sie sich vor, habe ich die erste Fotografie eines Papiertierchens entgegengenommen. Sie zeigt das kleine Wesen, wie es sich durch die Luft eines abgedunkelten Labors bewegt. Bin voller Freude, habe den halben Tag herumgetanzt, sollte langsam zur Ruhe kommen. Eine Kopie der Aufnahme ist für Sie beigefügt. Sieht das nicht kraftvoll aus, eine Persönlichkeit, ein Wunder! Ich komme meinen Träumen nun endlich näher, meinen Wünschen, meinen Geschichten in der Wirklichkeit. Nehmen wir einmal an, lieber reisender Freund, ein Bogen lebenden Papiers in der Größe 15 x 30 Zentimeter würde aus 750000 Tieren bestehen, ja, und nehmen wir einmal an, dieses Papier würde schon jetzt in unserer Welt existieren, dann würden vor uns auf einem Schreibtisch 750000 kleine Herzen schlagen. Da muss doch irgendein Geräusch wahrzunehmen sein, so viele Herzen in nächster Nähe auf engstem Raum. Auch einen Hauch von Luft wird man wohl spüren, eine Strömung, weil sie alle durcheinander atmen. — Ahoi! Ihr Louis
gesendet am
06.02.2010
23.55 MEZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
hispaniola
sierra : 22.02 — Männer, die mit bloßen Händen Trümmerberge durchsuchen. Der Fuß eines Kindes, staubig, das unter einer Betondecke gefangen liegt. Erdige Straßen, gesäumt von verwesenden Körpern. Eine tote Frau, die auf einem Stuhl sitzt. Ein Mädchen, wie im Traum, nicht ansprechbar, ihr Blick in die Ferne gerichtet, wie sie durch eine Menge stammelnder Menschen schreitet. Weinende Stimmen. Verstörte Kindergesichter. Rufen. Durst. Verzweiflung. Inferno. Flimmerbilder. — Im Zug nach Süden erzählt eine Frau, die in Haiti geboren wurde und viele Jahre dort lebte, von dem Land, von dem Volk, das sie liebt, und alle Reisenden, die in ihrer Nähe sitzen, hören ihr zu, gebannt, mitfühlend, fragend. Einmal sagt sie, dass die Bewohner der Stadt Port-au-Prince, die ihr Leben unter Korruption in größter Armut auf einer heißen Erdmantelfalte zeitigen, nie an die Gefahr gedacht haben würden, in der sie sich in jeder Minute ihrer Existenz befanden. Niemand habe mit einem Erdbeben dieser Stärke gerechnet, obwohl ein Erdbeben genau dieser Intensität lange vorhergesagt worden sei. Eine Frage der Zeit, alles eine Frage der Zeit, sagt die Frau, und sieht aus dem Fenster des Zuges, auf Schnee, der in der Dämmerung bläulich schimmert. Man denkt, verstehen Sie, man denkt nicht an Erdbeben, an eine Gefahr, die nicht sichtbar ist, wenn man in Sterbensarmut lebt. Man denkt an sauberes Wasser. Man denkt an Brot. Man denkt an das Überleben der Kinder von Abend zu Abend.
parachute jump
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : PARACHUTE JUMP
Jonathan, bester Freund, wie es Ihnen wohl gehen mag? Haben Sie Weihnachten unter Tannen in einem Zelt verbracht? Haben Sie vielleicht vergeblich versucht, mich zu erreichen? War verreist für ein paar Tage, hatte eine gute Zeit. Reisen, das ist wie träumen, verstehen Sie! Als ich eines Morgens, noch schlaftrunken, in meine Wohnung zurückkehrte, blühten vor den Fenstern Kakteen. Sie dufteten, wie nur Kakteen duften, süß und kräftig, und ich wunderte mich, wie das gekommen sein mag, alle zur selben Zeit, alle im Winter. Eine Nachricht war da noch auf Band gesprochen. Mrs. Monterey erzählt, sie habe in ihrem Hotel im Bear State Park, einem Wanderer ein Zimmer vermietet, einem Mann, groß und schweigsam. Dieser Mann soll Ihnen, lieber Kekkola, derart ähnlich gewesen sein, dass Sie’s höchstpersönlich gewesen sein müssen. Das will ich nun glauben, wünschen, hoffen Kraft meiner Kinderseele. Kein Wort habe der Mann gesprochen, stattdessen seltsame Zeichen in die Luft geschrieben. Ich kenne diese Zeichen! Die Sprache der Taucher! Und wenn ich das in dieser Weise schreibe, werter Jonathan, werden Sie schon einsehen, dass es sinnlos ist, so zu tun, als seien Sie nicht mehr am Leben. Bald wirds meterhoch schneien und wir werden alle untergehen. Erwarte Sie am Strand von Coney Island, Höhe Parachute Jump / 2. Mai 3 pm. – Ihr Louis, Ihr Schneemann.
gesendet am
6.01.2010
22.50 MEZ
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louis to jonathan
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tauchgang wiegend
nordpol : 0.02 — Tiefseeelefanten wirklich zu begegnen, heißt, gegen den Grund zu reisen, dorthin, wo Herz und Gehirn, Ohren und Augen auf kräftigen Beinen über den Meeresboden wandern. Vielleicht ist man gerade in einem Boot auf dem Weg, ein paar Fische zu fangen. Man vernimmt ein Schnauben zunächst, eine Begrüßung, eine Frage, aber schon mit dem folgenden Gedanken, wird man sich, von einem Rüssel zärtlich in die Wiege genommen, im Wasser wieder finden. Dann geht’s abwärts. Eine Fahrt in die Tiefe, wie keine andere je zuvor. Einhundert Meter Blau, jetzt schließen sich die Augen. Man träumt von Rüsselwäldern, von Schwärmen glimmender Fische, von der Kühle, vom Eis, von feurigen Augen, für die man keine Worte finden kann, so seltsam ihr Ausdruck, so geduldig, so weise, und so sonderbar die Geräusche der eigenen Knochen, ein Malmen, in dem man kleiner wird und kleiner. — Woher ich das alles weiß? Nun, ich bin in der vergangenen Nacht gegen Zwei, Benny Goodman im Ohr, ins Wasser gefallen. — Ein Knistern, noch heute. — stop
elefanti
sierra : 0.01 — In der vorletzten Nacht, zwei Uhr wars geworden, hab ich in einem Bahnhof unter dem Frankfurter Flughafen Vögel entdeckt. Das Neonlicht flackerte und die Vögel, Tunnelvögel, zwitscherten. Kurz zuvor hatte ich noch in einem Café gesessen und einer Frau zugehört, die mir von Kalabrien erzählte, vom Haus ihrer Eltern, einem uralten Gebäude, dessen Steine seit zweihundert Jahren roten Sand der Sahara weinen. Das war ein schönes Bild gewesen, und so berichtete ich ihr von meinen Gedanken, die seit Tagen um das Wesen der Tiefseeelefanten kreisen. Sie wollte alles ganz genau wissen, lachte immerzu, und drehte ein rotes Eisschirmchen in ihren Händen, dass mir ganz schwindelig wurde. Nach einer Weile unterbrach sie mich und kam näher und behauptete ernstlich, dass sie als Mädchen beim Tauchen diesen Wesen, Elefanti, genau so begegnet sei, wie ich sie in Worten gezeichnet hatte, das heißt, jenen Rüsseln, die aus der dunklen Tiefe ragten. Sie sind warm, sagte sie, und weich, und wenn Du Dein Ohr an einen dieser Rüssel legen würdest, könntest Du was hören, sag ich Dir. Aber über die Mafia wollte sie nicht sprechen. Wir haben so schöne Landschaften dort, und Dörfer, und das Meer, ja, das Meer. Dann war sie todmüde zur Arbeit zurückgegangen und ich wartete auf einen Zug und hörte den Tunnelvögeln zu und dachte, wie sonderbar das alles doch ist, ein Wunder, das ganze Leben Tag und Nacht.